[1. Briefentwurf:]
Hochverehrter Meister!
Vor drei Tagen bekam ich die Ihre kritische Abhandlung über meine Arbeiten zugeschickt, die Sie im
Pester LloidSchreibversehen, statt: Lloyd (gemeint ist die ungarische Tageszeitung „Pester Lloyd“). abdrucken ließen. Erlauben Sie mir, Ihnen die Mitteilung zu
machen, daß ich trotz der kri/skep/tischen Haltung die Sie meinen
Arbeiten gegenüber in
den EinleitendenSchreibversehen, statt: einleitenden. Worten
eizunehmenSchreibversehen, statt: einzunehmen. scheinen vorgeben in einer/m/ erstenSchreibversehen, statt: ernsten. Besprechung Aufsatz höher noch niemals
eingeschätzt wurde, als wie Sie mich beurtheilen. Wäre mir in Deutschland die
öffentliche Meinung nur halb so günstig, wie Ihre Einschätzung Beurtheilung, dann hätte ich
allerdings keinen Grund, mich selber zu vertheidigen. Solange aber die
Aufführungen meiner ernstesten Arbeiten noch polizeilich verboten sind, kann |
ich nicht eingestehen, daß ich mich durch eigene Rechtfertigung meiner
Bestrebungen erniedrige. Ich bin auch ziemlich gewiß daß keine deutsche
Tageszeitung von Bedeutung, weder das Berliner Tageblatt noch die Frankfurter
Zeitung, sich zum Abdruck Ihrer/s/ Abhandlu Auf Besprechung Beurtheilung bereit gefunden hätte.
Die hohe Bewerthung, die s/S/ie meinen Arbeiten
zutheil werden lassen, mußte mich um so mehr überraschen, da ich seit vier
Jahren weiß, daß Ihnen der/ie/ ho auffallendste Seite meiner
Produktion, die sexuelle Schamlosigkeit, durausSchreibversehen, statt: durchaus (so im abgesandten Brief). Im Erstdruck: „daraus“ [GB 2, S. 215]. unsympathisch ist. Aber jeder
Mensch hat wol irgend einen Stachel etwas Absonderliches, das ihn vorwärts treibt und und wird dann eventuell
durch das Verlangen, diese Absonderlichkeit zu begreifen vorwärts getrieben i/I/ch gebe
auch ohne weiteres zu, daß ich dieser einen Monomanie alles übrige | verdanke.
Großen Dank schulde ich Ihnen für das unverkennbare
Wohlwollen, das Sie aus kühlen Betrachtungen zu warmherzigen bedingungslosen
Aussprüchen gelangen läßt auf die ich Zeit meines Lebens stolz sein werde.
Manchmal stellen Sie eine Frage. Beim Lesen Ihrer
Besprechungen hatte ich natürlich den Eindruck, als sei die Frage an mich
gerichtet. So kam ich unwillkührlichSchreibversehen, statt: unwillkürlich. dazu einige Notizen aufzuschreiben. Ich
nehme mir die Freiheit, d/s/ie Ihnen beiliegend zuzusenden. Manchmal
hatte ich das Bedürfnis mich zu rechtfertigen. Verdenken Sie es mir bitte
nicht, daß ich das als Künstler nicht für unter meiner Würde hielt. |
Darf ich Sie bitten, geehrter Herr Brandes, Ihrer verehrten
Frau Gemahlin meiner lieben Frau und meine herzlichen Empfehlungen
auszusprechen.
Über unseren gemeinsamen Freund, dem ich die Ehre verdanke, mit Ihnen bekannt zu sein,
sind seitdem die furchtbarsten Schicksalsschläge hereingebrochen. Bis jetzt
weiß ich leider nicht mehr darüber als was in den Zeitungen stand.
Ich danke Ihnen und bin in der Verehrung, die ich Ihnen
schon als Schüler entgegenbrachte
Ihr ergebener
FrW.
[2. Abgesandter Brief:]
Hochverehrter Meister!
Vor drei Tagenam 7.1.1909; wer Wedekind den Aufsatz (siehe unten) zugeschickt hat, ist unklar. bekam ich Ihre kritische Abhandlung über
meine ArbeitenDer Aufsatz, veröffentlicht in der „Weihnachts-Beilage des ‚Pester-Lloyd‘“, der in Budapest erscheinenden großen ungarischen Tageszeitung, ist nach einer kurzen Einleitung in zehn nummerierte Abschnitte („I.“ bis „X.“) gegliedert [vgl. Georg Brandes: Frank Wedekind. In: Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 65-68]. Georg Brandes kommt auf alle Werke Wedekinds zu sprechen, die Wedekind in der Briefbeilage anspricht. zugeschickt, die Sie im Pester LloidSchreibversehen, statt: Lloyd. abdrucken ließen. Erlauben
Sie mir, Ihnen die Mittheilung zu machen, daß ich in einem ernsten Aufsatz
höher noch niemals eingeschätzt wurde, als wie Sie mich beurtheilen. Wäre mir
in Deutschland die öffentliche Meinung nur | halb so günstig wie Ihr Urtheil, dann hätte ich allerdings keinen
Grund, mich zu vertheidigen. Solange aber die Aufführungen meiner ernstesten
Arbeiten noch polizeilich verboten sind, kann ich nicht eingestehen, daß ich
mich durch eigene Verteidigung meiner Arbeiten erniedrige. Ich bin auch
ziemlich gewiß, daß keine deutsche Tageszeitung von Bedeutung, weder das
Berliner Tageblatt noch die Frankfurter Zeitung, sich zum Abdruck Ihrer
Besprechung bereit gefunden hätte. |
Ihre hohe Bewertung mußte mich um so mehr überraschen, da
ich seit vier Jahren weiß, daß Ihnen gerade die auffallendste Seite meiner
Produktion, die sexuelle Schamlosigkeit, durchaus unsympatischSchreibversehen, statt: unsympathisch. ist. Vielleicht
bin ich selber nur durch das Verlangen, diese Absonderlichkeit zu begreifen
vorwärts getrieben worden.
Großen Dank schulde ich Ihnen für das unverkennbare
Wohlwollen, das Sie aus kühlen BetrachtungenGeorg Brandes hat einleitend erklärt: „Ich möchte versuchen, leidenschaftslos, doch nicht kalt oder gleichgültig, mir selbst Rechenschaft über Wedekinds Wesen als Autor abzulegen.“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 65] zu warmherzigen bedingungslosen
Aussprüchen | gelangen läßt, auf die ich Zeit meines Lebens stolz sein werde.
Manchmal stellen Sie eine Frage. Beim Lesen Ihrer
Besprechung hatte ich natürlich den Eindruck, als sei die Frage an mich
gerichtet. So kam ich unwillkührlichSchreibversehen, statt: unwillkürlich. dazu einige Notizendie Beilage zum vorliegenden Brief. aufzuschreiben. Ich
nehme mir die Freiheit, sie Ihnen beiliegend zu senden. Manchmal hatte ich das
| Bedürfnis mich zu rechtfertigen. Verdenken Sie es mir bitte nicht, daß ich
das als Künstler nicht für unter meiner Würde hielt.
Darf ich Sie bitten, geehrter Herr Brandes, Ihrer verehrten
Frau Gemahlin meiner lieben Frau und meine herzlichen Empfehlungen
auszusprechen.
Über unseren gemeinsamen | FreundArtur Landsberger, der Wedekind persönlich mit Georg Brandes bekannt gemacht hatte, als er am 14.3.1907 in Berlin ein festliches Abendessen veranstaltete: „Dr. Landsberger giebt ein Diner mit Georg Brandes dessen Tochter Frau Philipp Herrn Philipp, Harden, Tilly und mir im Palasthotel.“ [Tb] Wedekind, der Georg Brandes an dieses Treffen erinnerte [vgl. Wedekind an Georg Brandes. Berlin, 28.3.1907], ist ihm, wieder vermittelt über Artur Landsberger (inzwischen leitender Redakteur der von Georg Brandes mitherausgegebenen Zeitschrift „Morgen“, die Wedekinds „Musik“ erstveröffentlichte), am 1.3.1908 ein weiteres Mal begegnet (außer Edith Philipp, der Tochter von Georg Brandes, war nun auch dessen Gattin Gerda Brandes dabei): „Dr. Landberger giebt ein Diner bei Adlon. Anw. Brandes Frau Tochter Carl Hauptmann Gerharts zweiter Sohn“ [Tb]., dem ich die Ehre
verdanke, mit Ihnen bekannt zu sein, sind seitdem die furchtbarsten SchicksalsschlägeDolly Landsberger (geb. Pinkuß), die junge Gattin von Artur Landsberger, hatte an Silvester 1908 im Berliner Hotel Esplanade durch einen Sprung aus dem Fenster einen Selbstmordversuch verübt (die Presse hat darüber berichtet). Wedekind erfuhr von dem „Unglück“ [Wedekind an Artur Landsberger, 13.1.1909] am 6.1.1909 durch seine Frau, die wiederum von Elisabeth Steinrück darüber informiert worden ist: „Tilly besucht Frau Steinrück. Nachricht vom Sturz Dollys Landsbergers aus dem Fenster“ [Tb]. Der Vorfall stand im Zusammenhang mit einem Gesellschaftsskandal, Streitigkeiten mit den Schwiegereltern (die 16 Jahre alte Dolly Landsberger war die Tochter der Schriftstellerin Gertrud Wertheim aus erster Ehe, in zweiter Ehe nun mit Wolf Wertheim aus der Berliner Kaufhausdynastie verheiratet), die juristisch gegen ihren 30 Jahre alten Schwiegersohn vorgingen – die Presse berichtete, Artur Landsberger werde „wegen Entführung einer Minderjährigen“ angeklagt, da er Dolly Pinkus „geheiratet, nachdem er sie gegen den Willen ihrer Eltern heimlich entführt hatte“ [Strafverhandlung gegen Dr. Landsberger. In: Neues Wiener Journal, Jg. 17, Nr. 5470, 13.1.1909, S. 7] (Landsberger wurde freigesprochen, es kam aber zur Scheidung der gerade erst geschlossenen Ehe).
hereingebrochen. Bis jetzt weiß ich leider nicht mehr darüber als was in den
Zeitungen stand.
Ich danke Ihnen und bin in der Verehrung, die ich Ihnen
schon als Schüler entgegen brachte
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München, Prinzregentenstraße 50
10.1.9.
[Beilage:]
In eine defensive Stellung bin ich dadurch gekommen, daß
sämmtliche Bühnen Jahre hindurch meinen dramatischen Arbeiten verschlossen
waren. Darauf begann ich mit meinen Arbeiten selbst Reklame für meine Arbeiten
zu machen. Ich hielt das für meine Pflicht, da ich Jahre hindurch gezwungen
war, im Tingeltangel aufzutreten.
Das Thema, das ich in „Zensur“ behandeln wollte, war der ExibitionismusSchreibversehen, statt: Exhibitionismus.
oder die Schamlosigkeit, natürlich nicht die Schamlosigkeit der Tänzerin
sondern meine eigene. Dabei war es mir darum zu thun, dem Publicum einen Stoff
mundgerecht zu machen, der mir seit langer Zeit vorschwebt, den ich aber bis
jetzt | noch nicht zu behandeln wagte: Die WiedervereinigungZitat (Dr. Prantl an Buridan) aus „Die Zensur“ (1908), 2. Szene: „Stammt denn vielleicht das Wort von der Wiedervereinigung von Kirche und Freudenhaus im sozialistischen Zukunftsstaat nicht von Ihnen?!“ [KSA 6, S. 226] von Kirche und
Freudenhaus im sozialistischen Zukunftsstaate.
Mit dem SatzEs folgt ein Zitat aus „Die Zensur. Theodizee in einem Akt“ (1908), 2. Szene (der Literat Walter Buridan zu Dr. Cajetan Prantl): „Ich kenne nichts Bedauernswürdigeres auf dieser Welt als einen Dummkopf, der nicht an Gott glaubt!“ [KSA 6, S. 222] Das hat auch Georg Brandes zitiert: „Buridan fühlt sich als im höchsten Maße religiös [...]. Doch es kommt noch stärker: Ich kenne nichts Bedauernswürdigeres auf dieser Welt als einen Dummkopf, der nicht an Gott glaubt.“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 65]: ,,ich kenne nichts Bedauernswürdigeres als
einen Dummkopf der nicht an Gott glaubt“ meinte ich: Ein Mensch der nicht
denken kann, dem das Einmaleins nicht zur Verfügung steht, kann nichts besseres
thun als an Gott zu glauben, da er in der Religion die Resultate menschlichen
Denkens wenigstens in groben allgemeingültigen Normen gebrauchsfähig vorfindet.
Hätte Franz Lindekuh„Literat“ [KSA 6, S. 180] in „Musik. Sittengemälde in vier Bildern“ (1908). Georg Brandes zufolge „verteidigt“ das Stück „auf geistreiche Weise einen gewissen Franz Lindekuh, dessen Namen genau so viele Silben hat wie der Name Frank Wedekind.“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 65] in den Mitteln zur Verhütung eines
Selbstmordes wählerischer sein sollen? – Es kam Franz Lindekuh bei der
Verhütung eines Selbstmordes wohl mehr auf den glücklichen Erfolg als auf die
Eleganz der Ausführung an. Er handelt nach dem ganz | primitiven Grundsatz, daß
man unter zwei Übeln immer das kleinere wählen muß.
„Musik“ ist eine sehr leichte Arbeit. Mir kam es nur auf Gestaltung
und Festlegung des Stoffes an, an dem ich nicht das kleinste Motiv geändert
habe. Mancher hätte gesagt: Der Stoff ist nichts als eine Zote, eine
Stammtischanekdote. Andere hätten vielleicht gesagt: In dem Stoff liegt das
Motiv zu einem ernsten Drama. Ich hätte beides für unkünstlerisch gehalten und
habe mich nur aus künstlerischen Gründen zu der rohen KarrikaturSchreibversehen, statt: Karikatur. entschlossen,
die ich in dem Stück gezeichnet zu haben glaube. Bis jetzt wurde übrigens noch
jede Darstellerin der Clara HühnerwadelKlara Hühnerwadel, „Musikschülerin“ [KSA 6, S. 156] in „Musik“ (1908). plötzlich als eine ungeahnt glänzende
Schauspielerin gefeiert. |
Karl HetmannHauptfigur in „Hidalla oder Sein und Haben. Schauspiel in fünf Akten“ (1904). Georg Brandes meint: „Hetmann ist in seiner Kritik nicht so neu und originell, wie er vermutet und wie er von den anderen betrachtet wird.“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 65] ist weitaus die wirksamste Bühnenfigur, die ich mir bis jetzt gelungen ist.
Hidalla ist öfter gespielt worden als Erdgeist. Ich habe den Hetmann über
hundert Mal gespielt. Seine Theorien sind nur Kolorit und bleiben völlig
wirkungslos. Die Wirkung der Rolle ist die Leidenschaft. Der Zweck des Stückes
war nicht Belehrung sondern Verführung. Es ist im 4. Akt mit klaren Worten
ausgesprochenvon Morosini über Hetmann; Zitat aus „Hidalla“, 4. Akt: „Zu schwächlich, um mit anderen Männern ehrlich um ein Weib zu kämpfen, zu eingebildet, um sich selbst um ein Weib zu bemühen, wollten Sie Ihre Person so hoch postieren, daß sämtliche Weiber kniefällig vor Ihnen nach Liebe jammern und jede sich selig preist, wenn Sie Zwergriese sich ihrer erbarmen!“ [KSA 6, S. 89]: Er wollte seine Person so hoch postieren, daß die Weiber
kniefällig vor ihm um Liebe jammern und jede sich glücklich schätzt, wenn er
sich ihrer erbarmt.
„Die junge Welt“Wedekind meint sein ungefähr gleichzeitig mit „Frühlings Erwachen“ (1891) entstandenes Lustspiel „Kinder und Narren“ (1891), das er umarbeitete und umbenannte in „Die junge Welt“ (1897). Georg Brandes dazu: „Sein Schauspiel ‚Die junge Welt‘, das unter dem Titel ‚Kinder und Narren‘ 1891 erschien, ist in seinem ersten Aufzug, der in einer Mädchenschule vorgeht, eine heitere Vorstudie zum ‚Frühlingserwachen‘.“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 66]. und „Frühlings Erwachen“ schrieb ich im
Kampf und im bewußten Gegensatz gegen den damals (1890) in | Deutschland
auftauchenden Realismuszeitgenössisch synonym mit Naturalismus. Das Motto von „Kinder und Narren“ lautet: „Der Realismus ist eine pedantische Gouvernante. Der Realismus hat dich den Menschen vergessen lassen. Kehr zur Natur zurück!“ [KSA 2, S. 105], der mir, im Gegensatz zu seinen Vorbildern im Ausland,
als die ausgemachte Banalität, Spießbürgerlichkeit und Schulmeisterei erschien.
In „Totentanz“ schwebte mir die Absicht vor, einen an
Enttäuschung sterbenden Mephistonach Mephistopheles, der Teufelsfigur aus Goethes „Faust“, die Wedekind in einem Briefentwurf [vgl. Wedekind an Victor Barnowsky, 4.6.1907] für sein Stück „Totentanz“ (1905) als Vorbild reklamiert und sterbend imaginiert hat. zu schildern.
Im Jahr 1895 wollte ich meine Utopia schreiben. Der
Roman war auf 18 Kapitel berechnet von denen nur die ersten 3 fertigWedekind hat sein Romanprojekt „Mine-Haha“ nicht abgeschlossen [vgl. KSA 5/II, S. 1054f.], das Fragment aber in drei Kapitel gegliedert [vgl. KSA 5/II, S. 1061] in der Zeitschrift „Die Insel“ veröffentlicht [vgl. Frank Wedekind: Mine-Haha. In: Die Insel, Jg. 2, Nr. 7, April 1901, S. 27-36, Nr. 8, Mai 1901, S. 93-111, Nr. 9, Juni 1901, S. 234-255]. Georg Brandes nennt das Fragment eine „schwache, langweilige Erzählung“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 67]. wurden,
die ich dann, nur wegen stilistischer Qualitäten, die sie mir zu haben
schienen, unter dem Titel „Mine-Haha“ herausgab.
Der Kammersänger ist das erste Stück, in dem ich für meine
Arbeiten, von denen kein Verleger und kein Theater etwas wissen wollte, Reklame
machte. | Der alte Professor Dühringaus „Der Kammersänger. Drei Szenen“ (1899). Georg Brandes spricht von dem „halb rührenden, halb lächerlichen Genius, dem Komponisten Dühring. Er ist genau so amüsant auf der Bühne, wie peinlich langweilig in Wirklichkeit.“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 65] spricht Wort für Wort meine eigenen
Gefühle aus.
Die Namen Sonnenstich, Fliegentod e.ct.Namen der Professoren in „Frühlings Erwachen“ (1906), Szene III/1 [vgl. KSA 2, S. 354-358]. Georg Brandes hat dazu über Wedekind erklärt: „Er hat einen Haß gegen die Dummheit und die Pedanterie berufsmäßiger Erzieher, der sich sogar dadurch befriedigt, nach der Art des XVII. und XVIII. Jahrhunderts ihnen satirisch erklärende Namen zu geben, wie Sonnenstich, Fliegentod, Knüppeldick, Zungenschlag.“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 67] wählte ich nur
weil sämmtliche Professoren auf eine Scene zusammengedrängt sind, in der mir
für eine zartere Charakterisierung nicht Raum genug schien.
Der Marquis von Keith ist eine ebenso dankbare Rolle wie Carl
Hetmann und viel leichter zu spielen. Außerdem enthält das Stück aber in Ernst
Scholzaus „Marquis von Keith (Münchener Scenen). Schauspiel in fünf Aufzügen“ (1901), zweite Auflage „Der Marquis von Keith. Schauspiel in fünf Aufzügen“ (1907). Georg Brandes nennt ihn den „Gegenpol“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 68] zum Marquis von Keith., wie ich aus eigener Erfahrung weiß, eine ebenso wirksame Rolle wie im
Marquis. Trotzdem wurde das Stück trotz guter Darstellung bis jetzt noch
überall abgelehnt. Ich führe das nur als Beweis dafür an, daß ich zur
Selbstvertheidigung und zum Reklamemachen immer noch Ursache genug habe. |
Mit Moral und Religion zu arbeiten lernte ich durch das
Verbot der Büchse der PandoraAnspielung auf die Zensurprozesse um Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ wegen ‚Verbreitung unzüchtiger Schriften‘ gegen Autor und Verleger am 12.5.1905 am Landgericht I Berlin sowie am 10.1.1906 am Landgericht II Berlin [vgl. KSA 3/II, S. 1146-1181], auf die Georg Brandes in seinem Resümee Bezug nimmt: „Wedekinds Dichterleben, das von zwei Prozessen erschüttert und bestimmt wurde, hat einen Satiriker gereift, einen Tragikomiker wachgerufen. Aus dem Gaukler entwickelte sich ein Idealist, aus dem Galgenhumoristen ein Moralist mit Pathos des Verkannten.“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 68]. Ich bin immer noch froh, daß ich diese beiden
Pferde reiten gelernt habe. Ohne meine Religion wäre die Büchse der Pandora
heute eingestampft.
Lulu ist war mir die Verherrlichung des Körperlichen,
ebenso wie Mine-Haha. Ich lud ihr deshalb moralisch alle Scheußlichkeiten auf,
um die Tragfähigkeit des Körperlichen zu demonstrieren.
Die strafende GerechtigkeitGeorg Brandes über „Die Büchse der Pandora“ (1903), 3. Akt: „Wieder hier liegt die strafende Gerechtigkeit Wedekind hier am Herzen.“ [Pester Lloyd, Jg. 55, Nr. 308, 25.12.1908, Morgenblatt, S. 68] ist eine Erfindung meines
Verlegers Cassirer„Die Büchse der Pandora. Tragödie in drei Aufzügen“ (1903) wurde von Bruno Cassirer in Berlin verlegt [vgl. KSA 3/II, S. 862], nicht von Albert Langen, der seinerzeit noch Wedekinds Verleger war.. Mir war nie etwas in der Welt widerwärtiger und als
Strafe und von Gerechtigkeit habe ich nie etwas erwartet oder gehalten. Wenn
ich den Marquis von Keith und Lulu unglücklich werden ließ, so that ich das aus
reiner Verehrung | ebenso wie in Totentanz, weil das ein tragisches EndeSelbstmord im „Marquis von Keith“ (Titelfigur) und in „Totentanz“ (Casti Piani), Mord in „Die Büchse der Pandora“ (Ermordung Lulus) mit dem eine Tragödie pointierenden Schlusswort der Gräfin Geschwitz: „O verflucht!“ [KSA 3/I, S. 540]
doch wol immer der größte und schönste Abschluß eines Lebensbildes ist. Ich bin
sogar der Ansicht, daß das Wesen der Tragödie seit Shakespeare einzig auf
dieser rein äußerlich ästhetischen Thatsache beruht.
Buridan sagtWalter Buridan, „Literat“ [KSA 6, S. 207] im Einakter „Die Zensur“ (1908), in der 2. Szene: „Ich habe mein halbes Leben lang ohne Kunst gelebt. Ohne Religion könnte ich nicht eine Minute leben.“ [KSA 6, S. 226], daß fr ohne Religion könne er nicht
eine Minute leben, weil Religion für ihn, wie für den Jesuitismus nichts
anderes als das Einmaleins ist.
Es giebt kaum mehr eine geistige Qualifikation, die man mir
nicht schon zum Vorwurf gemacht hätte. Mich freut, dasSchreibversehen, statt: daß. sich darunter auch die
Moral befindet. Ich habe das Motiv vor fünf Jahren schon im Totentanz benutzt,
in dem Casti Piani von sich sagt, er sei Moralistder Zuhälter Casti Piani in „Totentanz“ (1905) zu Elfriede von Malchus: „Ich bin ‒ ‒ ‒ Moralist! [KSA 6, S. 111]. |
Wenn kein Künstler sich dazu erniedrigen dürfte, sich selber
zu vertheidigen, dann müßte der Künstler wohl auch eine persönliche
Auszeichnung und Ehre darin erblicken, zu verhungern oder im Tingeltangel
aufzutreten. Richard Wagner war anderer Ansicht. Noch am 3 November 1904
schrieb mirvgl. Georg Brandes an Wedekind, 3.11.1904 (in diesem Brief auch das hier nachfolgende Zitat). einer der geistvollsten Männer, die je gelebt haben: „Von Ihnen
kenne ich drei Sachen, Frühlings Erwachen, das mir zuwider ist ... e.ct.“ Frlgs Erw wird heute allgemein als meine bedeutendste Arbeit
gepriesen, eine Ansicht, die ich nicht theile. Aber vor neunzehn Jahren, als
ich Frlgs
Erwachen geschrieben hatte, versicherte mir ein Münchner Staatsanwaltnicht identifiziert., daß ich,
wenn das Buch in Deutschland erschiene, ins Zuchthaus kommen würde. Wenn ich in
meinen Arbeiten auf meine Arbeiten selber hindeutete, habe ich das immer mehr
als eine berechtigte Reklame aufgefaßt, denn als eine Selbstvertheidigung.