München den 29 Januar 1916
Lieber Artur!
Von meinem ersten Gastspiel vor acht Tagen zurückgekehrt,
fand ich auf der DurchreiseWedekind traf am 18.1.1916 früh mit dem Nachtzug in München ein (Rückkehr von seinem Gastspielaufenthalt in Budapest vom 29.12.1915 bis 17.1.1916) und reiste am 19.1.1916 von München wieder ab (zu seinem Gastspielaufenthalt in Mannheim vom 19. bis 25.1.1916) [vgl. Tb]. in München Deine lieben Glückwünschenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Artur Kutscher an Wedekind, 31.12.1915. Es dürfte sich um Neujahrsgrüße gehandelt haben.. Aus Budapest
und Mannheim hätte ich Dir schon geschrieben wenn ich Deine Adresse zur Hand
gehabt hätte, aber die ZahlenWedekind meint die diversen Ziffern in Artur Kutschers Feldpostadresse (siehe die Beschriftung des Kuverts). bleiben mir nicht im Kopf. Jetzt habe ich sie im
NotizbuchDas Notizbuch mit Artur Kutschers Feldpostadresse ist nicht erhalten. bei mir. Ich freue mich sehr über Dein Wohlergehen und Deinen frischen
Mut. In Mannheim erzählte ich PetersWedekind traf Gustav Werner Peters, Feuilletonredakteur der „Neuen Badischen Landeszeitung“ [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1916, Teil II, Sp. 1283] und seit langem mit Wedekind bekannt, während seines Aufenthalts in Mannheim dreimal, wie er im Tagebuch festhielt: am 20.1.1916 („Werner Peters und Frau“), am 21.1.1916 („Durlacher Hof mit Peters“) und am 23.1.1916 („Zum Thee bei Peters“). schon, daß die FortsetzungDer zweite Teil „Vogesenkämpfe“ von Artur Kutschers „Kriegstagebuch“ war dem Vorwort zufolge am 20.2.1916 im Manuskript abgeschlossen. Vorabdrucke waren schon früher erschienen, etwa ein Auszug mit dem Hinweis: „Aus dem zweiten Teil des ‚Kriegstagebuches‘, welches demnächst im Verlage von Beck in München erscheinen soll“ [Artur Kutscher: Angriff am Reichsackerkopf in den Vogesen. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 110, Nr. 2, 8.1.1916, S. 20] oder davor schon der Auszug mit dem gleichlautenden Hinweis: „Aus dem zweiten Theile des ‚Kriegstagebuches‘, welches demnächst im Verlage Beck in München erscheinen soll.“ [Artur Kutscher: Wieder in der Champagne. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 110, Nr. 1, 1.1.1916, S. 8] Deines
Tagebuches demnächst erscheint. Peters hatte eben eine sehr vorteilhafte
lobende Besprechung des Tagebuches gelesen | und wollte auch selber darüber
schreiben. Heute NachmittagWedekind traf Joachim Friedenthal, Münchner Korrespondent des „Berliner Tageblatt“ [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1916, Teil II, Sp. 468], im Café Luitpold, wie er am 29.1.1916 notierte: „C.L. mit Martens und Friedenthal. Heinrich Mann“ [Tb]. Joachim Friedental dürfte im „Berliner Tageblatt“ einen Beitrag von Artur Kutscher („im Felde“) lanciert haben, der mit der Vorbemerkung erschien: „Der Papa, der den folgenden Brief aus dem Schützengraben an seine kleine Tochter geschrieben hat, ist der Universitätsprofessor Dr. Arthur Kutscher aus München. Das Schreiben beweist, daß ein Schützengraben auch anders geschildert werden kann, als wir ihn sonst aus Berichten kennen gelernt haben. Die Redaktion.“ [Artur Kutscher: Brief an mein Töchterchen. In: Berliner Tageblatt, Jg. 45, Nr. 66, 5.2.1916, Abend-Ausgabe, S. (2)] komme ich mit Friedenthal zusammen und werde
versuchen ob sich die Notiz lanzierenSchreibversehen, statt: lancieren. läßt. Vorgestern schickte ich DirHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung (oder eine Widmung in der Buchausgabe von „Bismarck“); erschlossenes Korrespondenzstück: Artur Kutscher an Wedekind, 27.1.1916.
Bismarck, der hoffentlich in Deine Hände gelangt. Mit der AufführungWedekinds Drama „Bismarck“ (1915) wurde zu seinen Lebzeiten nicht als ganzes Stück aufgeführt [vgl. KSA 8, S. 860-868]. hat es
noch gute Weile da die Berliner ZensurWedekind notierte am 27.1.1916: „Bismarck-Erlaubnis in Berlin zurückgenommen.“ [Tb] Ob eine solche Erlaubnis zuvor erteilt wurde, darf bezweifelt werden [vgl. KSA 8, S. 861]. Das Deutsche Theater (Direktion: Max Reinhardt) in Berlin hatte am 8.12.1915 bei dem Berliner Polizeipräsidenten Curt von Glasenapp eine Genehmigung zur Aufführung von „Bismarck“ erbeten, die in einem Schreiben vom 7.1.1916 vorläufig verweigert wurde [vgl. KSA 8, S. 863]. aus politischen Gründen begreiflicherweise
wieder BedenkenZitat aus dem Brief des Berliner Polizeipräsidenten Curt von Glasenapp vom 7.1.1916 an das Deutsche Theater in Berlin (er dürfte Wedekind vorgelegen haben): „Die unter dem 8. Dezember 1915 erbetene Genehmigung zur Aufführung von Frank Wedekinds Schauspiel ‚Bismarck‘ während des Krieges zu erteilen, trage ich erhebliche Bedenken, weil in dem Schauspiel die Vorgeschichte unseres Krieges gegen Österreich und in großen Zügen der Verlauf dieses Krieges dargestellt ist. Sofern daher das Stück nicht für die Kriegsdauer zurückgezogen wird, würde ich die angegebenen Bedenken in einem Berichte an das Oberkommando in den Marken zum Ausdruck bringen und dessen Entscheidung einholen müssen.“ [KSA 8, S. 863] hat. In Budapest„Der Kammersänger“ mit Frank und Tilly Wedekind in den Hauptrollen wurde in Budapest allabendlich vom 1. bis 15.1.1916 mit großem Erfolg gespielt (15 Vorstellungen). Die Presse berichtete: „Der durchschlagende Erfolg Wedekinds im Kristallpalaste übertrifft alle Erwartungen.“ [Pester Lloyd, Jg. 63, Nr. 5, 5.1.1916, Morgenblatt, S. 15] spielten wir vierzehn Tage lang Kammersänger
im Kristallpalast, eine schöne Zeit in einem Mährchen- und Schlaraffenlande, wo
Milch und Honig fließtbiblische Redewendung (2. Buch Mose) für das gelobte Land, im übertragenen Sinn für einen Ort des sorgenfreien Überflusses. und die Fleischtöpfe der | fleischlosen Tage zur dauernden
Erinnerung werden. Von dort fuhren wir direkt nach Mannheim und spielten am
HoftheaterFrank und Tilly Wedekind spielten am Großherzoglichen Hof- und Nationaltheater (Intendant: Carl Hagemann) in Mannheim [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1917, S. 490] am 22.1.1916 „König Nicolo oder So ist das Leben“, am 24.1.1916 „Erdgeist“ [vgl. Tb]. König Nicolo und Erdgeist je einmal unter Carl Hagemann, der die
Stücke ausgezeichnet vorbereitet hatte. Jetzt sitzen wir wieder in dem ruhigen
München, auf Café und Theater angewiesen. Ich will das weiß Gott nicht als
Märtyrertum hinstellen, aber der Abstand zwischen Budapest und hier läßt sich
nicht beschreiben. Die Worte in den Zeitungen aus denen sich irgend etwas für
die Zukunft er/sch/ließen | läßt, werden jeden Tag spärlicher. Mit
lebhafter Unruhe verfolgte ich die Ereignisse am HartmannsweilerkopfDie Bergkuppe in den Südvogesen war Schauplatz erbitterter Stellungskämpfe.. Hoffentlich
warst Du der Gefahr nicht nahe. Hier erzählt man, im Juni werde Frieden
gemacht, bis dahin könnten allerdings noch große Opfer nötig werden. Dagegen
sei der Kaiser selbst gegen ein Blutvergießen das nicht vom Feinde erzwungen
werde. Bleib gesund und munter. Auf baldiges Wiedersehn.
Mit herzlichen Grüßen von meiner Frau und mir
Dein alter
Frank Wedekind.
[Kuvert:]
Feldpost
An den Leutnant und Kompanieführer
Herrn Dr. Artur Kutscher
Kgl. Bayr. Universitätsprofessor
Res. Inf. Regiment 92.
II Armee
19. Reserve Division
II Batallion 8. Kompanie.