Stein
a/Rh
den 30. Juni 1884
Mein lieber Franklin!
Herzlichen Dank für Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Olga Plümacher, 24.6.1884. und für die PhotographieWedekind hatte sich vor seiner Abreise nach Lausanne im Fotoatelier Fr. Gysi in Aarau ablichten lassen und 2 Probeabdrucke zur Auswahl erhalten [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1884; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. In Artur Kutschers Wedekind-Biographie sind zwei Porträts aus dieser Zeit abgedruckt [vgl. Kutscher 1, nach S. 144 und nach S. 160], allerdings keines in der von Plümacher geschilderten Variante ohne Bart mit Zwicker.. Diese kam mir im ersten Moment
auch etf etwas fremd vor und ich mußte Dich mir erst zusamenconstruiren.
Ich habe Dich eben nur im jugendlich-flaumigen Vollbart vor meinem inneren
Auge. So mit geglätteten Wangen bist Du Deinen Jahren angemessener und blickst
erheblich fröhlicher in die für Dich hoffentlich noch recht lange frölicheSchreibversehen, statt: fröhliche. Welt hinein. Im
Barte sahst Du aus, wie ich mir den jugendlichen FaustGemeint sein dürfte der Titelheld Dr. Heinrich Faust aus Goethes gleichnamigem Drama, der in der Handlung ein Mann in fortgeschrittenem Alter ist., als er noch mit Vatern zusammen lebte, und an
den medicinischen Capazitäten des dunklen Ehrenmannes zu zweifeln anfiengveraltete Schreibweise, statt: anfing., vorstellen mußte.
Oder auch erinnertest | Du mich an Tristander jugendliche Held der Tristanlegende, dessen Stoff unter anderem im mittelhochdeutschen Versroman „Tristan“ von Gottfried von Straßburg und in der Wagner-Oper „Tristan und Isolde“ (1859) bearbeitet ist., so wie er als 18jähriger Jüngling in Hartmanns TragödieCarl Robert: Tristan und Isolde. Drama in 5 Akten (1866). Gedruckt Berlin 1871. Über seine Motivation schreibt Eduard von Hartmann im Vorwort: „Der Grund, der mich bestimmte, mich an der schon öfter bearbeiteten Tristansage zu versuchen, war der Wunsch, den Stoff einmal von allen unzeitgemäßen Motiven gereinigt vor mir zu sehen.“ [Carl Robert (d.i. Eduard von Hartmann): Dramatische Dichtungen, Berlin 1871, S. 20] erscheint. (Ja so! Du weißt vielleicht
gar nicht einmal, daß Hartmann, mein Hartmann, wie ich zum Unterschied
von den vielen Hartmännern, die seid Hartmann von AueSchreibversehen, statt: seit Hartmann von Aue; einer der drei bedeutendsten hochmittelalterlichen Schriftsteller – neben dem oben („Tristan“) erwähnten Gottfried von Straßburg und Wolfgang von Eschenbach). geschriftstellert
haben sagen muß, in seiner Jugend auch zwei Trauerspieleneben dem oben erwähnten Drama „Tristan und Isolde“ noch „David und Bathseba“; unter dem Pseudonym „Carl Robert“ und mit dem Titel „Dramatische Dichtungen“ versehen veröffentlichte Eduard von Hartmann die beiden Trauerspiele 1871 bei Wilhelm Müller in Berlin [Autopsie: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11014648?page=,1; vgl. Deutsches Zeitgenossen-Lexikon. Hg. von Franz Neubert 1905 (https://wbis.degruyter.com/biographic-document/D573-493-0/images/8)].
„begangen“ hat?) Schade ist es, daß der Nasenklemmer die Wurzelverwachsenheit
der Brauen, die „Schicksals-Brauen“, versteckt, die Deinem Gesichte eben das
Charakteristische verleihen. Ich weiß wohl, es ist Mode die Leute mit Kneifern
oder Brillen zu
photographiren, aber ich finde es ganz verkehrt und in den meisten Fällen entstellend.
Trotz diesen Ausstellungen ist aber das Bild ganz gut, vor allem bist Du der
richtige Wedekind darauf; die | Ähnlichkeit mit Deinen BrüderSchreibversehen, statt: Deinen Brüdern; das waren Armin (Hami), Willy und Donald Wedekind. tritt jetzt in der Bartlosigkeit recht hervor. Sobald ich
nach Zürich oder Schaffhausen komme, werde
ich eine Rahmestatt: einen Rahmen. kaufen,
und Dich DichSchreibversehen, statt: Dich.
aufstellen in der Gallerie meiner lieben Leute.
Hier erhältst Du nun den Traumvgl. die Beilage; Olga Plümacher hatte in einem früheren Brief Wedekind vorgeschlagen, diesen Traum zu einem Gedicht zu formen [Olga Plümacher an Wedekind, 20.2.2024] und später die Zusendung ihrer Abschrift angekündigt [Olga Plümacher an Wedekind, 19.4.2024].. Also bitte: thue Dir ja keinen Zwang damit
an; wenn er dich nicht anspricht, so wirf ihn einfach fort; oder mache
etwas ganz anderes daraus; willst Du ihn aber wirklich metrisch faßen,
so preße den Inhalt so knapp zusamen als möglich: je conciserprägnanter. je beßer und um so
größer die Möglichkeit, daß ich ihn für Dich bei einem Journal anbringe.
Es interessirt Dich vielleicht zu wissen, daß Hartmann
gegenwärtig an einem ästhetischen Werk arbeitet. „Die Aesthetik seidSchreibversehen, statt: seit. Kant“. Bis gegen das Neujahr wird es | wohl heraus kommenEduard von Hartmanns Buch „Die deutsche Aesthetik seit Kant“ erschien als „Erster historisch-kritischer Theil“ seiner zweibändigen „Aesthetik“ erst 1886 in Berlin.. –
Es freut mich sehr zu vernehmen, daß Du im ganzen mit
Deinem Aufenthalt in Lausanne
zufrieden bist; treibe Dich nur tüchtig unter Menschen aller Art herum und
genieße die schöne Gegend, damit Du recht frisch, und körperlich und geistig ausgeruthSchreibversehen, statt: ausgeruht. im Herbste die
Universität beziehen kannst. – Verzeihe, daß ich mich heute gegenüber Deinem
lieben langen Briefe so knapp faße: aber ich habe gerade viel Arbeit; nota bene(lat.) wohlgemerkt.
ganz prosaische Weiberarbeit, die aber eben doch auch pflichtschuldigst
abgemacht werden muß.
Grüße Deinen Bruder WillyFrank Wedekind wohnte während seines Lausanner Aufenthalts zusammen mit seinem Bruder Willi bei der Familie des Tierarztes Emile Gros. herzlich von mir und empfange Du selber die herzlichsten Grüße
und Wünsche
Deiner Dich liebenden
Tante O. Plümacher.
Von Deiner Mama hatte vorgestern einen langen Brief; sie befindet sich laut
demselben nun wieder ganz wohl.
Ich schreibe morgenDie Korrespondenzen sind nicht ermittelt. an sie u. an Minna v. Greyerz.
[Beilage:]
Ein Traum.
1. Ich hatt’ am Tage brafSchreibversehen, statt: brav. studirt und lag zu Bett nun, müd’ doch
froh; froh des negativen Resultates des Nachdenkens der Gedanken älterer und
neuester Denker. Still wars um mich, still auch in mir, als wäre ich allein in dieser Welt, als
wäre ich reiner Geist. Das Nachtlicht brannte mit s/k/leiner Flamme,
mein Auge hing des s/S/ehens satt, an meiner grünen Tapette. Dort in der Ecke –
das hatte ich früher nie bemerkt – dort zeigte sich ein feiner Strich im
Muster, der nicht hinzugehören schien; fest haftete mein AucheAuche: Schreibversehen, statt: Auge. darauf – wie sonderbar,
daß ich das früher nie
gesehen –. Aber, war das wirklich nur ein Fehler im Tapettenmußter? Himmel –
nein! Das war ein Riß – ein Riß nicht in der Tapette, ein Riß im Schleier der MajaDas von Arthur Schopenhauer thematisierte principium individuationis, die Vielfalt der menschlichen Wahrnehmungen der Welt, worauf Olga Plümacher anspielt, verdeckt, der Schleier der Maya, dem unreflektierten Bewusstsein die metaphysische Einheit der Welt, die Welt als Wille. Wer durch einen Riss des Schleiers hindurch sieht, erkennt das principium individuationis, die Welt als Vorstellung. Olga Plümacher schreibt „Wer aber den Schleier der Maja zerrissen, wer weiss, dass er als Individuum nur eine Truggestalt ist, für den giebt es nur eine Schuld, und das ist die Schuld des Absoluten.“ [Olga Plümacher: Der Pessimissmus in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichtliches und Kritisches. Heidelberg 1884, S. 22]!
2. Da erhob sich ein Klang, g erst ein ganz
ferner Orgelton, dann stärker und stärker anschwellend, ein Septime-Ackord – und/wie/
von tausend Posaunen gezogen – und der kam mitten aus meinem Herzen. Der Riß im
Schleier der Maja wurde breiter, blendendes Licht entströmte ihm, und draus hervor
trat eine Luftgestalt. EntzetzenSchreibversehen, statt: Entsetzen.
packte mich: jene Luftgestalt war ja ich, das waren ja meine Züge – und doch war es wieder nicht michSchreibversehen, statt: ich. selbst, wie ich mein
Bild im Spiegel sah. Das war nicht die alternde Gestalt mit so und so viel Fuß
und Zoll, (als wie im Reisepaß zu lesen), und nicht der schäbige schwarze Rock,
den eine witzige Freundin einst „die Base von Diogenes MantelDer Philosoph Diogenes von Sinope soll aus freien Stücken das Leben eines Bettlers gelebt und als Kleidungsstück einen Wollmantel besessen haben, auf dem er auch schlief [vgl. Diogenes Laertius von den Leben und den Meinungen berühmter Philosophen. Aus dem Griechischen von D. L. Aug. Borheck. Bd. 1. Wien und Prag 1807, S. 347].“ nante;
nein, das war eine Lichtgestalt über die ein Maaß keine Gewalt mehr hatte, und in der Hand hielt einen Spiegel
sie, der schimmerte wie tausendfach geschliffener Diamant.
3. Da rafte ich mich auf und frug: wer bist Du? Und die Gestalt
erwiderte: Ich bin das Gespenst | der Consequenz; ich bin was still
gefürchtet wird, und laut verhöhnt; was immer Du gesucht und nie zu finden doch
gewünscht, was Du herbei gezerrt und doch geflohen hast – ich bin das solipsistische IchNach René Descartes (1596-1650) kann sich der Mensch nur seines denkenden Ichs gewiss sein (cogito ergo sum). Das auf sich selbst sich beziehende, auf sich selbst bezogene und auf sich selbst beziehbare Ich ist erkenntniskritisches Thema der Philosophie des Pessimismus (Arthur Schopenhauer, Eduard von Hartmann) und der Ich-Philosophie Max Stirners (1806-1856).!
[„]Doch warum trägst Du meine Züge?“ so stammelte
ich, erstaunt, verwirrt von diesem unerwarteten Besuch.
„O dumme Frage“ – lacht nun das Gespenst – „ich
trage das Gesicht von „Dir“ und „ihm“ und „ihr“ und „es“, von „ihnen“ und von
„euch“ – da in den Spiegel blicke – bin ich noch Du, bist Du noch ich?“
Da streckt den Fliegenaugen gleichen Spiegel mir
der St SpuckSchreibversehen, statt: Spuk.
entgegen; ein Sturm erhob sich in meinen Sinnen und ein Strom von GesichterGesichtern. ging an mir vorüber;
auch das Gespenst erschien in einem Augenblick in tausend Formen; und Eines
blieb sich gleich: das Sehnen, das als brausender Septime-Ackord dem Herzen zu
entströmen schien. |
4 Da senkt den Spiegel das Gespenst und zu der
Frage finde ich den Athem: „wer sind die wechselnden Gestalten?“ Und
neckisch tönt es mir zurück: „Es sind was man so obenhin die „lieben Nächsten“
nennt – und was die sind – frag’ Deine Weisheit doch! Du hast’s am
Schnürchen ja: Zeit und Raum sind nur die Formen unserer Anschauung und sind principia individuationis(lat.) Prinzip der Individuation (Sonderung eines Allgemeinen in Individuen) der Existenzgrund von Einzelwesen oder Besonderheiten, ein zentrales Thema der Philosophie, das eng mit der Frage verbunden ist, ob es ein Allgemeines wirklich gibt (Universalienstreit)., und das Gesetz der Causalitätauch: Kausalitätsprinzip (jedes Geschehen hat eine Ursache.) gilt nur in uns, im Kreis
des Denkens herrschts allein! – was folgt daraus? Wahn sind die Vielen, Trug
sind „Du“ und „er“, nur Bilder sind’s, von Deiner Lieb’ getragen, von Deinem Haß gefeßelt. Gefällt’s Dir
nicht? Du schauderst, wie? und hast Dich heut doch noch so stolkSchreibversehen, statt: stolz. gewiegt –
Kreuzspinnen gleich – in dem GespünnstGespinst, Geflecht, einem Spinnennetz gleich.
der Subjectivität!“
5. Gewaltsam faßt ich mich und rief: | „Wohlan,
ich geb’ sie hin – doch wer bin ich, so wie ich faße mich in Lust und Leid,
und jetzt im Grauen vor Dir – und wer bist Du, verfluchter Spuk?“ Da –
wie ein/der/ Sturmwind eine Wolke faßt und wandelt ihre Form, daß sie die
selbe ist und ist nicht – so schwankt und flattert das Gespenst in seinen
Linien; doch stehts noch Rede mir und spricht: „Du bist nicht was Du scheinst,
Du scheinst nicht wie Du bist; Du bist als Sein nur Schein, und bist im Schein
nur Sein; Du scheinst durch mich allein, und durch Dein Schein bin ich: ein
Sein das scheint.“
„Und hinter Dir, und hinter mir Du falsches Du,
Du falsches ich –“ so rufe ich – „was schafft den Schein des Seins?“ „Das ist
der Humbug als das Weltprincip!“ – so grinst der Spuck mich an und ich –
erwache!