Mein lieber Frank!
Herzlichen Dank für die Sendungvermutlich die Geldsendung kurz vor Weihnachten, die Frank Wedekind über seinen Bruder Armin an Donald Wedekind schickte [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 23.12.1907]. und Deinen lieben
Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 27.1.1907.. Hier die Aufklärung einiger Mißverständnisse. Als ich vor zwei Jahren Berlin
verließam 30.1.1906; Frank Wedekind notierte am 29.1.1906 im Tagebuch: „Donald reist morgen in die Schweiz.“ Zwei Tage zuvor schrieb er: „Donald theilt mir mit, er wolle sich in Baden in der Schweiz niederlassen.“ [Tb, 27.1.1906], hatte ich dir mein Vorhaben mitgeteilt, Aufenthalt in Baden zu nehmen;
und Du hattest nicht
nur nichts dagegen einzuwenden, sondern, ich erinnere mich dessen ganz genau,
ermuntertest mich noch. Die „teure | Pension“ war ein Landwirtshausdie Pension Ruhfels in Baden., in dem ich
für volle Verpflegung achtzig Franken monatlich bezahlte. Ich lebte dort von
200 Mark, die mir Mieze schickte, von Anfang Januar bis beinahe Ende März.
Hätte ich für weitere sechs Wochen Subsistenz gehabt, so wäre mein Roman „Berlin“
damals fertig geworden, während er so bis heute auf der Hälfte stehen geblieben
ist. Dieses nur, um die Gereiztheit meines Briefes von damalsvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 27.3.1906. zu erklären.
Armin hielt es für nötig, mich lezten Sommer | auf
offener Straße zu beleidigen und nur die Rücksicht darauf, daß er mein Bruder
ist, verhinderte mich, mit einer Tätlichkeit zu antworten. Natürlich verkehre
ich seit der Zeit nicht mehr bei ihm und gab ihm, als ich in den
Weihnachtstagen an’s
Telephon gerufen wurde, den Bescheid, daß ich gerne irgend wo auswärts zur
Dispositionzur Verfügung. stehe. Das war die grobe Antwort. Daß Ihr Beide wieder ausgesöhnt
zu sein scheint, freut mich herzlich und ich hoffe nur, daß dieses Euer gutes
Einvernehmen sich niemals mehr trüben möge. Si|cher kommt das Armins wie Deinen
Kindern zu Gute.
Ich ging nunFrank Wedekind hatte Donald angeblich schon vor zwei Jahren empfohlen, seinen psychischen Gesundheitszustand überprüfen zu lassen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 25.1.1908]., um auf meine Angelegenheit zu sprechen
zu kommen, sofort zu Herrn Professor Dr. v. MonakowConstantin vom Monakow, russisch-schweizerischer Neurologe, Neuroanatom und Neuropathologe, hatte seit 1885 in Zürich eine Praxis (Dufourstraße 116) [vgl. Adreßbuch der Stadt Zürich 1908, Teil I, S. 294] und war seit 1894 Professor an der Universität Zürich., Düfourstraße 116. und
setzte ihm mein Anliegen auseinander. Er muß es wohl, nach Allem, was ich ihm
aus meinem Leben rückhaltslos erzählte, für ganz natürlich gefunden haben, daß
ich bis zu einem gewissen Grade nervös gewordenAnspielung auf die zeitgenössische Modediagnose „Nervenschwäche (lat. Nervosität, griech. Neurasthenie), eine Störung des gesamten Nervensystems, d. h. des Gehirns des Rückenmarks, des peripherischen und sympathischen Nervensystems. In diesem weitesten Sinne gefaßt, sind es die ‚Nerven‘, die bei den erhöhten Ansprüchen, die das gegenwärtige Leben der Kulturvölker an die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit stellt, angegriffen werden und einer abnormen Reizbarkeit und leichten Erschöpfbarkeit verfallen. In den höheren Gesellschaftsklassen sind dabei die gesellschaftlichen Strapazen vielfach von großer ursachlicher Bedeutung, bei Lebemännern der gehäufte gesundheitsschädliche Lebensgenuß auf Kosten des Schlafes, ebenso aber tritt eine Schädigung des Nervensystems auch ein bei den Männern, denen eine schwere Berufspflicht, eine angespannte Geistesarbeit, ein rastloser Kampf ums Dasein mehr zugemutet hat, als Körper und Geist auf Dauer ohne Schaden ertragen können. Nicht minder als gesteigerte geistige Leistungen sind aber dauernde niederdrückende Einwirkungen auf das Gemüt, Not und Sorge um den Lebensunterhalt, Kummer, Enttäuschung und ähnliches wichtige Ursachen der N.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 14. Leipzig 1908, S. 528] bin. Nach einer sehr
eingehenden, vollkommenen Untersuchung fand er indessen keine bemer|kenswerten,
organischen Veränderungen vor und meinte, daß meine
Mutlosigkeit und Concentrationsunfähigkeit auf ein freiwillig gewähltes ArbeitsT/t/hema
Folgen von Vereinsamung seien, wie sie an einen jeden Junggesellen hie und da
herantreten. Er constatirte auch eine fortgesetzte UnternährungSchreibversehen, statt: Unterernährung., herbeigeführt
durch den gänzlichen Mangel eines Kauapparates und meinte zum Schluß, um ein
festes Urteil sich zu bilden, müßte ich ihn wohl in nächster Zeit noch einige
Male aufsuchen. So werde ich Ende dieser Woche | wieder einen Besuch machen.
Professor v. Monakow genießt jedenfalls den Ruf einer ersten Autorität, er
besitzt eine Art und Weise des Eingehens in die Interessensphäre des Patienten,
die außerordentlich wohltuend wirkt und auch er sprach sich dafür aus, daß ein
längeres Ausruhen und ein längeres Überhobensein von Nahrungssorgen von sehr
gutem Erfolg sein möchten. Das sind die Resultate meiner Schritte und ich
denke, vorderhand müssen wir uns wohl den Anordnungen des Psychiaters fügen.
Noch | zwei Punkte brachte die Untersuchung zum Vorschein, nämlich ein
Lungenemphysem und eine angeborene Deformirung zweier linksseitiger Rippen, die
gerade über dem Herzen liegen. Sobald sich nun Professor v. M. bereit erklärt,
den Befund schriftlich niederzulegen, so werde ich Dir denselben zuschicken.
Damit bin ich, mein lieber Frank, dir nochmals für
deine Hülfe aufrichtig dankend und dir an’s Herz legend, daß es mein Bestreben ist, irgendwohin als Correspondent,
nach Rom, | nach Paris oder anderswohin, zu kommen und auf diese Weise des
besten Mittels, das noch nie versagt hat, einer radikalen Luftveränderung,
teilhaftig zu werden, mit der Bitte, daraufhin, insofern sich in deiner
Umgebung zufällig so etwas bietet, dein Augenmerk zu richten, bin ich, Dich und
Deine Frau herzlich grüßend, Dein treuer Bruder
Donald
Zürich, Mythenstraße 17.
am 2. Februar 1908