Lieber Frank!
Nach Allem, was mir über Dich gesagt wird und was ich
über Dich höre, geht
es Dir gut. Aber auch für den Fall, daß es Dir nicht gut gie/n/ge, so
kommt das, was ich dir jetzt schreibe, aus vollem Herzen, so wie ich es fühle
und meine, und nicht anders.
Ich habe im Laufe der letzten drei Wochen zwei Briefevgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.3.1906 und 22.3.1906.
an Dich abgehen lassen. Nach den Maßregeln, die ich getroffen, muß ich annehmen,
daß Du sie erhalten hast. In der Tatsache, daß Du es bis heute nicht der Mühe Wert gehalten
hast, zu antworten, muß ich zum ersten Mal in meinem Leben an Deinem guten
Glauben zweifeln, ein Zweifel allerdings, der durch den Ratschlag verstärkt
wird, den Du mir einige Abende vor meiner Abreiseam 30.1.1906; im Tagebuch notierte Frank Wedekind am 29.1.1906: „Donald reist morgen in die Schweiz.“ Zuvor hatte er Treffen mit Donald (den Namen einmal in hebräischen Schriftzeichen notiert) verzeichnet am 24.1.1906 („mit […] Donald“) und am 27.1.1906 („Donald theilt mir mit, er wolle sich in Baden in der Schweiz niederlassen. […] Abends mit Donald beim Austernmeier und bei Stallmann. [Donhald] M. 100“). von Ber|lin gabst.
Du meintest damals, eine Befolgung dieses Ratschlages
mit Erfolg würde Dir und Mieze Eure unterstützende Tätigkeit erleichtern. Was
Mieze anbelangt, so weiß ich, daß wenn sie sich auch nicht gerne von dem
vielleicht zu teuer Erworbenen trennt, sie mich doch zu sehr als jüngeren
Bruder liebt, um für ihre Förderungen einen Preis zu verlangen, wie zu bezahlen
Du mir vor drei MonatenIn Frank Wedekinds Tagebuch sind Treffen mit Donald am 19.12.1905 („mit Hans Weinhöppel Donald und dem Besitzer vom Pradi in Wien im Linden-Restaurant“) und am 1.1.1906 („Donald holt mich ab. Wir essen zusammen. […] Abends mit Donald im Weihenstephan und Weinstube Frederich“) belegt. nahe legtest. Daß Dir aber Deine zu den schwesterlichen
Handreichungen in keinem Verhältnis stehender/e/ HülfeFrank Wedekind unterstützte seinen Bruder Donald in Berlin seit Oktober 1905 regelmäßig mit 100 Mark; Zahlungen sind im Tagebuch verzeichnet am 8.10.1905, 23.10.1905, 21.11.1905, 5.12.1905, 19.12.1905, 5.1.906, 18.1.1906, 27.1.1906 und 29.1.1906 [vgl. Tb], also über einen Zeitraum von knapp vier Monaten. schwer fällt,
daran dachte ich bis heute nicht, daß jemals die Rede sein könnte, und die Tatsache
ist für mich nur durch
einen Umstand erklärbar, an den ich ebenfalls kaum zu denken wage.
Sollte Dein Ehrgeiz wirklich so groß sein, daß schon
lange eine geheime, aber hie und da erwachende Furcht in Deinem Herzen | lebt,
daß ich Dir irgend ein Zielals Schriftsteller Erfolg zu haben. einmal streitig machen könnte. Du solltest doch
gemerkt haben, daß wenn eine Bearbeitung, wie Du sie mir diese Herbstmonate mit
jeden hundert Mark, die Du mir gabst, zuerteiltest, daß, wenn eine solche Kur nichts fruchtet,
die den Ehrgeiz stachelnden Disciplinenhier: Verhaltensregeln, Vorschriften. eben auf einen Boden fielen, wo kein solcher/Ehrgei/z
vorhanden ist. Dies erhellt doch auch klar und deutlich der andere Umstand, daß
ich mich an ein Institutvermutlich Anspielung auf Donald Wedekinds Nähe zur katholischen Kirche. anlehne, das die Entsagung und die Nichtigkeit dieser
Welt predigt, wobei ich mich in dieser Anlehnung so vereinsamt fühle, daß ich
ein Narr sein müßte, um nicht zu erkennen, wie schlecht dieser Weg zu irdischen Erfolgen führt.
Das Bischen, was ich an Ähnlichem erreicht habe, ist Zufall und die gute Natur,
mit der mich die gütige Vorsehung bedacht hat, warum also die Furcht, ich
könnte bei unserem allgemein | menschlichen Wettlauf auch noch in jener Bahn
ein besseres Ziel erreichen, wo das Verdienst doch nicht anders belohnt wird
als die Bestrebungen eines jeden unehrlichen Bierwirtes oder Geldmaklers auch.
Ein jeder Fortschritt den ich als Bürger mache, ist für mich ein Rückschritt
und ein jeder Erfolg,
so wie er gewöhnlich gemeint ist, bedeutet einen Mißerfolg. Mein Leben kann nur
als ein Leben wirken, das in den crassesten Farben zeigt, wie alles Edle, alles
Gute hier unten unabwendbar zu Grunde gehen muß und jedes Zugeständnis der
öffentlichen Meinung oder sogar irgend eines federfuchsendenals Autor arbeitenden, Schreibarbeiten ausführenden. TeaterkulisSchreibversehen, statt: Theaterkulis (Kuli = Tagelöhner). Der Terminus ist zeitgenössisch mehrfach belegt. würde
dieser sittlichen Wirkung verderblich sein.
Und nun zum Schluß noch Eines. Auch einige Tage vor
meiner Abreise von Berlin taxirtest Du die Zeit, während welcher ich m/D/eine
feste Hülfe genoß, auf ein halbes Jahr. Du täuschtest Dich um mehr als zwei |
Monate. So ist der Mensch in seiner Schwäche veranlagt, etwas zu tun, was ihm
nicht Freude macht, verlängert die Zeit bis zur Widerwärtigkeit. Aus demselben
SentimentEmpfinden, Gefühl. mögen auch Vorgänge aus früherer Zeit in Deinen Augen von ihrem wirklichen Wert
verloren haben, wobei ich allerdings zugebe, daß Deine Abhängigkeit von mirDonald Wedekind hatte seinen Bruder Frank in der Vergangenheit wiederholt finanziell unterstützt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 8.2.1893, Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 22.12.1895; Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900; Donald Wedekind an Frank Wedekind, 3.10.1900].
damals gerade in meine beste Jugendzeit fiel, da Herz und Fingerspitzen noch
näher miteinander verbunden sind als wenn sich später so und so viel
Ablagerungen schon dazwischen gelegt haben. Aber Du hast ja ein ebenso gutes
Gedächtnis wie das meinige ist, das mich wohl noch daran erinnert, wie ich Dir allerdings auch den
wohlmeinenden Rat erteilte, Dir eine Kugel durch den Kopf zu schießen.
Jedenfalls aber, das weiß ich, würde ich mich nie, und wenn ich zwanzig/nur/
Jahre/das/ älter gewesen wäre was ich | jünger bin, in derartigen,
beleidigenden PedanterienKleinlichkeiten, Spitzfindigkeiten. gebadet haben, wie Du das mir gegenüber diesen Winter
für gut fandest. Und ich erinnere mich nicht, daß, wenn Du mit einem Anliegen
kamst, ich nichte stets den kürzesten Weg genommen hätte, demselben nachzukommen.
Das sogar in Fällen, wenn Du Dich noch nicht einmal direkt an mich wandtest.
Damit bin ich, mit der Versicherung, daß ich Dir nach
wie vor gut will und daß ich diesen Brief nur geschrieben habe, weil ich die
Empfindung hatte, daß ich meinen Standpunkt nachgerade einmal klarlegen mußte, dein treuer
Bruder
Donald
Baden i. d. Schweiz
Villa Ruhfels, am 27. März 1906