Baden i. d. Schweiz
Villa Ruhfels
am 10/2/.III.06
Lieber Frank!
Nachdem ich nun 6 Wochen hier bin und nach und nach der
Gegenstand eines gesunden Sanierungsprozesses wurde, fühlige/fühle ich
mich auch in der wohligen Laune, dir erneute und etwas exaktere Nachrichten von
mir zu geben.
Die Luftveränderung und das solide Leben, zu dem man hier
gezwungen ist, haben nicht verfehlt, ihren guten Einfluß auf mich auszuüben.
Seit drei Wochen stehe ich jeden Morgen um 9 Uhr auf, arbeite dann bis zur
Mittagszeit, esse zu
Mittag, arbeite noch zwei Stunden und ergehe mich dann in/an/ den
schönen GehängenBerghängen. des Limmathtales, ob es regne, schneie oder schönes Wetter
ist. Sonntags besuche ich | Mamma und Mati, oder Freunde in der Umgegend, und
Montags beginnt wieder dieselbe Arbeitsperiode. Diese Regelmäßigkeit hatte zur Folge, daß mein RomanDas Projekt mit dem Titel „Berlin“ blieb Fragment [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 2.2.1908]. Ein weiterer Roman Donald Wedekinds nach dem 1903 publizierten „Ultra montes“ ist nicht erschienen. um weitere fünf Kapitel gediehen
ist, daß ich mich gesund und wohl, und, wüßte ich, daß das ewig dauern würde,
beinahe gelangweilt
fühle. Immerhin habe ich die Absicht, bis zum ersten Mai keine Veränderung
eintreten zu lassen und könnte diesen Vorsatz mit einem Zuschuß von 200 Mark,
wie ihn mir Mieze vor 6 Wochen aus Dresden zugeschickt, durchführen. Kannst du
mir diese Subvention schicken?
Auf den ersten Mai hoffe ich mich dann irgendwie unter
Dach und Fach bringen zu können. Mein Freund StäubleAlbert Stäuble, Chef der Offiziellen Verkehrskommission Zürich (Stadthausquai 1, Parterre) [vgl. Adreßbuch der Stadt Zürich 1906, Teil I, S. 407] und Sekretär des Verkehrsvereins Zürich, der ebenfalls seinen Sitz dort hatte [vgl. Adreßbuch der Stadt Zürich 1906, Teil IV, S. 105], besuchte das Gymnasium in Aarau und war seit 1898 Leiter des Züricher Verkehrsbüros; 1906 übernahm er für zwei Jahre das Verkehrsbüro Baden-Baden [vgl. Der Bund, Jg. 97, Nr. 63, 7.2.1946, Abendausgabe, S. 4]., der Verkehrssekretair, ist an die Spitze des
Verkehrsvereins in Baden-Baden berufen worden und wie er mir vor einigen Tagen
in Zürich mitteilte, ist es | nicht ausgeschlossen, daß er in derselben Stadt
meiner redaktionellen Mitarbeiterschaft bedarf. Außerdem hat der Zürcher
VerkehrsvereinZum Verkehrsverein Zürich gehörten das „Offizielle Verkehrsbureau Zürich“ und die „Verkehrskommission“, beide im „Parterre I, Stadthausquai 1“ [Adreßbuch der Stadt Zürich 1908, Teil I, S. 450] untergebracht. „Der Verein bezweckt, in Verbindung mit Behörden und Privaten die Wahrung und Förderung der Verkehrsinteressen von Zürich und Umgebung. Ein Hauptbestreben soll namentlich auch darin liegen, Fremde nach Zürich zu ziehen und ihnen den Aufenthalt daselbst angenehm und nützlich zu machen und insbesondere gut situierte Familien zu längerem Aufenthalte zu veranlassen.“ [Adreßbuch der Stadt Zürich 1908, Teil IV, S. 114f.]. die Redaktion seines OrgansDie offizielle Verkehrskommission Zürich gab das wöchentlich erscheinende „Zürcher Theater-, Konzert- und Fremdenblatt“ heraus. Die Stelle als Redakteur bekam Donald Wedekind für zwei Jahre [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 1.5.1908]. zu vergeben und, wie mir mitgeteilt
wurde, bin auch ich in Betracht gezogen. Dann winkt von München her noch eine
kleine, untergeordnete Sachenicht ermittelt., so daß ich mich bei diesen verschiedenen
Aussichten nicht wundern würde, wenn eine davon wirklich und wahrhaftig in
Erfüllung ginge, so eigentümlich mich dieser Gedanke auch bei der Beharrlichkeit,
mit der alles aktive Leben mir aus dem Wege geht, anmutet. Also möge der KelchIronisierung der auf die Leidensgeschichte Jesu anspielenden biblischen Redewendung: der Kelch geht an jemandem vorüber, für: jemandem bleibt etwas Schlechtes erspart (nach Markus 14,36 und Matthäus 26,39) und: den Kelch bis zur Neige leeren, für: etwas Unangenehmes bis zum Ende durchstehen.,
den ich mit Freuden leeren würde, nicht an mir vorübergehen.
Anderseits freue ich mich natürlich, daß mir Stimmung und
Muße gekommen sind, um meine Arbeit zu vollenden. Denn wenn mir, wie das bei/vor/
seh/sechs Wo|chen durch Miezes rettenden Arm aus Dresden geschehen ist,
das Impedimentum(lat.) Hindernis. des leeren Geldbeutels aus dem Wege geschafft wird, so kann
ich bis zum 1. Mai das Concept meines Romans annähernd beenden. Schlußkapitel
und Korrektur ließen sich leicht den Sommer über auch zwischen einer andern
Tätigkeit hinein bewerkstelligen, so daß der Herbst das druckfertige Manuscript
sehen würde. Jedenfalls hätte sich dann der alte SpruchHerkunft nicht ermittelt; das Latein scheint fehlerhaft („peccabi“ statt: „peccabit“ oder „peccabo“); wörtlich: Aber in Baden wird das Licht immer durch Unklugheit sündigen. : Sed Badae semper peccabi lux
Imprudentia nicht
bewahrheitet und Miezes und deiner Hülfe wäre der Schein der Nutzlosigkeit
genommen. Und so geschehe es. – – –
Letzten Sonntagwohl am 4.2.1906. war ich nach einer Unterbrechung von
vierzehn Tagen wieder in Lenzburg und wurde dort of|fensichtlich mit Spannung
erwartet. Ich mußte nämlich Auskunft geben über deine BrautFrank Wedekind und Tilly Newes waren seit dem 18.2.1906 verlobt und heirateten am 1.5.1906; Ende Februar hatte er die Heiratspläne seiner Mutter mitgeteilt und angemerkt: „Donald kennt Tilly Newes und kann Euch von ihr erzählen.“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 24.2.1906] und, nach einer
längeren Beschreibung, die ich abgab, kam Mati zu der Anschauung, sie müsse
ungefähr aussehen wie Steffi Rabenicht näher identifiziert; offenbar eine Jugendfreundin aus Lenzburg, die Donald Wedekind demnach 1888 mit 17 zuletzt gesehen hat., was ich nun nicht beurteilen konnte, da ich
Steffi Rabe schon wenigstens seit 18 Jahren nicht mehr gesehen. Jedenfalls
geben Euch Beide, Mamma und Mati, ihren Segen, und indem ich innerlich dasselbe
tue, bin ich, in Erwartung auf deine Antwort und mit brüderlichen Grüßen an Dich und Tilly Dein
Donald