Baden, Pension Ruhfels
d. 7. Febr. 1906
Lieber Frank!
Hier einstweilen einen kurzen Reisebericht:
Nachdem wir uns getrennt hattenFrank Wedekind notierte am 29.1.1906: „Donald reist morgen in die Schweiz.“ [Tb] Zwei Tage zuvor vermerkte er: „Donald theilt mir mit, er wolle sich in Baden in der Schweiz niederlassen.“ [Tb, 27.1.1906], fuhr ich direkt nach
Hause, nahm meine Bündel und setzte mich auf die Eisenbahn. Zwischen 10 und elf
Uhr traf ich in Dresden ein. Ich reinigte mich im Bahnhof vom Schmutz der
durchwachten Nacht, aß im Hôtel zu Mittag und wandte mich so
gegen 2 Uhr Miezes WohnungDonald Wedekinds Schwester Erika wohnte mit ihrem Mann Walther Oschwald in Dresden in der Elisenstraße 3b [vgl. Adreßbuch für Dresden 1906, Teil I, S. 632]. zu. Noch bevor ich sie erreichte, stieß ich an der
Ecke der Georgsstraßevermutlich Schreibversehen. statt: Gerokstraße, von der die Elisenstraße abzweigt. Die historische Georgstraße (heute: Max-Hünig-Straße) befand sich im Vorort Klotzsche. auf | die kleine Evadie sechsjährige Tochter von Erika Wedekind und Walther Oschwald., die von ihrer Gouvernantenicht ermittelt. spazieren
geführt wurde. Von dieser Behüterin der Jugend erfuhr ich, daß Mieze augenblicklich
im Großen Gartengrößter Dresdner Stadtpark, circa zwei Kilometer von Erika Wedekinds Wohnung entfernt. Dauermärsche mache, daß Fanny Oschwald eben vor zwei Stunden aus der Schweiz
eingetroffen sei, zur Überraschung ihres Bruders, der noch im MinisteriumWalther Oschwald arbeitete als königlich-sächsischer Finanzrat in der Allgemeinen Verwaltungsabteilung der Königlichen Generaldirektion der Staatseisenbahnen (Wiener Straße 4) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1906, Teil II, S. 26].
weile.. Ich schloß mich also der kleinen Eva an und nachdem wir eine Weile den
Großen Garten abgesucht hatten, sah ich Mieze hinter den Bäumen erscheinen. Sie freute sich offensichtlich
mich zu sehen und | ich selbst hatte auch eine große Freude, die nur durch die
eine Feststellung getrübt wurde, daß auch Mieze nicht am Besten aussah.
In die Wohnung zurückgekehrt, war wieder große
Begegnung, meine
Ankunft wurde für Oschwald durch den Besuch seiner Schwester versüßt,
jedenfalls begrüßte er mich so herzlich, wie das noch niemals geschehen. Man
tauschte Neuigkeiten aus, ging paarweise (Mieze und ich, und Walther und Fanny)
durch die Zimmer, und obschon Fanny Oschwald behauptete, eine sehr schwere Operation erst in den
letzten Wochen erlitten zu haben, so fand ich sie doch so | vollkommen
unverändert, als wären die 10, 12 Jahre, die ich die Schwester unseres
Schwagers nicht mehr gesehen, überhaupt nicht verstrichen. Jedenfalls habe ich
mich herzlich über diese Begegnung gefreut und auf der andern Seite war, den
Eindruck hatte ich wenigstens, dasselbe der Fall.
Ich setzte Mieze, wie du mir angeraten, die Gründe
meines Wohnungswechselsvon Berlin nach Baden in der Schweiz. auseinander und fuhr um 6 Uhr Abends, von den
Segenswünschen Aller begleitet, ab, um am nächsten Vormittag in Stuttgart einzutreffen. Da die Anschlüsse
auf dieser Linie schlecht sind, (wir hatten Dank der schwä|bischen
Gemütlichkeit ungefähr 2 Stunden Verspätung) hatte ich Muße genug, mir die
württembergische Residenzdas Neue Schloss in Stuttgart, die Residenz der Herzöge und Könige von Württemberg. anzusehen, ich fühlte mich schon nahe den
heimatlich-schweizerischen Gefilden und war nur überrascht über eine phänomenale Billigkeit aller
Genußmittel. Da das Wetter ausnahmsweise gut war, so gestaltete sich dieser
Nachmittag zu einem wahren Ergötzen. In Schaffhausen zog ich es vor, den Zug
weiter nach Zürich
gehen zu lassen, und die erste Nacht auf schweizerischem Boden einem gesunden,
langen und erquickenSchreibversehen, statt: erquickenden. | Schlaf zu widmen. Meine einstigen Zähne, die ich in der
Tasche als überflüssigen Ballast mit mir trug, versenkte ich in den Rhein und
stellte mit Vergnügen fest, daß sie lange nicht in der klaren Flut verschwinden
wollten, was ich für ein gutes Omen nahm.
In Baden war es nicht so leicht, das zu finden, was
ich brauchte. Die Badehôtels
haben eine Konvention, auch im Winter unter einen gewissen, exorbitantengewaltigen, enormen. Preis nicht hinunter zu gehen und
schon hätte ich in | einem kleinen, ungenügenden Zimmer eines Hôtels niedrigeren Ranges beinahe Wohnung genommen, als
ich auf einem Spaziergange nach Wettingen in der Oberstadt das entzückend gelegene
Haus fand, wo ich meinen Ansprüchen entsprechend mich einigen konnte. Ein
Zimmer mit Aussicht nach der Lägernschmaler, rund 10 Kilometer langer Höhenrücken zwischen Baden und Dielsdorf., nach Baden und dem Kloster WettingenDas säkularisierte Kloster Wettingen beherbergte die Lehrerbildungsanstalt des Kantons Aargau.,
billige Pension und eine Lage, die ein Herumsumpfen in den Kneipen der Stadt
ausschließt. So hoffe ich sicher einer allmählichen ConsolidirungHeilung. von Körper
und Seele entgegenzugehen. | Mit meiner Ankunft setzte auch starker Frost mit
Schneefall ein, so daß es ein Vergnügen ist, die Natur zu genießen.
Letzten Sonntag war ich in Lenzburg. Mamma und Mati sind gesund, wir
verbrachten einen angenehmen Nachmittag zusammen. Der Mittelpunkt des Gesprächs
warst natürlich, wie übrigens auch in Dresden, du. Und so danke ich dir, mein
lieber Frank dafür, daß du mir diese hoffentlich heilbringende Übersiedelung ermöglichtFrank Wedekind unterstützte seinen Bruder regelmäßig mit Geld, zuletzt am 27.1.1906 und 29.1.1906 kurz vor seiner Abreise mit jeweils 100 Mark [vgl. Tb].
hast, ich werde das,
was ich noch zu erzählen hätte, für einen andern Brief sparen und bin mit den
innigsten Grüßen dein Bruder
Donald
[auf Seite 1 und
4 um 90 Grad gedreht am linken Rand:]
P. S. Herzliche Grüße auch an Frl. NevesSchreibversehen, statt: Newes. und sage ihr, ich würde | ihr
die Bücher zukommenEs dürfte sich dabei wohl um Donald Wedekinds eigene Bücher gehandelt haben. Frank Wedekind zufolge hatte er Tilly Newes zuletzt am 24.1.1906 getroffen: „Generalprobe von Kindern der Sonne. mit Tilly Iduschka Gertrud Eysold Tilla Durieux Donald Frau Weißbeck.“ [Tb] lassen. Nochmals Adieu!