Kennung: 117

Berlin, 11. Dezember 1905 (Montag), Brief

Autor*in

  • Orloff, Ida

Adressat*in

  • Wedekind, Tilly
  • Wedekind, Frank

Inhalt

Ich will Euch hier in diesen Zeilen danken – wofür weiss ich selbst nicht – aber ich fühle ein drückendes Schuldbewußtsein Euch beiden gegenüber. Ich habe noch nie zwei Menschen so lieb gehabt und noch nie habe ich mich so sehr nach Jemandem gesehnt und doch bin ich in Eurer Gegenwart so furchtbar unglücklich, Ihr könnt Euch keinen Begriff machen von meinen Qualen, Alles was ich schon gelitten habe muß ich noch einmal leiden und weiß doch nicht weshalb! Erst durch Euch fühle ich so ganz wie Elend ich bin, wie mein ganzes Leben verpfuscht | ist, von Grund auf. Ich war ja noch nicht eine einzige Stunde im Leben glücklich, ich habe noch nicht einen Hauch gefühlt von dem Glück daßSchreibversehen, statt: das. Ihr da jede Minute durchkostet. Menschen, die so reich sind wie Ihr, können es wol kaum fassen wie weh es mir immer tut, wenn Leute lachen, wenn man froh ist um mich herum. Und dann die Nächte, wie ich da einsam bin. Zum Beispiel jetzt! Ihr seid fort, ich mußte noch einen Augenblick unten bleiben, bei den Leuten die ein Teil meines Körpers sind, u die mir so fremd sind, so abstoßend kalt, für die | Stunden die Ihr mir heute geschenktin der Nacht vom 10. auf den 11.12.1905. Wedekind hielt am 10.12.1905 fest (die Namen von Ida Orloff und Tilly Newes in hebräischen Buchstaben notiert): „Abends mit Tilli in der Wildente“ – Ida Orloff stand in Henrik Ibsens Drama „Die Wildente“ am Berliner Lessingtheater auf der Bühne – „dann mit Ihr und Iduschka Orlow in der Traube. [Iduschka] und [Tilly] kommen zu mir ich liebe [Tilly] vor [Iduschka]. [Tilly] läßt sich von mir mit der Reitgerte schlagen. Ich bringe [Iduschka] nach Hause.“ [Tb] Gerhart Hauptmann, von Ida Orloff informiert, die mit ihm eine Liebesaffäre hatte, fasste das Geschehen so zusammen: „In trunkenem Zustand hat W[ede]k[ind] sie zur Zeugin seines Geschlechtsaktes mit seiner ‚Braut‘ gemacht. Hierbei wurde sie nackt ausgezogen.“ [Tb Hauptmann, 11.2.1906] Ida Orloff hatte am 5.1.1906 mit Gerhart Hauptmann über Wedekind gesprochen: „Gestern sprach ich mit ihr [...] über W[edekind]. Er sei ihr zu lustig. etc. Schliesslich gestand sie ihm ein ‚gutes Herz‘ zu. das quälte mich.“ [Tb Hauptmann, 6.1.1906] habe/t/ werde ich stets Euer Schuldner bleiben. Tut mir doch noch etwas zu Liebe sagt mir, was soll ich tun um glücklich zu werden? Ich will Euch blind gehorchen ohne zu überlegen, es geht nicht mehr so weiter! Jetzt steht Dein junger Frühlingsflieder vor meinem Bett, ich stehe auch im FrühlingIda Orloff war seinerzeit fast 17 Jahre alt. aber ich wurde schon in der Wurzel welk, es nützt nichts wenn ich die keimenden Blüten auf meinen Körper lege, – sie welken an mir! Ich sterbe an meiner Einsamkeit! Ich mache es nicht mehr lange, ich fühle es und | doch hänge ich so sehr am Leben ich will ihm alles was es nur geben kann abringen und doch stehe ich immer mit leerem Herzen, verstoßen allein in der Welt. Mein Talent und TheaterglückIda Orloff, die in der Wiener Inszenierung der „Büchse der Pandora“ noch als Schauspielschülerin die Rolle der Kadéga di Santa Croce gespielt hatte, im Theaterzettel „Iduschka Orloff“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 182, 9.6.1905, S. 15], wurde von Otto Brahm, Direktor des Berliner Lessingtheaters, der im Publikum saß und beeindruckt von ihr war, nach Berlin engagiert [vgl. Leppmann 1989, S. 239] – ein Karrieresprung. hat man mir nur gegeben damit ich meine Trostlosigkeit so ganz erfassen kann! Ich gehe abseits vom Weg, beobachte die vorüber Eilenden und verkümmere dabei. Wenn ich doch wenigstens die Versicherung hätte daß noch viele andere so elend sind, aber alle haben lachende Augen und | jeder Mund küßt in die Welt! So muß man sein wie Du, TillyIda Orloff war eine der „besten Freundinnen“ [Wedekind 1969, S. 40] von Tilly Newes., Lebenskünstler Frank ist manchmal geteilt aber doch kann er genießen er ist im Stande nur das angenehme zu sehen wenn er will! Ihr seid meine Heiligen und ich bete zu Euch, mir hilft kein Gott, so kniee ich vor Euch Menschen, ich flehe Euch an wirket für mich! Wenn ich Euch vielleicht wie eine böse schleichende Krankheit in Euer Glück trete, tragt es mir nicht | nach nur ansehen will ich Euch, dann kann ich so erlösende Thränen weinen, und muß mich nicht wund kratzen und schreien Nachts wenn ich vor Sehnsucht die Glieder verrenke wenn ich mich an meinen Haaren aufhängen möchte und die Augen schließen muß damit ich sie nicht auskratze. Aber ich weiß wenigstens was Schicksal ist und möchte ja auch einen Gefährten. Allein nimmt die Reise kein Ende! – Seid mir | nicht böse, schreibt mir daß Ihr es nicht seid und wann ich Euch wiedersehenIda Orloff beging mit Wedekind und Tilly Newes den Jahreswechsel, wie Wedekind am 31.12.1905 notierte: „Silvester. Den Abend verbringe ich mit Tilli bei Iduschka Orlov.“ [Tb] darf und ob Ihr mich ein bisschen lieb habt?!

IdinkaIda Orloff hat ihre intimen Briefe an Gerhart Hauptmann mit diesem Namen unterschrieben, er wiederum hat sie so angesprochen, etwa am 13.4.1906: „Idinka! Idinka!“ [Hauptmann/Orloff 1969, S. 118] „Hauptmann nannte sie Idinka, sie selbst bevorzugte den Namen Iduschka“ [Leppmann 1989, S. 237] – so nannte sie Wedekind (siehe oben); sie „wurde allgemein ‚Iduschka‘ genannt“ [Wedekind 1969, S. 40].

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 12 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hoch- und Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Frank Wedekind hat die beschriebenen Seiten mit Bleistift jeweils oben in der Mitte mit Ziffern von „1“ bis „7“ paginiert und auf Seite 1 oben rechts mit Bleistift das Datum „11.12.5“ notiert. In derselben Mappe ist auf einem beidseitig beschriebenen Blatt (22 x 28,5 cm, gelocht) eine maschinenschriftliche Abschrift überliefert, die geringfügige Varianten zum handschriftlichen Brief aufweist, unsigniert ist (die Unterschrift wurde weggelassen) und oben auf Seite 1 ebenfalls das getippte Datum „11.12.5“ enthält.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Schreibdatum war Wedekinds Datumsnotiz auf dem Brief zufolge der 11.12.1905.

  • Schreibort

    Berlin
    11. Dezember 1905 (Montag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 304
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Ida Orloff an Tilly Wedekind, Frank Wedekind, 11.12.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (03.12.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

09.07.2024 12:25