Mein lieber Martens!maschinenschriftliche Textrestitution auf einem eingeklebten Blatt aufgrund von Papierverlust (siehe die Hinweise zur Materialität).Sie benutzen also die günstige Gelegenheit, daß ich im GefängnisWedekind, der sich am 2.6.1899 in Leipzig den Behörden gestellt hatte, am 3.8.1899 wegen Majestätsbeleidigung in der „Simplicissimus“-Affäre zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt wurde und die Gefängnishaft dann am aufgrund eines Begnadigungsgesuchs vom 23.8.1899 in Festungshaft umgewandelt worden ist, war seit dem 21.9.1899 auf der Festung Königstein inhaftiert [vgl. KSA 1/II, S. 1710]. sitze dazu um sich zu verheirathenKurt Martens und Mary Martens (geb. Fischer) heirateten am 29.3.1899 in München, was der Freund Wedekind angekündigt hatte [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 5.2.1899].. Ich muß es Ihnen selbst überlassen für eine derartige Handlungsweise die richtigen Ausdrücke zu finden. Wie mir Dr. Heine, der mich vor vier Wochenam 12.10.1899, genau gerechnet; der Besuch fand aber früher statt. Carl Heine hat Wedekind gleich in den ersten Tagen seiner Haft auf der Festung Königstein besucht [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 5.10.1899]. besucht hat, erzählt, haben Sie es derweil auch nicht bei der bloßen Heirat bewenden lassen sondern sind viel/noch/ weiter gegangenAnspielung auf die Schwangerschaft von Mary Martens; die Geburt der Tochter Hertha Helena Martens wurde 1899 „zu Weihnachten“ [Kurt Martens an Wedekind, 5.12.1899] erwartet.. Und nun erwarten Sie eventuell von mir noch, Ihnen zu alledem Glück zu wünschen. Aber ich bin an Grauen zur genüge gewöhnt um mich noch über etwas zu wundern. | Dessenungeachtetmaschinenschriftliche Textrestitution auf einem eingeklebten Blatt aufgrund von Papierverlust (siehe oben). gestehe ich Ihnen, dass mich in meiner Einsamkeit eine heftige Sehnsucht nach Ihnen ergreift. Vor einigen Tagen las ich im Berliner Tageblatt eine sehr lobende anerkennende und ohne Zweifel auch verdiente Anzeige eines NovellenbandesPaul Block hatte im „Berliner Tageblatt“ den Band „Tagebuch einer Baronesse von Treuth und andere Novellen“ (1899) von Kurt Martens zustimmend besprochen: „Dies neue Buch des feinsinnigen und geistreichen Verfassers des ‚Roman aus der Décadence‘ gehört zu den Werken, die man recht langsam lesen muß. Es ist wie ein alter, guter Wein, nicht besonders stark, aber von unendlich feinem Aroma, den man mit gewölbter Zunge schlürft, und der uns mit stillem, wärmendem Feuer durchströmt. [...] Mir erscheinen Seelenskizzen wie das ‚Tagebuch der Baronesse von Treuth‘ [...] als nicht hoch genug zu werthende Gaben in unserer literarischen Tombola, die so unendlich viel Nieten in lockender Verpackung enthält.“ [P.B.: Kurt Martens. Tagebuch einer Baronesse von Treuth und andere Novellen. Berlin, F. Fontane u. Co. In: Berliner Tageblatt, Jg. 28, Nr. 512, 7.10.1899, Abend-Ausgabe, 1. Beiblatt: Litterarische Rundschau, S. (1)] von Ihnen. Ich habe mich aufrichtig sehr darüber gefreut aber das war der Funken in das Pulverfaß meiner während fünf Monaten verhaltenen Empfindungen. Mit stiller Wehmut denke ich an die schönen Tage in LeipzigWedekind, 1898 am Theater der Literarischen Gesellschaft (Direktion: Carl Heine), zugleich Ibsen-Theater, in Leipzig als Dramaturg und Schauspieler engagiert [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408], und Kurt Martens, Mitbegründer der Literarischen Gesellschaft, hatten vor der Leipziger Uraufführung des „Erdgeist“ (25.2.1898) täglichen Umgang miteinander. zurück, an Ihr molliges Interieurdie wohl gemütliche Wohnungseinrichtung von Kurt Martens in Leipzig (Haydnstraße 1, Parterre) [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1898, Teil I, S. 558]. und Ihr noch von keinen Vaterfreuden präoccupirtesbefangen gemachtes. Herz. Aber wenn das Alles nun doch | jemand a/A/anders/e/m gehört so lassen Sie mich wenigstens an Ihrem Glück theilnehmen. Sie wissen wie viel Verständnis ich für das Glück meiner Freunde habe. Ich hoffe zuversichtlich, daß auch Sie mich Ihre Seligkeit mitempfinden lassen werden.
Was soll ich Ihnen von mir schreiben? Seit jenem Abend da wir zu dritt, Sie, Weber und ich auf einen kurzen Augenblick zusammen im Hofbräu saßen, der letzte behagliche Augenblick, den ich erlebt habe, ist bei mir sowohl wie bei Ihnen mancher Tropfen Wasser den Fluß hinabgelaufen. Aber bei Ihnen waren die Wassertropfen Tropfen der Lust, wogegen mein Wasser das Wasser der Bitternis war. Ich bitte Sie | fest davon überzeugt sein zu wollen, daß die Sehnsucht nach Ihnen der alleinige Grund war, der mich veranlaßte die Freuden der SeinestadtWedekind war am 22.12.1898 von Zürich nach Paris gereist [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899], wo er lebte, bis er sich am 2.6.1899 in Leipzig den Behörden stellte (siehe oben). mit der Stille der Gefängniszelle zu vertauschen. Ich hätte auch um Ihretwillen noch ganz andere Opfer gebracht und mich in ganz andere Gefahren gestürzt. Und nun wo das schlimmste überstanden und ich daran denke die Frucht meiner Leiden in die Arme schließen zu können, muß ich hören daß Sie sich feige verheiratet haben. Vier Monate Gefängnis und vier Monate Festung umsonst gesessen, die reine Donquixoterie! Hätte ich das ahnen können, ich wäre ruhig bei meiner Pariser Geliebten geblieben, der alten | Frau Herwegh, die Ihnen trotz ihrer 87 Jahre an jugendlichem Feuer nicht nachsteht.
Aber genug der JeremiadenKlagelieder.. Wie geht es in München? Ich hoffe Sie werden etwaigen infamen Verleumdungen die darauf ausgehen mein Verhalten in LeipzigWedekind hatte bei dem Majestätsbeleidigungsprozess am 3.8.1899 in Leipzig (siehe oben) vor dem Gericht den Verleger Albert Langen (er lebte infolge der „Simplicissimus“-Affäre nach wie vor im Exil) als „skrupellosen Geschäftsmann“ hingestellt, „der sich auf Kosten seiner Mitarbeiter bereichern wollte“ [Abret/Keel 1985, S. 27]. in schlechtem Licht erscheinen zu lassen keinen Glauben beimessen. Ich bemerke das nur ganz beiläufig. Ich kann mich ja augenblicklich nicht wehren. In dem Moment wo ich wieder in München bin, verstummt das Geschwätz mit der größten Eilfertigkeit, dessen bin ich s/v/öllig gewiß. Die literarischen, speziell dramatischen Wogen gehen überaus hoch in München, wie ich zu meiner Freude lese. Kommen | Sie vielleicht hie und da mit Halbe zusammen,/?/ dann grüßen Sie ihn herzlich von mir. Was macht Ihr specieller literarischer Kreis? Ich meine damit mehr die Damen, denn im Übrigen zähle ich Sie zu keinem speciellen Kreis. Und sagen Sie mir noch Eines: Sind Sie glücklich? Können Sie glücklich sein? Ich kann es nicht. Wenn Sie zufällig nach Dresden kommen besuchen Sie mich vielleicht. Sie finden hier gute Luft, gutes Bier, guten Wein, kurzum alles was Ihr schlechtes Gewissen betäuben kann. Nur muß ich zwei Tage vorher davon unterrichtet sein um die Kanonen für die Salutschüsse auffahren lassen zu können. Wenn | Sie im Taumel Ihres überströmenden Glückes und des literarischen Gewoges eine freie Minute finden, so opfern Sie vielleicht noch einige ersterbende Empfindungen auf dem Altar der alten Götter. Schreiben Sie mir recht ausführlich, machen Sie mir den Mund wäßrig, vielleicht bekehre ich mich dann auch, folge Ihrem Beispiel, heirate ein unschuldiges junges Gänschen, das sich von mir den Himmel auf Erden verspricht und wunder glaubt welchen Fang sie gemacht habe. Wissen Sie nicht vielleicht irgendjemand in Ihrer Umgebung bei dem ich meine Batterien spielen und meine Minen springen lassen könnte. Ich bat Sie seinerzeit schon, mich Ihrer Fräulein Schwester zu | empfehlen, aber damals waren Sie der EifersüchtigeKurt Martens erinnerte sich später an eine Szene mit Wedekind in der Literarischen Gesellschaft in Leipzig, in der es um seine Schwester ging: „An einem unserer Gesellschaftsabende war zufällig einmal meine Schwester zugegen. Er nahm es mir ernstlich übel, daß ich ihn nicht mir ihr bekannt machte. ‚Das ist eine unverdiente Zurücksetzung‘, sagte er voll Bitterkeit. ‚Fürchten Sie etwa, ich könnte Ihr Fräulein Schwester vor allen Leuten vergewaltigen?‘ – ‚Das zwar nicht‘, erwiderte ich ihm. ‚Aber, Sie verstehen ... die bewußte Frage, die Sie gewohnheitsmäßig an jede junge Dame richten: Mein Fräulein, sind Sie noch Jungfrau? ... Auf diese Frage hätte Ihnen meine Schwester, vorurteilsvoll, wie sie nun einmal ist, vielleicht den Rücken gewendet.‘ Er knirschte mit den Zähnen und grinste hinterhältig: ‚Zugegeben, ich richtete diese aufklärende Frage wirklich an Ihr Fräulein Schwester, und sie ließ mich darauf schimpflich abfallen, wäre damit nicht immerhin eine erste Beziehung angeknüpft gewesen?‘“ [Martens 1921, S. 206f.] Margarethe Martens heiratete am 28.9.1900 in Loschwitz den sächsischen Juristen und Staatsbeamten Max Ferdinand von Koppenfels.. Sie waren nicht einmal dazu zu bringen mich ihr vorst/z/ustellen, so zitterten Sie um Ihren Besiz.
Tempi passati(lat.) Die Zeiten sind vorbei.; machen Sie gut was Sie versäumten. Empfehlen Sie mich bitte aufs beste Ihrer geehrten Frau Gemahlin, grüßen Sie bitte auch Weber, wenn Sie ihn sehen und Herrn von Öhlschläger und sein Sie selber in alter Herzlichkeit gegrüßt von Ihrem
sehr discreten
Frank Wedekind
Festung Königstein.
9.XI 99.