Mein lieber
Martens,
Sie sind doch ein verhätscheltes Glückskind. Erinnern Sie sich noch wie Sie mir vor zwei JahrenEnde 1897 oder Anfang 1898 in Leipzig. Kurt Martens erinnerte sich: „Über unser beider Qualifikation zum Ehemann und Vater hatte ich mich noch lange bevor die Frage brennend wurde, mit Frank Wedekind tiefgründig und höchst offenherzig ausgesprochen.“ [Martens 1921, S. 243] erzählten, daß Sie sich zu Kindern lediglich MädchenKurt Martens erinnerte sich: „Der Himmel hatte ein Einsehen und schenkte mir wahrhaftig ein Töchterchen [...]. Es wurde auf die Namen Hertha Helena getauft.“ [Martens 1921, S. 243] wünschten, weil Sie gar nicht wüßten was Sie mit Knaben anfangen sollten. Nun ist Ihnen auch die Erfüllung dieses WunschesHinweis auf eine nicht überlieferte Geburtsanzeige; erschlossenes Korrespondenzstück: Kurt Martens, Mary Martens an Wedekind, 24.12.1899. Die Eltern dürften Wedekind über die Geburt ihrer Tochter Hertha Helena Martens, die „zu Weihnachten“ [Kurt Martens an Wedekind, 5.12.1899] erwartet worden war, durch eine vermutlich gedruckte Geburtsanzeige informiert haben. geglückt, wie alles was Sie in Ihrem ruhigen besonnenen Zielbewußtsein vornehmen. Wie ich aus dem hübschen geschmackvollen TitelAnspielung auf die Kombination des deutschen („Hertha“) mit dem griechischen Vornamen („Helena“) in der Namensgebung der Tochter von Kurt Martens (siehe oben), mit der die Geburt als Metapher für schriftstellerische Produktion rhetorisch eröffnet wird. ersehe, den Sie Ihrem WerkeWedekind setzt die Geburt der Tochter von Kurt Martens hier in Analogie zu einem geschaffenen literarischen Werk. gegeben verfolgten Sie das Ziel, die Deutsche Seele mit der griechischen Schönheit zu vereinigen. Wenn es mir einmal vergönnt sein sollte, das Buch zu durchblättern, werde ich mit Aufmerksamkeit darauf achten, in welcher Weise Sie das Problem gelöst haben; denn daß Sie es gelöst haben, dara/vo/n bin ich bei der großen Sicherheit mit der Sie arbeiten von vorn | herein fest überzeugt. Eines fürchte ich nur, das sage ich Ihnen ganz offen, daß Sie den Stoff zu sehr fin de siècle behandelt haben. Es kann sich das ja aber ebensowol als ein Vortheil wie als Nachtheil erweisen. Auf jeden Fall also meine herzlichsten aufrichtigen Glückwünsche. Wenn ich an Anspielung Wedekinds auf seine eigenen beiden unehelichen Kinder, die Analogiebildung von der Geburt eines Kindes mit einem geschaffenen literarischen Werk fortführend (siehe oben). zurückdenke fühle ich mehr als je, wie schwer es ist, etwas wirklich harmonisches zu schaffen.
Wollen Sie bitte auch Ihrer verehrten Frau Gemahlin meinen herzlichen Glückwunsch aussprechen.
In Ihren lieben freundlichen Zeilenvgl. Kurt Martens an Wedekind, 5.12.1899., die mir eine große Freude waren geben Sie mir allerhand gute Ratschläge für die ich Ihnen sehr dankbar bin. Sie setzen aber dabei voraus, daß ich mich über Ihre Ansichten achselzuckend hinwegsetze. Wie wenig kennen Sie mich doch. Alles was Sie mir als gut und erstrebenswerth anpreiseSchreibversehen, statt: anpreisen. ist seit Beginn meiner wechselvollen Carrière mein einziges Ziel, das ich ja noch vor einem Jahr schon beinahe zu erreichen im Begriff war. Dieses ewige Beinahe, das ist das Verhängnis, das Charakteristische meiner Natur. Ich war beinah verheiratetWedekind war 1896/97 mit Frida Strindberg verlobt gewesen (die Beziehung wurde noch vor der Geburt des gemeinsamen unehelichen Kindes Friedrich Strindberg gelöst) und Kurt Martens hatte ihm vorgeschlagen, sie zu heiraten [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 5.12.1899]., wäre beinahe SchauspielerWedekind war in der ersten Jahreshälfte 1898 zunächst an Carl Heines Ibsen-Theater auch als Schauspieler engagiert [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408] und ist aufgetreten (unter dem Pseudonym Heinrich Kammerer als Dr. Schön im „Erdgeist“), in der zweiten Jahreshälfte 1898 dann auch als Schauspieler am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898], bevor er nach der Münchner „Erdgeist“-Premiere (er spielte am 29.10.1898 in München ebenfalls die Rolle des Dr. Schön und stand zuvor auch in anderen Rollen auf der Bühne) am 30.10.1898 infolge der drohenden Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung in der „Simpliccisimus“-Affäre nach Zürich geflohen ist [vgl. KSA 1/II, S. 1710]. geworden, bin beinahe | ein geschätzter Schriftsteller und verdiene beinahe eine Unmenge Geld. Mit diesem Beinahe hat man aber nicht viel Glück, am wenigsten bei Frauen, die in ihrem berechtigsten Realismus wenig Empfänglichkeit für das Beinahe haben.
Ich kann Ihnen, mein lieber Freund, heute nicht mehr schreiben. Ich leide an Herzbeklemmungen die mir die Ruhe nehmen. Verzeihen Sie dieses BriefformWedekind hat den vorliegenden Brief zu einem Kuvert gefaltet, wie im 18. Jahrhundert üblich. aus dem vorigen Jahrhundert. Ich habe Es sind seit drei Tagen hier keine Enveloppenenveloppe (frz.) = Briefumschlag, Kuvert. zu haben. Grüßen Sie bitte Weber aufs herzlichste. Ich erhielt einige Zeilen von ihmnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans von Weber an Wedekind, 22.12.1899. die ich nächstdem beantworten werde.
Empfehlen Sie mich Ih zu Gnaden Ihrer verehrten Frau Gemahlin, ebenso Ihrer Frau Mama, wenn sie noch bei Ihnen ist und seien Sie herzlichst gegrüßt
von Ihrem getreuen
Frank Wedekind.
Festung Königstein
26. Dec. 99. |
Herrn Kurt Martens
Schriftsteller
München
Franz Josephstrasse 48.II.