München,
Adalbertstraße 34. – 9. August. 96.
Hochgeehrter Herr Doctor,
eben erhalte ich einen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Otto von Grote an Wedekind, 8.8.1896. von Herrn Baron von Grote, in dem er mir schreibt, daß er Ihnen mein Manuscriptder 1. Akt [vgl. Wedekind an Otto von Grote, 8.8.1896] von Wedekinds Libretto „Nirwana. Musikdrama in fünf Aufzügen“ (1896), zu dem Otto von Grote „die Idee beisteuerte und Michael Georg Conrad, Haupt der Münchner Moderne, den Mittler zwischen dem Auftraggeber und dem für den Text verantwortlichen Autor spielen sollte.“ [KSA 3/II, S. 1459] Otto von Grote hatte zuerst ein von Wedekinds zu bearbeitendes „Oratorien-Projekt“ [KSA 3/II, S. 1459] geplant [vgl. Otto von Grote an Wedekind, 9.5.1896], das nicht realisiert wurde. zugesendet. Ich habe mich in dem Plan zu dem Musik-Drama getreu an die Ideen des Herrn von Grote gehalten. Zu dieser Form, zur Form der Oper bin ich gekommen, da mir keine andere Form für den Inhalt möglich schien. Ich bin gegenwärtig mit dem 2. AktZum 2. Akt von „Nirwana“ sind lediglich „Entwurfsnotizen“ [KSA 3/II, S. 1463] erhalten (dagegen ist vom 1. Akt eine vollständige Reinschrift überliefert). beschäftigt und hoffe das ganze noch in | diesem Monat fertig zu stellen. Ich habe Herrn Baron schon geschriebeneinen Brief [vgl. Wedekind an Otto von Grote, 8.8.1896]., daß mir die Summe die er mir dazu übersandt hat, vollkommen ausreichen wird. Aber nun werden Sie mir nicht verdenken, daß mir das weitere Schicksal der Arbeit ernst am Herzen liegt. Deshalb erlaube ich mir, mich an Sie zu wenden.
Als ich das letzte MalWedekind hat Michael Georg Conrad vermutlich zuletzt am 22.7.1896 in München gesehen (siehe unten). das Vergnügen hatte, Sie zu sprechen, sagten Sie mir, daß Sie eventuell nächster Tage wieder nach München kämen und daß wir uns vielleicht treffen könnten. Eine solche Unterredung wäre mir jetzt doppelt werthvoll, obschon | ich Ihnen in der Sache die mich damals zu Ihnen führte, nichts weiter mehr zu sagen hätte. Ich habe die Damenicht identifiziert. seit dem 22. Julivermutlich das letzte Treffen Wedekinds mit Michael Georg Conrad, bei dem auch die nicht identifizierte Dame anwesend war. nicht mehr gesehen und correspondire auch nicht mit ihr.
Es ist mir selber nicht wohlthuend, daß ich gezwungen bin, meine eigenen Interessen in den Vordergrund zu drängen, aber in der Lage in der ich mich befinde ist es momentan meine erste Pflicht. Da ich Ihnen den Auftrag verdanke glaube ich auch nicht zu weit zu gehen, wenn ich Sie um Ihr geschätztes ProtectoratSchirmherrschaft. für das weitere Gelingen bitte.
Gestern Abendam Abend des 8.8.1896. Wedekind war unter der größeren Gruppe, die Oskar Panizza um 20 Uhr [vgl. Wedekind an Otto von Grote, 8.8.1896] am Münchner Hauptbahnhof in Empfang nahm, entlassen aus der Haft in der Gefangenenanstalt Amberg, die er am 8.8.1895 angetreten hatte. Er war vom Königlichen Landgericht München wegen seines Buchs „Das Liebeskonzil. Eine Himmels-Tragödie in fünf Aufzügen“ (1894), erschienen im Verlags-Magazin (J. Schabelitz) in Zürich, zu einem Jahr Haft nach §166 des Reichsstrafgesetzbuches (‚Vergehen wider die Religion, verübt durch die Presse‘) verurteilt worden, ein Zensurskandal. Die Presse meldete: „Der Schriftsteller Dr. Oskar Panizza, welcher in Amberg eine einjährige Gefängnisstrafe wegen eines ‚Vergehens wider die Religion‘, das er in seinem Drama ‚Das Liebeskonzil‘ begangen haben soll, verbüßt hat, ist wieder hier eingetroffen.“ [Münchener Kunst- u. Theater-Anzeiger, Jg. 9, Nr. 3088, 13.8.1896, S. 1] „Schriftsteller Dr. Oskar Panizza hat die ihm seinerzeit vom hiesigen Schwurgerichte wegen Vergehens gegen die Religion zuerkannte einjährige Gefängnißstrafe verbüßt und ist hierher zurückgekehrt.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 49, Nr. 374, 13.8.1896, Morgenblatt, S. 2] Michael Georg Conrad hatte seinerzeit ein entlastendes Gutachten geschrieben, das, ebenfalls im Verlags-Magazin (J. Schabelitz), veröffentlicht wurde [vgl. Oskar Panizza: Meine Verteidigung in Sachen „Das Liebeskonzil“. Nebst dem Sachverständigen-Gutachten des Dr. M. G. Conrad und dem Urteil des k. Landgerichts München I. Zürich 1895]. holten wir Dr. Panizza ab und verlebten einen sehr interessanten stimmungsvollen Abend mit ihm. Ich | hatte schon gehofft, Sie dort zu treffen. Da es nicht der Fall war, schreibe ich Ihnen.
Empfangen Sie, geehrter Herr Doctor mit der Versicherung meiner größten Hochschätzung meinen ergebensten Gruß.
Ihr
Frank Wedekind.
[Kuvert:]
Herrn Dr. Michael Georg Conrad
in PerchaMichael Georg Conrad hatte seinen Sommersitz in Percha am Starnberger See. bei Starnberg.