BerlinHans Richard Weinhöppel war dann als Kapellmeister und Komponist in Berlin (Nachodstraße 24) [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil I, S. 2428] verzeichnet, dürfte zu diesem Zeitpunkt aber noch in einem Hotel oder einer Pension gewohnt haben., den 18. Juni 1905
Lieber Frank –
Du hast mir Geld geschickt – telegraphischHinweis auf ein nicht überliefertes Begleittelegramm zur Geldsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 17.6.1905. Wedekind hat am 17.6.1905 notiert: „Weinhöppel in Berlin. Ich schicke ihm 100 Mark“ [Tb]. noch dazu! Was soll ich Dir sagen? Dankschön? Das genügt nicht. Du hast in mir eine Welt von Gedanken, Wünschen, Träumen und Befürchtungen wachgerufen. Erlaß es mir, mich heute schon darüber auszusprechen. Hast Du auch nicht häßlich von mir gedacht, als Du meinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 13.6.1905. Wedekind hat am 17.6.1905 den Empfang notiert: „Brief von Weinhöppel in Berlin.“ [Tb] erhieltest? Hast du nicht gelacht?
Ich weiß nicht mehr genau was ich Dir geschrieben habe. Es war ein plötzlicher Impuls. Ich schrieb in großer Hast u. brachte den Brief zur Post im Laufschritt, als fürchtete ich einen Umschlag meiner Stimmung u. somit meines Entschlusses. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, | als könnte ich Dir nichts lieberes schreiben, als – mir zu helfen. Ich war in schlimmer Lage. Du kennst dieses unheilvolle Labyrinth Berlin u. weißt, wie man sich in seinen tausend Wandelgängen von Hoffnungen und Gelegenheiten verirrt, zu Tode verirrt. Es wird nun ruhiger weiter gehen. Ich habe einen etwas en/er/höhten Punkt gefunden, von dem aus ich die Situation überblicken kann.
Neues kann ich Dir leider noch nicht berichten. Durch Empfehlungen Meister JoachimsProf. Dr. Joseph Joachim, Direktor der Königlichen akademischen Hochschule für Musik in Berlin (Kurfürstendamm 217) [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil I, S. 961], ein ungarischer Violinist, Komponist und einer der prominentesten Musiker der Epoche, der als Meister Joachim bezeichnet wurde, so zum Beispiel in einem Nachruf auf ihn: „Nun ist Meister Joachim tot“ [F.C. Lußtig: Josef Joachim. In: Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie, Jg. 48, Nr. 224, 17.8.1907, Morgenblatt, S. 1]. werde ich schon langsam meinen Weg machenHans Richard Weinhöppel erhielt eine Anstellung am Stern’schen Konservatorium in Berlin [vgl. Kemp 2017, S. 175], wo er vom 1.9.1905 bis 31.8.1906 Gesang unterrichtete [vgl. Liste der Lehrenden des Stern’schen Konservatoriums (1850-1936), S. 66; https://www.udk-berlin.de/fileadmin/2_dezentral/FR_Musikwissenschaft/Dokumente/LehrendeSternKons.pdf]; zwischenzeitlich war er als Kapellmeister am Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowsky) in Berlin tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 277]., – nur ist der Sommer eine tote Zeit. Und heiß, – verdammt heiß.
Ich sitze in Unterhosen in einem unmöblierten Zimmer. | Ein Tisch, ein mit einem Teppich überdeckter Reisekorb, ein Stuhl, ein aufgespannter Regenschirm (dessen Knauf noch nicht wackelt) – voilà tout(frz.) Das ist alles..
Ich werde mir Möbel ausleihen. Man kommt schließlich billiger weg wie mit möblierten Zimmern. –
In München konnte ich nicht bleibenHans Richard Weinhöppel war knapp vier Wochen zuvor aus Italien in München eingetroffen, wie Max Halbe am 19.5.1905 notierte: „Richard aus Rom zurück.“ [Tb Halbe] Wedekind hat ihn am 24.5.1905 – „Mittags treffe ich Weinhöppel [...] bei Tisch“ [Tb] – und 25.5.1905 – „Abend treffe ich Weinhöppel [...] in der Torggelstube“ [Tb] – in München gesehen. Der Freund dürfte bald darauf nach Berlin abgereist sein.. Du kannst das nicht verstehen, denn Du bist in dieser Hinsicht wie eine Frau: der Wunsch, mit mir dort zu kneipen schlägt alle Erwägungen tot.
In mir sieht es wüst aus. Diese Frau StellaHans Richard Weinhöppel hatte fünf Jahre zuvor in London „die Amerikanerin Stella Brokow“ [KSA 4, S. 662] geheiratet, die mit ihm 1896 aus den USA nach München gekommen war. „Obwohl das Verhältnis bald durch Weinhöppels Liaison mit der Gesangsschülerin Mizzi Ledermann eine empfindliche Störung erlitt, bekräftigten sie ihre Verbindung im Juli 1900 durch die Eheschließung.“ [Kemp 2017, S. 178] Hans Richard Weinhöppel verließ im Vorjahr München und reiste für längere Zeit nach Italien, da die Trennung von seiner ersten Ehefrau beschlossen war, wie Max Halbe am 11.3.1904 von Max Langheinrich erfahren hat: „Gestern erzählte mir Lngheinr., daß Richard sich von Stella trennen will und deshalb durchgegangen ist.“ [Tb Halbe, 12.3.1904] Er hatte am 11.3.1904 von Hans Richard Weinhöppel selbst erfahren, dass dieser München verlasse: „Erf. v. Richard, daß er auf unbestimmte Zeit M. verläßt.“ [Tb Halbe] Die Ehe wurde im Februar 1906 geschieden [vgl. Kemp 2017, S. 178]. hat mir arg mitgespielt. Ich will nicht klagen; es ist doch alles meine Schuld. Daß Du dort verkehrstWedekind hat die noch mit seinem Freund verheiratete Stella Weinhöppel (siehe oben) in der unter dem Namen ihres Mannes verzeichneten ehelichen Wohnung (Adalbertstraße 10, 1. Stock) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1905, Teil I, S. 580] am 23.5.1905 – „Besuch bei Stella Weinhöppel. Sie zeigt mir Briefe von Richard über mich“ [Tb] – und 25.5.1905 – „Nachmittags Kaffee bei Stella Weinhöppel“ [Tb] – besucht., that mir recht weh. Jetzt denke ich ruhiger darüber. Es ist falsch wie ein bissiger Köter auf alle loszufahren, die anders empfinden und handeln wie wir. |
Ich bin mit allem absolut einverstanden.
Ich glaube, ich würde morgen vor dem Papst auf den Knien rutschen, um mich übermorgen beschneiden zu lassen.
Von Bekannten habe ich den SchaumbergerJulius Schaumberger in Charlottenburg (Leonhardstraße 17, Gartenhaus 3), ein Freund aus alten Münchner Tagen, war inzwischen als Dramaturg am Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowsky) in Berlin tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 278]. (eingetrocknet im Mumienzustand) und den WelischErnst Welisch in Charlottenburg (Kantstraße 41), ebenfalls ein Freund aus alten Münchner Tagen, war inzwischen als Oberregisseur am Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowsky) in Berlin tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 277]. (angeschwollen) aufgefunden. Beide sind recht liebe Menschen. Man trank Pilsener und sprach von Dir. Man spricht überhaupt immer von Dir. Ich werde mich zweier Dinge enthalten müssen hier in Berlin: 1.) nicht über S. M.nicht über Wilhelm II. (Seine Majestät, der Kaiser) – Anspielung auf Wedekinds Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung in der „Simplicissimus“-Affäre [vgl. KSA 1/I, S. 1710]. zu sprechen. 2.) nicht mit Deiner Bekanntschaft zu renommieren. Für’s erste würde ich eingesperrt, für’s zweite für einen Lügner gehalten werden. Also Vorsicht!
Mahlzeit für heute! Die meine ist genommen: Lachsschinken, Grahambrotnach dem amerikanischen Prediger und Verfechter einer vegetarischen Reformdiät in den USA benanntes, 1829 von ihm entwickeltes Brot aus feinem Weizen-Vollkornschrot. mit Butter u. Himbeerwasser. – Vielen herzlichen Dank –
Dein alter Richard