Festung Königstein, 29.XII.1899.
Lieber alter Freund,
meine herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahr an Dich und Miß B.Wedekind hat Hans Richard Weinhöppels Freundin (und spätere Ehefrau), die Amerikanerin Stella Brokow, bereits in einem früheren Brief als „Miß B.“ [Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 2.11.1899] bezeichnet.
Meinen besten Dank für das schöne Weihnachtsgeschenk und für Deine lieben
Zeilennicht überliefert (ein Begleitschreiben zu einem Weihnachtsgeschenk); erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 23.12.1899.. Ich freue mich ganz außerordentlich darüber, daß Du in
voller Carrièrein voller Karriere = in schnellem Galopp, in voller Fahrt (redensartlich). bist, keinen freien Augenblick hast und dafür die Möglichkeit, Dich künstlerisch
und menschlich in vollstem Maße auszuleben. Glaub mir, ich betrachte das quasi
als einen eigenen Sieg, indem sich mein Glaube daran, daß Du jeder Zoll
Künstler bist, bestätigt und ich in Folge dessen auch an Vertrauen zu mir
selbst gewinne.
Ich hätte Dir längst für die Sendung TabakHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 3.11.1899. Wedekind hatte sich Zigaretten gewünscht [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 2.11.1899], die der Freund offenbar besorgt und ihm geschickt hat. gedankt, die ich so wie
gewünscht erhalten habe, aber Du kennst meine Passion für schriftlichen
Verkehr; manchmal hatte ich auch trübe Stunden durchzumachen und meine gute
Laune verarbeitete ichWedekind arbeitete nach wie vor [vgl. KSA 4, S. 413] an seinem Stück „Marquis von Keith“ (1901), das im Jahr darauf in der Zeitschrift „Die Insel“ (siehe unten) vorabgedruckt wurde [vgl. Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet von Frank Wedekind. In: Die Insel, Jg. 1, 3. Quartal, Nr. 7, April 1900, S. 3-76, Nr. 8, Mai 1900, S. 166-198, Nr. 9, Juni 1900, S. 255-310]. nach Kräften zur Dramatik. Jetzt habe ich nur noch einen
MonatWedekind, wegen Majestätsbeleidigung auf der Festung Königstein inhaftiert, hatte noch fünf Wochen Festungshaft vor sich, bevor er am 3.2.1900 aus ihr entlassen wurde. vor mir. Voraussichtlich komme ich wenige Tage nach meiner Entlassung
nach MünchenWedekind verbrachte nach der Entlassung aus der Festungshaft am 3.2.1900 zunächst einige Tage in Dresden und anschließend in Leipzig, wo er bis zum 14. oder 15.2.1900 blieb [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900], und reiste von dort nach München, um sich eine Wohnung zu suchen. und werde dem dortigen GetratschWedekind hatte bereits in einem früheren Brief von „Klatschereien“ [Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 2.11.1899] über ihn gesprochen. Dazu bemerkte Fritz Strich: „Man warf Wedekind von seiten des Simplicissimus vor, dass er vor Gericht in Leipzig seine Schuld auf Albert Langen abzuwälzen versucht habe.“ [GB 2, S. 357] über mich ein jähes Ende
bereiten. Vorläufig aber ist es besser, noch das Maul zu halten. Mit der „Insel“
stehe ich auf sehr gutem Fußmit der vor kurzem gegründeten Monatsschrift „Die Insel“, herausgegeben von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder, in der im Vorabdruck „Marquis von Keith“ erscheinen sollte (siehe oben), wie er bereits vereinbart hatte [vgl. Wedekind an Beate Heine, 28.12.1899].; Bierbaum scheint immer noch der alte liebe Kerl
zu sein.
Neuigkeiten weiß ich natürlich keine. Dein Wunsch, ich möchte in
München nicht von neuem in Geldverlegenheiten gerathen, scheint sich bestätigen
zu wollen. Ich habe thatsächlich die besten AussichtenWedekinds Tante Auguste Bansen, die jüngste Schwester seines Vaters, war am 15.12.1899 in Hannover kinderlos gestorben, so dass die Neffen und Nichten auf ein Erbe hofften [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 199f.]. , soweit ich es ermessen
kann. Im Sommer soll der Kammersänger in WienWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ (1899), der am 10.12.1899 unter der Regie von Martin Zickel im Rahmen der Eröffnungsmatinee der Sezessionsbühne am Neuen Theater in Berlin uraufgeführt worden ist, hatte am 21.7.1900 am Theater in der Josefstadt in Wien Premiere, ein „Ensemble-Gastspiel der Berliner Secessionsbühne. Leitung: Paul Martin“ [Wiener Allgemeine Zeitung, Nr. 6710, 21.7.1900, S. 8]; weitere Vorstellungen fanden am 22. und 23.7.1900 statt. gegeben werden. Auf alle Fälle
habe ich die Partie selbst studirtdie Titelrolle des Gerardo im Einakter „Der Kammersänger“, die in Wien (siehe oben) von Rudolf Christians gespielt wurde. Wedekind trat als Gerardo erstmals am 8.10.1900 im Rahmen des Gastspiels von Carl Heines Ibsen-Theater am Königlichen Schauspielhaus in Rotterdam auf.. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich über
kurz oder lang wieder eine TournéeWedekind, der im Vorjahr als Ensemblemitglied mit Carl Heines Ibsen-Theater auf Tournee war (März bis Juni 1898), nahm an der nächsten Gastspielreise von Carl Heines Ensemble nicht teil, traf Carl Heine aber auf einer Station dieser Tournee in Leipzig [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]. mit Dr. Heine mitmache.
Grüße Halbe, wenn Du ihn siehst. Mit Freude las ich vom Erfolg
seiner HeimatlosenMax Halbes Drama „Die Heimatlosen“ (1899), am 22.2.1899 am Berliner Lessingtheater uraufgeführt, hatte am 27.12.1899 im Münchner Schauspielhaus Premiere [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 595, 26.12.1899, General-Anzeiger, S. 1] und „fand eine sehr beifällige Aufnahme“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 597, 28.12.1899, Morgenblatt, S. 3], aber in der konservativen Theaterkritik auch eher Ablehnung [vgl. Allgemeine Zeitung, Jg. 102, Nr. 359, 28.12.1899, Abendblatt, S. 1]. Wedekind dürfte die ausführliche Besprechung von Edgar Steiger in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ gelesen haben (im Vorabendblatt vordatiert, am 28.12.1899 erschienen), deren Auftakt lautet: „Es gibt dramatische Dichtungen, in die man sich schon um des ersten Aktes willen verlieben könnte. [...] weil gleich das erste Bild, das der Dichter vor uns entrollt, in Zeichnung, Farbe und Perspektive so vollendet ist, daß wir uns am bloßen Anfang schon wie an einem abgeschlossenen Kunstwerk erbauen. Ich weiß nicht, ob es gestern, Mittwoch, im Münchner Schauspielhaus Anderen auch so ergangen ist wie mir. Aber von mir darf ich es ruhig sagen, daß mich selten im Theater eine so stille, ruhige Freude beherrschte, wie während der ersten Szenen von Halbes ‚Heimatlosen‘. Ich spürte, daß hier ein Dichter zu mir rede, der mit allen Mitteln moderner Technik gleichsam spielt, weil er ihre innersten Geheimnisse und ihre feinsten Wirkungen von vornherein kennt.“ [Edgar Steiger: Die Heimatlosen. Drama in fünf Aufzügen von Max Halbe. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 598, 29.12.1899, Vorabendblatt, S. 2-3, hier S. 2]. Sei mir nicht böse, daß ich nicht mehr zu schreiben habe,
meine geistigen Einnahmen beschränken sich auf die Zeitung. Ich freue mich auf
die Freiheit, die mir jetzt jeden Tag näher rückt. Leider werde ich hier wieder
dick. In Leipzigwährend der Haft im Gefängnis in Leipzig vom 2.6.1899 bis 21.9.1899, bevor Wedekind, zu Festungshaft begnadigt, auf die Festung Königstein überführt wurde. hatte ich mir eine Elfentaille zugelegt, mit der ich hoffte
Eroberungen machen zu können. Aber das ist nun wieder Essig.
Mit den herzlichsten Grüßen und aufrichtigsten Wünschen bin ich
Dein alter treuer
Frank.