Leipzig, 27.VII.1899.
(Untersuchungshaft)erläuternder Zusatz im Erstdruck des Briefs. Wedekind hatte sich am Abend des 2.6.1899 in Leipzig den Behörden gestellt, saß seitdem in Untersuchungshaft in der „Gefangen-Anstalt Leipzig“ [Leipziger Adreß-Buch für 1899, Teil II, S. 39] und wartete auf seine Verhandlung wegen Majestätsbeleidigung in der „Simplicissimus“-Affäre [vgl. KSA 1/II, S. 1710].
Lieber Richard,
mit dem besten Willen konnte ich Dir auf Deine erregten Zeilenvgl. Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 20.7.1899. nicht früher antworten. Allerdings hätte ich Dir früher einmal schreiben sollen, aber ich hoffte ja immer nur auf die Entscheidungin Wedekinds Strafverfahren wegen Majestätsbeleidigung (siehe unten)., die ich viel näher glaubte.
Zur Hauptsache: Zu Deiner Erregung hast Du nicht die geringste Ursache. Ich halte mich an Thatsachen:
Der Tag beginnt um 6 Uhr Morgens. Um 8 Uhr Kaffee | mit Semmel! 10–11 Aufenthalt im Freien. Um 12 Uhr ein gut bürgerliches Mittagsmahl aus dem nächsten Restaurant. Darauf eine delikate Habanakubanische Zigarre.! Um 7 Uhr Abendessen. Um 9 Uhr Schlafengehen. Mittags und Abends je eine Halbe Münchnerein halber Maßkrug Münchner Bier (etwa ein halber Liter).. Dabei „Leipziger Tageblatt“, die Erlaubnis, für mich zu schreiben, was mir einfällt und eine Menge Lectüre. Du siehst, es geht mir durchaus nicht schlecht; ich schrieb nur noch nicht, weil ich von Tag zu Tag die Verhandlung erwartete. Nun mußte aber mein VertheidigerKurt Hezel, der Wedekind freundschaftlich verbundene Rechtsanwalt in Leipzig [vgl. Wedekind an Beate Heine, 15.12.1898], hat ihn am 3.8.1899 in der Gerichtsverhandlung wegen Majestätsbeleidigung verteidigt [vgl. Wedekind an Beate Heine, 22.9.1899]. nothwendig die Festspiele in BayreuthDie Bayreuther Festspiele zum Werk des Komponisten Richard Wagner, die 1898 nicht stattgefunden hatten, wurden am 22.7.1899 eröffnet. besuchen und reichte eine Eingabe um Verschiebung der Verhandlung ein. Die Verhandlung findet heute in acht Tagen, nächsten Donnerstagder 3.8.1899, an dem Wedekinds Gerichtsverhandlung stattfand: „Am 3. d. M. stand der Schriftsteller Benjamin Franklin Wedekind aus Hannover wegen Majestätsbeleidigung vor der Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu Leipzig. Das Leipziger Tageblatt berichtet darüber, wie folgt: Es handelte sich um die Veröffentlichung zweier die Palästinafahrt des Kaisers behandelnder Gedichte, deren Verfasser Wedekind ist. Diese wurden im Oktober 1898 unter dem Titel ‚Im heiligen Lande‘ und ‚Eine Palästinafahrt‘ in Nr. 31 und 32 der illustrierten Wochenschrift ‚Simplicissimus‘ veröffentlicht, deren Verleger, Albert Langen in München, nach Paris geflüchtet ist. Auch Wedekind, der zuletzt in München gelebt hat, zog es zunächst vor, sich durch die Flucht nach Paris der Bestrafung zu entziehen, ist aber vor kurzem zurückgekehrt und hat sich freiwillig der Staatsanwaltschaft gestellt. [...] Nach Feststellung der Personalien wurde auf Antrag des Oberstaatsanwalts die Oeffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit für die ganze Dauer der Sitzung ausgeschlossen. Das von dem Vorsitzenden Herrn Landgerichtsrat Adam verkündete Urteil lautete auf sieben Monate Gefängnis, wovon ein Monat auf die erlittene Untersuchungshaft in Anrechnung kam. Zu seinen Gunsten wurde seine bisherige Unbescholtenheit angenommen, zu Ungunsten Wedekinds, daß die Beleidigungen, die er geradezu geschäftsmäßig betrieben habe, sehr schwere seien“ [Zur Majestätsbeleidigung des Simplicissimus. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandels, Nr. 180, 5.8.1899, S. 5594]., statt. Denk ein klein wenig an mich; das wird mir Glück bringen.
Ich freue mich ungemein über Deine Unternehmungendas Komponieren von Opern.. Ich kenne keine der Opern, sehe aber aus allem, daß du in vollem Zug bist. Glück auf! Ich habe von hier aus nur mit Dr. Heine correspondirtWedekinds Korrespondenz mit Carl Heine ist nur teilweise überliefert, aus der Zeit der Untersuchungshaft nur zwei Briefe [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.6.1899; Carl Heine, Beate Heine an Wedekind, 21.7.1899]., der eventuell auch nach München kommt, das könnte für uns alle drei von großem Vortheil sein. Es ist, mag kommen was wolle, entschieden besser so, als wenn wir uns in Paris wiedergesehen hätten diesen Sommer. Ich war in Paris ein verhetzter, ungenießbarer Mensch. Es ist mir faktisch hier im Gefängnis noch nicht so trostlos zu Muthe gewesen wie während der Zeit in Zürich und ParisWedekinds Exilzeit seit dem 31.10.1898.. Außerdem ist Paris jetzt häßlich. Nach der AusstellungWedekind hat sich auch in einem anderen Brief über die das Stadtbild prägenden Vorbereitungen zur Weltausstellung in Paris, die vom 15.4.1900 bis 12.11.1900 stattfand, ein Großereignis mit Millionen Besuchern, kritisch geäußert [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.6.1899]. wird es wieder so sein wie wir es vor 10 Jahren gekannt.
Es geht mir also wie gesagt sehr erträglich. Es wäre undankbar, wenn ich das nicht anerkennen wollte. Ich habe nur meine Correspondenznicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an „Simplicissimus“, 27.7.1899. mit dem Simplicissimus so eingerichtet, daß man dort überhaupt nichts | über mich zu sagen weiß, sonst geht die Renomistereirecte: Renommisterei (= Schaumschlägerei, Maulheldentum). wieder los. Ich wälze gegenwärtig einige ernste größere Charakterschilderungennicht ermittelt. zu Rezitationszwecken im Kopf herum, damit ich etwas zum Wiederanfangen habe, wenn ich herauskomme. Es ist mir bis jetzt aber noch nichts geglückt.
Grüße Max Halbe herzlich, ebenso Lotte, wenn Du so mit ihr stehst, wie ich aus eurer lieben Rathskellerkartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel, Max Halbe, Lotte Dreßler, Anton Dreßler, Julius Schaumberger an Wedekind, 22.7.1899. Die Postkarte oder Bildpostkarte wurde im Münchner Ratskeller geschrieben, nach dem letzten Brief des Freundes, der „erste seit meiner Rückkehr von Italien“ [Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 20.7.1899], und vielleicht zu Wedekinds 35. Geburtstag am 24.7.1899. zu meiner Freude entnehmen zu dürfen glaube. Dann auch Anton und Schaumberger.
Seit ich hier bin hatte ich nur einmal BesuchCarl Heine hat Wedekind an einem der ersten Tage nach dem 2.6.1899 im Gefängnis in Leipzig besucht; wann genau ist unklar. und zwar von Dr. Heine, der mich gleich in den ersten Tagen auf der Durchreise besuchte. Sonst herrscht natürlich etwas Eintönigkeit, aber es muß nun einmal überstanden werden. Gräme Dich nur nicht um mich, Du hast keine Ursache, dagegen danke ich Dir herzlich für Deine lieben Zeilen. Wenn Du nach der Entscheidung keine Nachricht von mir erhältst, dann schreibe mir bitte wieder gelegentlich.
Mit den besten Grüßen und Wünschen in alter Treue Dein
Frank.
Seit einigen Tagen bewohne ich auch eine luftigere Zelle, mit drei
großen Fenstern, in der ich mich reichlich bewegen kann.