Paris, 49 rue Bonaparte. 24.II.1899.
Lieber Freund,
gestern bin ich mit meiner gottverfluchten Arbeit fertig gewordenWedekind hat am 23.2.1899 in Paris die erste vollständige Fassung seines Dramas „Ein gefallener Teufel“ fertiggestellt [vgl. KSA 4, S. 413]; später arbeitete er es zu dem Stück „Marquis von Keith“ (1901) um.. Mein erstes ist es, Dir den Kammersänger zu schickenWedekind legte dem Brief die Erstausgabe seines Einakters „Der Kammersänger“ (1899) bei, die im Albert Langen Verlag in München gedruckt vorlag [vgl. KSA 4, S. 332], aber erst später als Neuerscheinung angezeigt war [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 57, 10.3.1899, S. 1886]. und Dich zu fragen, wie es Dir geht. In Gedanken bin ich sehr viel bei Dir in München und ich habe auch die Zuversicht, daß ich über kurz oder lang in Wirklichkeit wieder dort sein werde. Ich wohne hier in dem nämlichen Hotelim Hôtel Saint-Georges (Rue Bonaparte 49) [vgl. Paris-Adresses 1898, S. 1088], in dem seinerzeit Käthe Juncker (siehe unten) gewohnt hatte und nun Wedekind logierte., in dem wir im Jahre 91 oder 92 mehrmals bei Katharina Junkerbei der befreundeten Malerin Käthe Juncker, die Wedekind seinerzeit in Paris porträtiert hat [vgl. Wedekind an Käthe Juncker, 13.4.1891] (das 1891 in „Frühlings Erwachen“ abgebildete Porträt); im Pariser Tagebuch – er nannte sie dort überwiegend Katja und notierte zum Beispiel am 24.5.1892: „Am Nachmittag gehe ich in’s Hotel St. George finde Katja allein“ [Tb] – erwähnte er gemeinsame Treffen mit ihr und Hans Richard Weinhöppel [vgl. Tb 30.4.1892, 1.5.1892, 3.5.1892, 8.5.1892]. zum Kaffe waren, wenn Du Dich dessen noch erinnerst. Erlebt habe ich hier noch so gut wie gar nichts, habe aber das Gefühl, daß jetzt irgend etwas Großes geschehen wird, was, das kann ich mir noch nicht recht vorstellen.
Vor einigen Tagen erhielt ich einen Brief von Martensvgl. Kurt Martens an Wedekind, 5.2.1899. Kurt Martens teilte Wedekind nicht nur seine Verlobung mit Mary Fischer mit, sondern erwähnte auch, er habe Wedekinds Pariser Adresse am 4.2.1899 von Hans Richard Weinhöppel erhalten. mit seiner Verlobungsanzeige. Er ist entschieden ein netter lieber Bengel. Ich schloß daraus, daß ihr öfter zusammen seid. Ich werde ihm auch dieser Tage gratuliren, wenn es Gottes Wille ist. Panizza vervollkommnet sich hier mehr und mehr in seiner Verrücktheit. Vor mehreren Wochen hatte er eine überaus taktlose CarteDie Postkarte oder Bildpostkarte von Oskar Panizza an Hans Richard Weinhöppel ist nicht überliefert. an Dich fabricirt und forderte mich auf, meinen Namen darauf zu setzen. Ich konnte mich nicht dazu entschließen aus Furcht, Du möchtest denken, der Inhalt beruhe auf Klatschereien meinerseits. – Nach Frida und DonaldFrida Strindberg und Donald Wedekind waren „kurzfristig liiert“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 191]. frage ich Dich nicht mehr. Ich weiß wie die Sachen liegen und bedaure nur, daß Du für all Deine Herzensgüte ein so undankbares Absatzgebiet gefunden hast.
Ich hoffe, daß Du mir in München nicht untreu wirst. Grüße immerhin Halbe, Martens, Weber, OehlschlegerDr. phil. Hermann Oelschläger in München (Giselastraße 21), ausgewiesen als „Privatmann“ [Adreßbuch von München auf das Jahr 1899, Teil I, S. 388], Schriftsteller [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1899, Teil II, Sp. 991], der „seinen Aufenthalt wieder dauernd in München genommen“ [Paul Heyse: Das literarische München. 25 Porträtskizzen. München (1899), S. 4f.] hatte., wenn Du sie siehst, aufs herzlichste. Vor acht Tagenam 16.2.1899, an dem Wedekind gemeinsam mit Albert Langen, Willy Gretor und Robert Strakosch (siehe unten) das Casino de Paris (Rue de Clichy 16-18) [vgl. Paris-Adresses 1898, S. 1362] besuchte. war ich mit Langen, Grétor, und dem ehemaligen ImpresarioRobert Strakosch, der als Impresario der berühmten Operndiva Adelina Patti bekannt gewesen ist (sie war seine Schwägerin) [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 10.1.1899]. der Adeline Patti, Strakosch, im Casino de Paris. Welch eine tötlicherecte: tödliche. Langeweile im Vergleich zu jenen goldenen TagenWedekind hatte den Freund 1892 während ihres gemeinsamen Aufenthalts in Paris in das Casino de Paris (siehe oben), eine der ältesten und berühmtesten Konzerthallen der Stadt, eingeführt: „Ich führte ihn [...] ins Casino de Paris“ [Wedekind an Michael Georg Conrad, 13.5.1892]; sie haben das Etablissement dann wohl regelmäßig gemeinsam aufgesucht [vgl. Tb 13.6.1892]., da wir uns dort zusammen amüsirten.
Ich schreibe diese Zeilen bei offnem Fenster; draußen das herrlichste Frühlingswetter. In den Champs Elisées beginnen die Bäume Blätter zu bekommen und auch ich schlage an allen Enden und Ecken aus.
Und nun leb wohl, lieber Freund. Laß mir bald eine erfreuliche Nachricht von Dir zukommen, vielleicht auch eine VerlobungsanzeigeHans Richard Weinhöppel war mit der „Amerikanerin Stella Brokow“ [KSA 4, S. 662] liiert, seine spätere erste Ehefrau (Heirat 1900 in London, Scheidung 1906), die bei seiner Rückkehr aus den USA 1896 mit nach München kam, wie Max Halbe sich erinnerte: „Als er zurückkam, brachte er sich von drüben eine Frau mit, die in unserem Kreise sehr bald als der Typus der Amerikanerin [...] galt. [...] die Ehe wurde [...] später geschieden.“ [Halbe 1935, S. 315]. Vor allem bleib gesund und guten Muthes und sei aufs herzlichste gegrüßt von Deinem alten treuen
Frank.