Lieber Wedekind! Langheinrich sagt mir, Du hättest mein
NichterscheinenWedekind, im Streit mit Max Halbe [vgl. Wedekind an Max Halbe, 30.5.1903], ist am 14.7.1903 von München in den Urlaub nach Lenzburg abgereist – „Wedekind reist morgen ab“ [Tb Halbe, 13.7.1903] – und feierte den Abend zuvor, am 13.7.1903 in München in seinem Stammlokal, der Torggelhaus (Platzl 8) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1903, Teil I, S. 67] oder Torggelstube [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1903, Handels- und Gewerbe-Adreßbuch, S. 328] genannten Weinwirtschaft neben dem Hofbräuhaus, seinen Abschied vom Freundeskreis, zu dem der mit Max Halbe befreundete Eduard von Keyserling nicht erschien, vermutlich aus Solidarität mit dem Freund, wie dieser am 14.7.1903 notierte: „Ich habe W. nicht mehr gesehen, hat gestern in der Torggelstube Abschiedscour gehalten. Keyserling ging nicht hin.“ [Tb Halbe] in der Torgelstube übelgenommen.
Das thäte mir leid. Als einwandfreiSchreibversehen, statt: einwandfreie. Entschuldigung könnte ich anführen, daß mir
so übel war, daß ich den ganzen Abendam 13.7.1903 (siehe oben). zwei Kirschwasser
mühsam trank, und der Gedanke an den Gräzerein Kräuterlikör [vgl. Gräbner/Lauinger 2021, S. 315]; vielleicht ist auch Grätzer ‒ ein Weißbier mit rauchig bitterem Geschmack – gemeint: „Unter den obergärigen Bieren gibt es [...] Sorten, die weit über die Grenzen ihres Herstellungsgebietes hinaus guten Absatz finden, wie [...] das Grätzer Bier. Dieses in Grätz (Provinz Posen) hergestellte, aber auch in einigen anderen Orten nachgeahmte Gebräu ist ein dauerhaftes Weizenbier von hellgelber Farbe und eigentümlich rauchigem Geschmack, der daher rührt, daß man das Weizenmalz auf der Darre vom Rauch der Eichenholzfeuerung durchziehen läßt.“ [Brauer- und Hopfen-Zeitung Gambrinus, Jg. 31, Nr. 2, 15.1.1904, S. 47] mir Schauer über den Magen laufen ließ. Aber wäre dem auch nicht
so. Nicht die Stimmung haben in ein Lokal zu gehen,
ist doch für Dich selbst stets ein ausschlaggebendes Motiv gewesen. | Umso
mehr, als keiner von uns so gefühlvoll ist, daß er den Abend vor der Abreise in
die SommerfrischeWedekind ist am 14.7.1903 in die Sommerferien nach Lenzburg abgereist (siehe oben). besonders feierlich nimmt, sodaß das Nichterscheinen an solch einem Abend eine Demonstration bedeuten könnte. Den kleinen Arabesken des Lebens legen wir
alle wohl nur dann eine unverdiente Bedeutung bei, wenn wir ein wenig nervöse
sind. Wenn Du in letzter Zeit dazu
neigtest, so kamst Du wohl einem augenblicklichen Bedürfniß Deines
Geistes nach, die Kleinigkeiten des Lebens in einSchreibversehen, statt: eine. Art Er|lebniß umzucomponieren Daß dieser Geist mir lieb und werthvoll ist weißt Du.
Daß ich nicht gesonnen bin ihm in allen seinen Kompositionen Gefolgschaft zu
leisten, haben wir besprochenEduard von Keyserling dürfte zuletzt am 6.7.1903 mit Wedekind zusammen gewesen sein, wie Max Halbe notierte: „Abends mit Keyserling, Wedekind u.s.w“ [Tb Halbe]. Bei so klaren Verhältnissen könnten eigentlich Mißverständnisse
vermieden werden, besonders, da
Mißverständnisse stets das UninteressansteSchreibversehen, statt: Uninteressanteste.
im Leben sind.
Ich hoffe Deine alte HeimathLenzburg im Kanton Aargau in der Schweiz, wo Wedekind Kindheit und Jugend verbracht hatte.
gefällt Dir wieder. Solche Jugendorte sind erfrischend, in denen es keinen Mauerwinkel giebt, in den wir nicht hineingepistSchreibversehen, statt: hineingepisst. haben, und
kei|ne Stadtecke die uns nicht an einen dummen Streich erinnert.
Hier geht Alles auseinander. Ich ziehe wohl
nach TölzEduard von Keyserling reiste zur Erholung nach Tölz, von wo aus er am 22.8.1903 an Max Halbe schrieb, Kurt Martens sei auch dort, „um sich von ‚den rauchigen Kneipen und von den Paradoxa von Wedekind‘ zu erholen.“ [Gräbner/Lauinger 2021, S. 316] mich aufpolieren. Zu Luisens GeburtstagLuise Halbe hatte am 14.7.1903 Geburtstag, der abends gefeiert wurde, wie Max Halbe notierte: „Luise heute 36 Jahre alt. Große Abendgesellschaft mit 20 Personen, u.a. Onkel Albert, Trude u. den Freunden des Hauses. Angenehmer Verlauf.“ [Tb Halbe] war noch eine
allgemeine Versammlung. Selbst Claressenicht identifiziert (vermutlich ein Kind aus der Verwandtschaft von Luise und Max Halbe). war da, jeder Zoll ein Kind. Langheinrich verhandelt mit
den ScharfrichternDie Elf Scharfrichter waren unter der Direktion von Marc Henry (Musikdirektor: Hannes Ruch alias Hans Richard Weinhöppel, Bürochef: Heinrich Lautensack) um diese Zeit noch fest als Bühne etabliert [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 444]. Max Langheinrich, Architekt in München (Theresienstraße 31) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1903, Teil I, S. 369] und Freund Wedekinds, war Mitbegründer der Elf Scharfrichter (Pseudonym: Max Knax) und hatte seinerzeit den Bühnenraum (Türkenstraße 28) des Kabaretts entworfen. Der „nach den Plänen des Herrn Architekten Max Langheinrich errichtete Theaterbau“ [Die elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 19, 12.1.1901, Vorabendblatt, S. 2] war vor der Eröffnung des Überbrettls für die Presse ein Thema, die von dem „originellen Bau“ [Die elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 53, Nr. 561, 4.12.1900, Vorabendblatt, S. 3] beeindruckt war; die aktuellen Bau- oder Umbaupläne wurden wohl nicht realisiert.. Er soll glaube
ich bauen. Und große Überraschungen stehen bevor. Richard fuhr in einem Wagen an mir
vorüber schlank, jung und talentvoll.
Das sind die Ereignisse des sterbenden
münchner Lebens. Man sieht
sich hoffentlich erfrischt wieder. Mit bestem Gruß
E v Keyserling.