DONALD
WEDEKIND
BERLIN-FRIEDENAU
FRIEDRICH WILHELMPLATZ 6
Berlin-Schöneberg
86. Hauptstraße
d. 11. April 1904.
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Lieber Frank!
Wenn ich dir nie geschrieben habe, so war das nicht
deswegen, weil ich nicht so und so oft an dich gedacht, sondern eher die Folge
einer Schreibfaulheit, die krankhaft zu nennen wäre, wäre ich nicht
zufälligerweise
Schriftsteller. Außerdem erwartete ich dich eine ganze Zeit lang hier in Berlin
anläßlich deiner PremièreDie Berliner Premiere von „So ist das Leben“ fand am 27.11.1903 am Neuen Theater (Direktion: Max Reinhardt) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 245] unter der Regie von Richard Vallentin) statt [vgl. KSA 4, S. 632, 637f.]. Die Berliner Aufführung besuchte Frank Wedekind nicht.Die Berliner Premiere von „So ist das Leben“ fand am 27.11.1903 am Neuen Theater (Direktion: Max Reinhardt) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 245] unter der Regie von Richard Vallentin) statt [vgl. KSA 4, S. 632, 637f.]. Die Berliner Aufführung besuchte Frank Wedekind nicht. „So ist das Leben“. |
Wenn ich jetzt an dich schreibe, so ist es allerdings
auch wieder aus jenem bekannten GrundeEmma Herwegh, die Witwe von Georg Herwegh, mit der Frank Wedekind während seines Paris-Aufenthalts engen Umgang pflegte [vgl. Tb], musste sich von ihren Freunden und Bekannten regelmäßig Geld leihen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Auch Wedekinds Mutter schreib sie um Geld an [vgl. Tb, 10.9.1893; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.9.1893]., aus welchem die Tochter unserer gemeinsamen Bekannten, der nunmehr
endlich verstorbenen WitweEmma Herwegh war am 24.3.1904 in Paris im Alter von 86 Jahren gestorben. Herwegh die Briefe ihrer Mutter unbeantwortet ließ,
ein Beispiel, das von dir nachgeahmt zu sehen ich nicht erwarte. Es handelt
sich nämlich um eine ConsolidirungFestigung, Sicherung. meiner Existenz auf einige Wochen, damit ich
in die Materie meines neuen RomansDas Projekt mit dem Titel „Berlin“ blieb Fragment [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 2.2.1908]. Ein weiterer Roman Donald Wedekinds nach dem 1903 publizierten „Ultra montes“ ist nicht erschienen. hineinkomme, um dann in derselben, mit
eigener Ü|berwindung späterer Schwierigkeiten sicher fort arbeiten zu können
und das Manuscript bis Ende September bereit liegen zu haben. Augenblicklich stehen mir die Forderungen,
die die Befriedigung der notwendigsten Lebensbedürfnisse an eins stellt, zu
dicht am Leibe, als daß ich fremder Hülfe entbehren könnte. Ich mußte zu Anfang
dieses Monats einen Umzugvon Friedenau (Friedrich-Wilhelmplatz 6) nach Schöneberg (Hauptstraße 86). bewerkstelligen, hatte dazu das Unglück, einen
Auftrag aus der Schweiznicht ermittelt; Donald Wedekind schrieb gelegentlich Korrespondenzen und Reiseberichte für die „Züricher Post“ und die „Neue Zürcher Zeitung“., womit ich sicher rechnete, zu Wasser werden zu sehen,
so daß ich so eigentlich aus meinem Programm heraus|gerissen wurde. Willst und
kannst du mir durch Übersendung einer größeren oder kleineren Summe dazu
verhelfen, daß ich mich wieder hineinfinde? Oder weißt du einen Rat, wie ich
mit deiner Hülfe hier in Berlin etwas Geld auftreibe, insofern du selbst der
Mittel entblößt sein solltest?
Lieber Frank, die Tatsache, daß ich mich an dich
wende, geschieht natürlich erst nach reiflicher Überlegung und nachdem ich zu dem Schluß gekommen bin, daß
andere Auswege im Moment nicht vorhanden sind. Ich könnte, aber wahrscheinlich
ohne Erfolg, Mieze | in Anspruch zu nehmen versuchen, und würde damit eine
Hülfe, mit der ich
späterhin gewiß wieder rechnen darf, noch auf weitere Zeit hinaus in Frage
stellen. Anderseits weiß ich, daß du für meine Lage mehr Verständnis hast als
Mieze, die ihren Weg unter besonders günstigen Umständen zurückgelegt hat und
der für die Zickzackform
gewisser nichts desto weniger sicherer Werdegänge einfach die Begriffe fehlen.
Denn wenn | ich heute noch, wie meistens seit dem
Augenblick, da das väterliche Erbe erschöpft war, an der Notleine der CharitasCaritas (lat.) die helfende Liebe, Wohltätigkeit.
schwimme, so weiß und fühle ich doch, wie sich meine persönliche Stellung hier in Berlin und meine
andere in dem ganzen Weltgetriebe immer mehr befestigt, ohne dieses Bewußtsein
würde ich die Schwierigkeiten der letzten drei Monate nicht überwunden haben. Bleibe ich gesund, so
werde ich siegen, wie du, ohne von den Mühseligkeiten des Lebens ver|schont
geblieben zu sein, in gewissem Sinne schon siegreich geworden bist.
Und in diesem Sinne, lieber Frank, grüße ich dich von ganzem Herzen
und bin in Erwartung deiner Antwort dein treuer Bruder
Donald
P. S. Deinen Ratschlägen von letztem Sommer habe ich nach bestem
Vermögen nachgelebt. Von „Bébé Rose“ (wie der gemeinsame TitelDonald Wedekinds Novellensammlungen „Das rote Röckchen“ (in Berlin bei Steinitz 1895 erschienen) und „Bébé Rose“ (in Dresden bei Otto Cäsar 1901), in der 2. Auflage als „Bébé Rose oder Das interessante Buch. Erzählungen und Skizzen“ (in Zürich bei Caesar Schmidt 1901), kam 1904 unter dem Titel: „Bébé Rose (Das rote Röckchen). 24 Erzählungen und Skizzen“ als „Dritte Auflage“ im Verlag von Caesar Schmidt in Zürich heraus, verspätet erst im Sommer als erschienen gemeldet [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 71, Nr. 137, 16.6.1904, S. 5223], aber bereits früher in den Listen der Neuerscheinungen [vgl. Neues Wiener Abendblatt. Jg. 38, Nr. 149, 30.5.1904, S. 8]; die Sammlung enthielt jedoch tatsächlich nur 16 Erzählungen, da aus „Bébé Rose“ nur 10 von 18 Erzählungen übernommen wurden. für die vereinigten
Bände „Bébé Rose“ und „Rotes Röckchen“ lautet) ist die III. | Auflage als
Volksausgabe erschienen. Nochmals herzlichen Gruß und Grüße an alle Münchener.