Zürich, 29.XI.1898.
Lieber Freund,
Herzlichen Dank für deine beiden Briefenicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 15.11.1898 und 22.11.1898., die ich bis heute nicht
beantwortete, weil ich täglich mit L.Wedekind traf sich in Zürich täglich mit seinem Verleger Albert Langen [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 14.11.1898].(angen)Ergänzung des Herausgebers im Erstdruck des Briefs. zusammen bin, der mich in der
unerträglichsten Weise enervirt. Wenn das nicht wäre, ginge es mir
ausgezeichnet. Voraussichtlich werde ich auch in einigen WochenWedekind reiste am 22.12.1898 von Zürich nach Paris [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899]. nach Paris
verschwinden. Ganz unter uns, ich bitte dich es niemandem zu sagen, ich habe
auf ein Jahr einen Vertrag mit ihmWedekind hat mit Albert Langen in Zürich am 18.11.1898 einen Vertrag geschlossen, in dem es heißt („§.1“): „Herr Langen garantirt Herrn Wedekind ein monatliches Fixum von M. 300,– für die Dauer eines Jahres beginnend ab 1. December 1898.“ [Mü, L 3477/38] zu M 300 monatlich. Dadurch bin ich
gesichert und werde Donald auch eventuell helfen können.
Von Stollberg bekam ich eines Tages einen 10 Seiten langen ……Auslassung des Herausgebers im Erstdruck des Briefs. Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Georg Stollberg an Wedekind, 18.11.1898. Wedekind hat den Brief am 19.11.1898 erhalten [vgl. Wedekind an Max Halbe, 20.11.1898]., in dem er mir mit einer Gehässigkeit
sonder gleichen die Mordgeschichteder Vorfall mit Donald Wedekind in München (siehe unten). erzählte. Ich antwortete ihm umgehend und
zwar mit der einzigen Absicht, ihm für diese und jene Welt über den VorfallDonald Wedekind hat sich Georg Stollbergs Gattin Grete Stollberg gegenüber ungebührlich betragen (vermutlich ein verbaler oder tätlicher sexueller Übergriff) [vgl. Wedekind an Georg Stollberg, 21.11.1898], sie möglicherweise „sexuell belästigt“ [Buchmayr 2011, S. 202], ein Vorfall jedenfalls, der Georg Stollberg äußerst erzürnt und dazu veranlasst hat, die nach Frank Wedekinds Flucht nach Zürich frei gewordene Stelle als Theatersekretär am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) nicht mit dem Bruder Donald Wedekind als Nachfolger zu besetzen [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 14.11.1898]. das
Maul zu stopfen. In meiner Antwortvgl. Wedekind an Georg Stollberg, 21.11.1898. erwähnte ich die Thatsache, daß er in
München nach meiner Abreise sehr nachtheilig über mich gesprochen habe, fügte
aber ausdrücklich hinzu, daß ich die Nachricht weder von dirnoch von Donald erhalten habe. Von Frida habe ich seit drei Wochenseit dem 8.11.1898. Wedekind dürfte den letzten Brief Frida Strindbergs allerdings am 14.11.1898 erhalten haben [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 14.11.1898]. nichts mehr
gehört. Ohne daß ich gerade untröstlich darüber wäre, durchkreuzen die
sonderbarsten Vermuthungen meinen Kopf.
Ich freue mich darüber, daß du dich in der Münchner Gesellschaft
entfaltest und beneide dich darum. Ich freue mich auch darüber, daß du Lanzen
für mich gebrochen hast; mehr noch würde ich mich freuen, wenn du in dieser
Gesellschaft Lanzen für dich selber brichst. Das Bild hinkt, denn ich meine nur
die eine Lanze Hasta virilis(lat.) männliche Lanze (hier metaphorisch für: Penis, männliches Glied)., bei der man schließlich auch nicht von Brechen
reden kann.
Paniza, der sehr nahe daran ist, seine letzte Unze Gehirn zu
verlieren, ist vor 8 Tagenam 21.11.1898. Oskar Panizza, dem Wedekind bald nach seiner Ankunft in Zürich begegnet ist [vgl. Oskar Panizza, Wedekind an Carl Heine, 2.11.1898] und oft mit ihm zusammenkam [vgl. Wedekind an Frida Strindberg, 4.11.1898], erhielt den Ausweisungsbeschluss aus Zürich zwar bereits am 27.10.1898 (siehe unten), reiste aber erst knapp einen Monat später von Zürich nach Paris ab, wie er in seiner Darstellung des Falls erklärte: „Dann packte ich Ende November meine Penaten und ging nach Paris.“ [Zürcher Diskußionen, Jg. 1 (1897/98), Nr. 12, S. S. 11] nach Paris abgereist, nachdem es ihm hier mit
Aufbietung seines ganzen Scharfsinnes gelungen war, ausgewiesen zu werdenOskar Panizza hatte am 27.10.1898 einen Ausweisungsbeschluss des Regierungsrates von Zürich erhalten, offiziell wegen seiner Kontakte zu einer minderjährigen Prostituierten, womöglich aber nur ein Verwand; die Ausweisung dürfte vielmehr im Zusammenhang mit den Maßnahmen gegen unliebsame Exilanten gestanden haben, welche die Schweizer Behörden nach dem tödlichen Attentat auf die österreichische Kaiserin Elisabeth (am 10.9.1898 in Genf) ergriffen [vgl. Bauer 1984, S. 198-200]. Panizza, der nach Paris gegangen ist, dokumentierte den Fall seiner Ausweisung aus Zürich und die Gerüchte darum ausführlich in seiner Zeitschrift, in der es heißt: „Der Herausgeber der ‚Zürcher Diskußionen‘ ist inzwischen aus Zürich ausgewiesen worden. [...] Hier die Tatsachen: Ende November oder Anfang Dezember des vorigen Jahres (1897) [...] traf ich in Zürich, wo den Sommer vorher die Prostituzion durch Volksbeschluß aufgehoben worden war, [...] wo auch das Ansprechen einer Dame im Sinne der freien Liebe bei Polizeibuße verboten ist, in der Dunkelheit der Bahnhofstraße zwei Damen, die mich ansprachen und einluden, ihnen in die Wohnung zu folgen. Da die Gegend, wohin sie mich einluden, [...] nicht gerade wolbeleumundet ist, [...] so folgte ich an diesem Abend der Einladung nicht, sondern frug die jüngere der beiden Damen [...] ob sie mich [...] in meiner Wohnung besuchen wolle; auf die bejahende Antwort übergab ich meine Karte und entfernte mich.“ Das Mädchen hat ihn aufgesucht, er habe „vier fotografische Akt-Aufnahmen“ von ihr gemacht und ihr „ein Exemplar“ geschenkt; er habe dann erfahren, sie sei gerade „15 Jahre alt geworden“ und merkte an: „Das Schweizer Gesetz schützt das Mädchen bis zum 15ten Lebensjahr.“ Er schilderte, von den Fotografien ausgehend, seine Verfolgung durch die Polizei bis zum Ausweisungsbeschluss, der in der Presse missverständlich begründet sei, worauf er reagierte: „Ich schrieb sofort [...] eine Notiz, ich sei formell wegen Uebertretung des Prostituzions-Gesetzes aus Zürich ausgewiesen, man dürfe aber getrost politische Motive als eigentliche Ursache annehmen. [...] Paris, rue des Abbesses, 13. Ende Dezember 1898. Oskar Panizza.“ [Zürcher Diskußionen, Jg. 1 (1897/98), Nr. 12, S. 6-11]. Ich
habe die Ueberzeugung, daß ihm das Kunststück auch in Paris gelingen wird und
er sein Ziel, berühmt zu werden, auf diese Weise endlich erreicht. Sobald L.
von hier abgereist ist, werde ich Mizerlnicht identifiziert (eine Frau, die vermutlich in München gelebt hatte und nun in Luzern war). Wedekind hatte schon früher geplant, sie in Luzern zu besuchen [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 14.11.1898], was er nicht realisierte. in Luzern besuchen, wo ein großer
Diplomatnicht sicher identifiziert; möglicherweise Ernst Normann-Schumann [vgl. Wedekind an Beate Heine, 12.11.1898], Journalist und ehemaliger Polizeiagent, der im Ruf stand, ein Hochstapler zu sein, in Preußen steckbrieflich „wegen wiederholter Majestätsbeleidigung“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 261, 25.6.1897, Morgen-Ausgabe, S. 10] gesucht wurde und inzwischen in Luzern lebte: „Normann-Schumann macht auch in Luzern einen großen Aufwand, bewohnt mit seiner Frau seine eigene, fürstlich eingerichtete Villa und prahlt noch immer mit seiner Kenntniß von allerlei Staatsgeheimnissen“ [Neues Wiener Journal, Nr. 1873, 19.8.1897, S. 4]. wohnt mit dem ich in Beziehungen treten werde.
An meinem Drama habe ich seit 14 Tagenseit dem 15.11.1898. Wedekind hat am 1.11.1898 in Zürich mit der „Niederschrift des vieraktig konzipierten Dramas ‚Ein Genußmensch‘“ [KSA 4, S. 411] begonnen (später in Paris neu konzipiert unter dem Titel „Ein gefallener Teufel“, dann: „Marquis von Keith“), das Fragment geblieben ist [vgl. KSA 4, S. 421]. keine Zeile mehr
gearbeitet. Die Zeit ist verloren, alles in Folge des Umganges mit diesem
Ungeheuer. Heute ist Gott sei Dank seine Frau eingetroffenDagny Langen (geb. Bjørnson), die Gattin Albert Langens, traf also am 29.11.1898 in Zürich ein. In München hatte sie zuletzt Besuch von Hedwig Pringsheim, die am 28.11.1898 „letzter Besuch bei Dagny“ [Tb Pringsheim] notierte und am 27.11.1898 „zu Dagny, wo alles in wilder Auflösung“ [Tb Pringsheim] festgehalten hatte. und ich habe für
einige Tage Ruhe. Du mußt es dem Stil meines Briefes anmerken, in welch
unbehaglicher Enervation ich mich befinde. N.B. haben wir in
diesen 14 Tagen jeden Abend Champagner gekneipt, Austern gefressen und uns mit
Weibern herumgetrieben. Welch eine Herrlichkeit hätte das für mich in anderer
Gesellschaft sein können.
Ich bitte dich, lieber Richard, vergiß mich nicht. Schreib mir
dann und wann wieder. Voraussichtlich ist ja jetzt der nächste Schauplatz
unseres Wiedersehens Paris. Daß des Lebens ungetheilte Freude keinem
Verfluchten zu theil wird, habe ich in diesen Tagen mehr denn je, erfahren.
Was Donald betrifft, so hat mich der Vorfall eigentlich mehr
gefreut als geärgert. Wenn man dem Leben so völlig apathisch gegenübersteht,
ist eine Unannehmlichkeit jedenfalls immer noch besser als wenn gar nichts
geschieht. Ich danke dir sehr dafür, daß du für ihn eingestanden bist und bitte
dich, ihn im Auge zu behalten. Daß es sehr schlimm mit ihm steht, habe ich auch
gesehen. Langen will ihm UebersetzungenDonald Wedekind hat erst später die Skizzen „Flirt“ von Marcel Prévost übersetzt [vgl. Marcel Prévost: Flirt. Einzig autorisierte Übersetzung aus dem Französischen von Donald Wedekind. München 1900], die im Albert Langen Verlag erschienen [vgl. Abret/Keel 1989, S. 200], wobei Korfiz Holm am 27.11.1900 gegenüber dem Verleger bemerkte, er mache in „seinen Übersetzungen [...] oft sehr grobe Böcke.“ [Abret/Keel 1989, S. 223] geben und hätte ihm schon zwei Bücher
geschickt, wenn seine Unterhandlungen über dieselben nicht gescheitert wären.
Ich bin eben im Begriff meine Arbeitdie Arbeit an seinem geplanten Drama (siehe oben). wieder aufzunehmen und
schrieb vorher an dich, um in gute Stimmung zu kommen. Ich fühle, daß das
Mittel gewirkt hat und danke dir dafür.
Herzliche Grüße an Frida und Donald. Mit 1000 Grüßen und den
besten Wünschen dein dir getreuer
Frank.