Zürich, 14.XI.1898.
Lieber Schatz,
Du findest doch immer eine originelle Art und Weise einen zu
überraschen. Daß mir Dein Doppelbriefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel, Irene Triesch an Wedekind, 13.11.1898. Der Inhalt des vorliegenden Briefes legt Irene Triesch (siehe unten) als Ko-Autorin des verschollenen Doppelbriefs (ein von zwei Personen verfasster Brief) nahe. getheilte Empfindungen verursachte,
kannst Du mir nicht verdenken. Ich wollte ich hätte sie hier, die klassische
Vorkämpferin unserer IdealeIrene Triesch, Schauspielerin am Stadttheater (Intendant: Emil Claar) in Frankfurt am Main [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 340], davor am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Emil Drach) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 469], hätte gerne die Hauptrolle bei der Münchner „Erdgeist“-Premiere gespielt, woraus nichts wurde. Wedekind bedauerte das mit ihr, da sie „sich sehr auf die Lulu gefreut hatte, ist mit der Rolle nach Frankfurt gereist und will am dortigen Stadttheater dafür sprechen“ [Wedekind an Beate Heine, 14.8.1898]. Er und sein Freund Hans Richard Weinhöppel, die beide an der Münchner Wochenschrift „Mephisto“ mitgewirkt hatten („unter ständiger Mitwirkung von [...] Frank Wedekind, Hans Richard“), in der die junge Künstlerin gefeiert wurde [vgl. Irene Triesch. In: Mephisto, Jg. 1, Nr. 8, 14.11.1896, S. 1], waren mit ihr schon bekannt, als sie Schauspielerin am Münchner Deutschen Theater war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1897, S. 444], wo sie dem Theaterzettel zufolge für die Eröffnung am 26.9.1896 unter der Direktion von Emil Meßthaler zu den neu engagierten Ensemblemitgliedern gehörte [vgl. Mephisto, Jg. 1, Nr. 1, 26.9.1896, S. 8], Mitglied war jenes „Theater der Modernen“ [Julius Schaumberger: Das „Deutsche Theater“ – ein „Theater der Modernen“. In: Mephisto, Jg. 1, Nr. 1, 26.9.1896, S. 1-2]., und Dich auch. Ueber meinen Gemüthszustand e. ct.
e. ct. wirst Du von Frida erfahrenvgl. Wedekind an Frida Strindberg, 4.11.1898. haben. Ich gäbe viel darum, wenn ich hier wenigstensallein und einsam wäre, statt dessen habe ich das
Vergnügen, Langen die Zeit zu vertreibenAlbert Langen, Verleger und Herausgeber des „Simplicissimus“, war wie Wedekind (siehe unten) ebenfalls aus München geflohen, um der Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen [vgl. Abret/Keel 1987, S. 61-73]. Er traf am 2.11.1898 in Zürich ein [vgl. Wedekind an Beate Heine, 12.11.1898] und auf seinen Autor, der darunter litt, von seinem Verleger „nicht loskommen“ [Wedekind an Frida Strindberg, 4.11.1898] zu können, nun im Exil erst recht von ihm abhängig zu sein. und mir einen Schwarm von
Schmeißfliegen (PreßbengelsJournalisten (abwertend). unterster Sorte) vom Leib zu halten.
Ich danke Dir sehr, daß Du mich über Stollberg orientirt
hast. Was er Dir sagte ist einfach gelogen und gilt ihm zum Vorwand, den Posten
nicht neu zu besetzenFrank Wedekinds Stellung als Dramaturg und Theatersekretär am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443] sollte nach seiner Flucht sein Bruder Donald Wedekind übernehmen., sondern das Geld selber einzustecken. Seine Freundschaft
kann mir gestohlen werden. Sehr besorgt bin ich bei alledem um Donald. Wenn Du
mit ihm zusammenkommst, dann rüttle ihn bitte ein wenig auf, so in der Art, wie
Du es seinerzeit mit mir gethan. Enervire ihn ein wenig zur
Arbeit. Ich habe kein Talent zum Moralpredigen (womit ich nicht sagen will, daß
du es in besonderem Maße hast) und dann fürchte ich, daß er mir auf die erste
Ermahnung hin Krach macht. Ich möchte ihn auch nicht kränken. Ich sehe aber
ein, daß ich jetzt nichts für ihn thun kann. Und dann frag die BeidenFrida Strindberg und Donald Wedekind, die nach Frank Wedekinds Flucht aus München eine Beziehung eingegangen waren [vgl. Buchmayr 2011, S. 202f.] bitte
gelegentlich, ob sie nun endlich einmal meine Sachen expedirt
haben. Es kostet sie ja nicht einen Pfennig. Ich bin heute seit 14 Tagen hierWedekind, aus München geflohen, um der Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung (in seinem Gedicht „Im Heiligen Land“ im „Simplicissimus“) zu entgehen [vgl. KSA 1/II, S. 1710], traf am 31.10.1898 in Zürich ein [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 31.10.1898].
und gehe täglich in den gleichen Kleidern, die mir nachgerade in Fetzen vom
Leibe hängen. Zehn Tage haben sie gebraucht, um mir zwei Manuscripte zu
schickenHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Manuskriptsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Frida Strindberg an Wedekind, 13.11.1898. Wedekind hatte Frida Strindberg auch schriftlich nochmals gebeten, ihm die Manuskripte von „Der Liebestrank“, vermutlich unter dem Titel „Fritz Schwigerling“ [vgl. KSA 2, S. 1002-1004], und „Das Gastspiel“ (siehe unten) zu schicken [vgl. Wedekind an Frida Strindberg, 4.11.1898], die ihm nun vorlagen., um die ich sie bei meiner Abreise dringend bat.
Aber nun genug der Aufträge. Es handelt sich mir wirklich um
ernstere Dinge. Momentweise erscheine ich mir von allen Seiten verraten und
verkauft. Langen ist von überströmender Katzenfreundlichkeit. Dabei höre ich,
daß er von München aus discreditirende Nachrichten über mich in
die Presse schickt. Ich schreibe Dir das nur, um Dir meine hochgradig nervöse
Stimmung zu erklären. Glaub bitte nicht, daß ich Dich einen Augenblick
vergesse. Ich denke auch manchmal daran, daß Du auch nicht im Golde schwimmen
wirst. Für mich giebt es keinen Aufenthalt mehr. Ich habe durch den Schlagsein Exil in der Schweiz nach der Flucht aus München, um der Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen (siehe oben), die verlorene Stellung am Münchner Schauspielhaus mitsamt der damit gegebenen Wirkungsmöglichkeiten. so
unendlich viel verloren, daß es mir gar nicht möglich ist zurückzublicken. Ich
muß vorwärts, vorwärts, sonst werde ich verrückt.
Grüße IreneIrene Triesch (siehe oben). zehntausendmal, wenn Du sie wiedertriffst. Ich
werde ihr auch jedenfalls schreiben. Wenn ich in nächster Zeit nach Luzern
komme, was nicht ausgeschlossen ist, werde ich Miezerlnicht identifiziert (eine Frau, die vermutlich in München gelebt hatte und nun in Luzern war). besuchen. In einiger
Zeit erscheint „Gastspiel„Das Gastspiel“, im Manuskript der Titel von Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ [vgl. KSA 4, S. 323, 331], der im Jahr darauf unter dem Titel „Der Kammersänger“ (1899) im Albert Langen Verlag in München erschien [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 57, 10.3.1899, S. 1886].“ im Druck. Du siehst, es ist mir nicht möglich, mit
meinen Gedanken einen Moment bei den angenehmeren Seiten des Lebens zu bleiben.
Wenn Du etwas Wesentliches über mich in München hörst, dann sei bitte so gut es
mir mitzutheilen. Du erweist mir dadurch einen sehr großen Dienst. Ich danke
Dir auch, daß Du Fridas Reiseprojecten entgegentrittst. Mir hat sie noch nichts
davon verlauten lassen. Hoffentlich überrascht sie mich nicht eines Tages in
Persona. Ich gestehe zu meiner Schande, daß ich sie auch Donalds wegen lieber
in München weiß, abgesehen von allem anderen. Wenn doch Irene auf den Gedanken
käme!
Lieber Schatz, verzeih mir meine anscheinende Kälte, aber
was soll ich anders empfinden mit der SklavenketteMetapher für das als quälend empfundene Gedichteschreiben für Albert Langens „Simplicissimus“, auf das Wedekind jetzt wieder angewiesen war; er habe „alle acht Tage ein Gedicht zu machen“ [Wedekind an Beate Heine, 15.12.1898]. „Simplicissimus“ am Fuß.
Ich war gerade im Begriff die Fessel zu durchbrechen, da falle ich von neuem in
das Verließ zurück! Ich wüßte wirklich nicht, wo ich jetzt eine stimmungsvolle
Minute hernehmen wollte. Dir geht es ja freilich nicht besser, aber Du hast ein
glücklicheres Gemüth in solchen Dingen.
Mit tausend Grüßen und herzlichen Küssen bin ich Dein
getreuer
Frank.
Meine aufrichtigsten besten Wünsche für Dein Wohlergehen.
Wenn dieser Brief einmal späteren Forschern in die Hände
fällt, wird er für die Beurtheilung unseres Verhältnisses entscheidend sein.
Viele werden sagen: Ich hab’s mir doch immer gedacht!