Frankfurt a. M.
Fichardstr. 21.II.
Liebster Freund ‒ erst heute komme ich dazu, Ihnen für die
BüchersendungHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Beate und Carl Heine, 14.12.1907. Wedekind dürfte die Büchersendung, über deren Inhalt nichts bekannt ist, nach dem letzten Treffen mit Beate Heine aufgegeben haben, die er zuletzt am 13.12.1907 in Berlin getroffen hat, wie er notierte: „Um 10½ Uhr hole ich Beate Heine im Zentraltheater ab und fahre mit ihr zu Steinert, wo uns Tilly erwartet.“ [Tb] zu danken, die uns eine reizende Weihnachts-Vorfreude war! Ich
spreche auch für Carl, der vorläufig keine Muße zum Schreiben haben wird. Also ‒ vielen, herzlichen Dank! Wie haben Sie den heilig
AbendWedekind notierte am 24.12.1907: „Nachmittags 6 Uhr Bescherung. 9½ Uhr fahren wir zu Tilla Durieux. Bleiben dort bis 3. Dann im Caffé Austria bis 6.“ [Tb] verlebt? Und war Anna-PamelaBeate Heine dürfte bei ihrem Besuch in Berlin (siehe oben) Wedekinds kleine Tochter an deren 1. Geburtstag gesehen haben, wie seine Notiz vom 12.12.1907 nahelegt: „Anna Pamelas Geburtstag. [...] Beate Heine zum Café.“ [Tb] schon sehr für
Weihnachtsfreuden empfänglich? Unser Weihnachtstag war entzückend ‒ vielleicht in erster Linie dadurch, daß | Carl endlich
einmal einen ganzen Tag frei hatteCarl Heine war Oberregisseur und Dramaturg am Schauspielhaus (Intendant: Emil Claar) in Frankfurt am Main [vgl. Neuer Theater-Almanach 1908, S. 368].. Wenn ich auch Alles für den Baum allein
hatte vorbereiten, vergolden, anbinden müssen, so konnten wir nun doch
wenigstens den Baum gemeinsam schmücken. Er sah des Abends wunderschön aus u. wir waren von früh bis spät in so froher,
festlicher Stimmung, wie lange nicht. Mir war’s außerdem eine besondere Freude,
Carl zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder einiges schenken zu können, was nicht
absolut nützlich war! Unser Tisch stand unter dem Zeichen der Bücher ‒ ich hatte Carl welche geschenkt, Sie schickten
welche, Weber sandte die Hebbelsche JudithIm Verlag von Hans von Weber war eine von Thomas Theodor Heine illustrierte bibliophile Ausgabe des berühmten Dramas herausgekommen [vgl. Friedrich Hebbel: Judith. Eine Tragödie in 5 Akten. München 1908]. von Th. Th.
Heine illustriert, u. meine Schwägerineine Schwester Carl Heines (er hatte vier Schwestern: Blanka, Clara, Selma, Olga), vermutlich die seinerzeit bekannte Schriftstellerin Anselma (Selma) Heine (Pseudonym: Anselm Heine). Wedekind ist ihr seinem Tagebuch zufolge nachweislich am 10.5.1906 in Berlin begegnet (nach „Dr. Heine“ notierte er für diesen Abend „Anselm Heine“). hatte ebenfalls Bücher geschenkt ‒ sodaß es | wirklich ein embarras(frz.) Verlegenheit, Befangenheit.
war! Aber ein erfreulicher ‒ denn wir
können Beide viel von Druckerschwärze vertragen! ‒ Carl war sehr kaput, u. die Mühen von „Anna Karénina“Edmond Guirauds Bühnenbearbeitung von Lew Tolstojs Roman „Anna Karenina“ (1878) hatte am Schauspielhaus in Frankfurt am Main unter der Regie von Carl Heine am 21.12.1907 Premiere: „Anna Karenina. Drama in 5 Akten nach Tolstois Roman von Edmond Guiraud.“ [Almanach des Frankfurter Opernhauses und Schauspielhauses 1909, S. 104] Weitere Vorstellungen: 22., 26., 27. und 30.12.1907. hatten ihn
vollends erschöpft, ohne ihn zu erfreuen, weil das Stück
schlecht ist ‒ wenn man
nicht etwa eine Sorma für die TitelrolleAgnes Sorma, die berühmte Schauspielerin, seit dem 4.10.1907 am Berliner Kleinen Theater tätig, war dort zuerst in der Titelrolle von Friedrich Hebbels Tragödie „Maria Magdalena“ zu sehen, anschließend noch bis zum Jahresende als Nora in Henrik Ibsens Schauspiel „Ein Puppenheim“ und als Bianca in Paul Egers Lustspiel „Mandragola“, allesamt Hauptrollen. zur Verfügung hat! Jetzt hat er ein
paar freie Vormittage, die er eigentlich im Taunus verleben sollte und wollte;
nun ist aber seit ein paar Tagen eine solche Bärenkälte, daß er sich auf
Spaziergänge in der nächsten Umgegend beschränkt. Er hofft aber in nicht zu
langer Zeit sich 10 Tage Urlaub zu nehmen,
und irgendwo in den Süden zu ziehn ‒ leider allein, da es für 2 Personen zu theuer ist. Vielleicht geht er
über Wien oder Berlin, | um zugleich ein Bischen Theater zu sehen ‒ aber, das ist noch nicht sicher. Mein MährchenBeate Heines Weihnachtsmärchen „Prinzessin Tausendschön“ [vgl. Beate Heine an Wedekind, 12.12.1906].
hat nicht so viel gebracht, als ich hoffte ‒ aber es hatte viel Beifall u. war wenigstens an den Sonn u. Feiertagen
gut besetzt. Ich würde so gern ein Neues schreiben ‒ aber mir fällt nichts Gutes ein. Erzählen will
ich noch, daß Wilhelm Weigand letzthin einen
Abend bei uns war ‒ kannten Sie
ihn von MünchenWedekind kannte den Schriftsteller Wilhelm Weigand, den er im Tagebuch nur einmal erwähnt ‒ am 26.5.1905 zu einer Abreise aus München: „Abends Abfahrt nach Wien. In München Ost steigt Wilhelm Weigand ein. Der neben mir schläft.“ [Tb] Wilhelm Weigand hat sich später in seiner Autobiografie abfällig über Wedekind und dessen Werk geäußert [vgl. Wilhelm Weigand: Welt und Weg. Aus meinem Leben. Bonn 1940, passim].? Carl hat damalsWilhelm Weigands Einakter „Der Vater“ wurde von der Literarischen Gesellschaft in Leipzig am 8.12.1895 im Carola-Theater in einer Matineevorstellung aufgeführt. Die Presse urteilte seinerzeit über diese „moderne Schicksalstragödie, welche die Vererbungstheorie zur Grundlage hat und von Ibsen’s ‚Gespenstern‘ inspirirt zu sein scheint“, sie mache „einen weniger tragischen, als tristen Eindruck.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 89, Nr. 600, 10.12.1895, Morgen-Ausgabe, 4. Beilage, S. 8795] Welches Stück Wilhelm Weigand Carl Heine 1907 in Frankfurt am Main angeboten hat, ist nicht ermittelt. in der Litterarischen Gesellschaft einen
Einakter „Der Vater“ von ihm gebracht, seitdem aber nichts mehr, u. nun brachte
er ihm wieder ein Stück zur Begutachtung. Ich hatte mir seine Persönlichkeit
viel vornehmer u. feiner vorgestellt, u. war etwas enttäuscht. Aber nun genug
für heut. Grüßen Sie Ihre liebe Frau vielmals, u. seien Sie selbst von uns
Beiden von Herzen gegrüßt und für 1908 beglückwünscht!
In Freundschaft
Ihre
Beate Heine.