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Kennung: 992

München, 28. Juli 1904 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate

Inhalt

[1. Druck:]


München, 28.VII.1904Wedekind notierte am 28.7.1904: „Brief an Beate Heine.“ [Tb].


Hochverehrte Freundin!

Sie glauben nicht, wie mich Ihre Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 23.7.1904. hoch erfreut hat, vor allem als ein Zeichen, daß Sie mir meines langen Schweigens wegen nicht böse sind und daß Sie selber noch dieses Jahr wieder in Ihrem angestammten SommersitzFritz Strich zufolge „Helgoland“ [GB 2, S. 361] ‒ dort verbrachten Beate und Carl Heine nachweislich bereits die Sommer 1898 und 1899. Erholung gefunden. Ich habe in den letzten Jahren viele Menschen getroffen, mit denen ich über Sie und Ihre Hamburger Wirksamkeit sprechen konnte, und habe mich immer von ganzem Herzen über die guten Nachrichten und über die uneingeschränkte Verehrung, die Karls ThätigkeitCarl Heine war als Regisseur am Deutschen Schauspielhaus (Direktion: Alfred von Berger) in Hamburg tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 426]. in Hamburg und in der dortigen guten Gesellschaft erntet, gefreut. Freilich wird ihm das Hamburger Publicum im großen ganzen wol längst zu schwerfällig und zu hartmäulig sein. Sein Platz wäre jetzt unbedingt Berlin.

Was mich betrifft, so geht es mir in dieser Hinsicht nicht anders. Officielle Erfolge sind da, aber trotzdem sitze ich immer noch festgewachsen wie ein Schwamm und ohne Bewegungsfreiheit, über die doch schließlich jeder Handelsreisende verfügt. Dazu kommt, daß man sich durch das Münchner Bierleben entsetzlich weit von der reichen interessanten Welt entfernt. Nachdem ich nun diesen Frühling wieder eine recht düstere Zeit durchlebt hatte, sagte ich mir schließlich, daß solch eine Situation meiner nicht würdig ist, und nahm ein Engagement an ein TingeltangelWedekind war bei den Sieben Tantenmördern engagiert, ein Kabarett, das am 31.1.1904 im Lokal Zur Räuberhöhle (Färbergraben 33) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil II, S. 326] eröffnet worden ist: „Der Anfang der heutigen Eröffnungsvorstellung in der Künstlerkneipe Räuberhöhle, Färbergraben 33, ist auf halb 9 Uhr festgesetzt.“ [Künstler-Cabaret der 7 Tantenmörder. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 49, 31.1.1904, S. 4] „Im Cabaret zu den sieben Tantenmördern haben die jüngst entschlafenen Elf Scharfrichter eine teilweise Wiederauferstehung in der ‚Räuberhöhle‘, einem originell dekorierten Souterrainlokale am Färbergraben 33, gefeiert. [...] Joseph Vallé, der Unvermeidliche, hat die Rolle des Conférenciers übernommen.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 64, 9.2.1904, Morgenblatt, S. 6] Das Kabarett, das dann in den Kaim-Saal (Türkenstraße 5) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil II, S. 724] umzog, ist in den Veranstaltungshinweisen mit Mehrfachbezeichnungen versehen: Intimes Theater, Münchner Künstler-Kabarett, Sieben Tantenmörder [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 211, 5.4.1904, Morgenblatt, S. 3; Nr. 217, 9.5.1904, Generalanzeiger, S. 1; Nr. 454, 28.9.1904, Generalanzeiger, S. 1], bevor es nach einer Auftrittspause am 22.10.1904 seinen Namen änderte: „Am Samstag, den 22. Oktober, eröffnet das Münchener Künstler-Cabaret (früher 7 Tantenmörder) im unteren Kaim-Saal wieder seine Vorstellungen.“ [Intimes Theater im Kaim-Saal. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 481, 21.10.1904, Vorabendblatt, 3. Blatt, S. 10] Wedekinds erste Auftritte waren angekündigt: „Montag, den 16., Dienstag, den 17., und Mittwoch, den 18. Mai. gastiert M. Frank Wedekind im Münchner Künstler-Kabarett 7 Tantenmörder.“ [Intimes Theater Kaimsaal. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 225, 14.5.1904, Generalanzeiger, S. 1] Wedekind hat am 12.5.1904 „Kontraktabschluß mit den 7. Tantenmördern“ [Tb] und am 16.5.1904 erstmalig „Auftreten bei den Tantenmördern“ [Tb] notiert, was bald fast täglich der Fall war. an. Diesem ersten Engagement folgten andere, so daß ich voraussichtlich den ganzen nächsten Winter vor großem Publicum die Laute schlagen werde, aber dafür über die kleinlichen Mißhelligkeiten hinweggehoben bin und, was mir die Hauptsache ist, endlich wieder mit der Welt und ihren Bewohnern in Berührung kommen werde. Für den ganzen Monat NovemberDie Presse meldete: „Frank Wedekind ist zum Variété übergegangen und hat sich, einem Privat-Telegramm aus Breslau zufolge, der Direktion des dortigen Etablissements Liebich für ein vierwöchentliches Gastspiel verpflichtet.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 33, Nr. 546, 26.10.1904, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekind notierte am 31.10.1904 seine Ankunft in Breslau und den „Abend in Liebichs Etablissement“ [Tb]; sein Gastspiel in dem bekannten Varieté-Theater dauerte allerdings nur vom 1. bis 6.11.1904 – es wurde vorzeitig abgebrochen: „Aus Breslau wird gemeldet: Frank Wedekind hat bei seinem Auftreten im Variété hier wenig Glück gehabt. Er begegnete so entschiedener Opposition, daß er seinen Vertrag mit Liebichs Etablissement nach sechs Tagen lösen mußte und Breslau bereits verlassen hat.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 33, Nr. 572, 9.11.1904, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekind ist am 7.11.1904 von Breslau abgereist, wo er sechs Vorstellungen absolviert hatte; zu den Vorstellungen am 1. und 6.11.1904 notierte er: „Durchgefallen.“ [Tb] bin ich für Breslau engagirt, Liebigs Etablissement, es soll ein Institut allerersten Ranges sein. Ich weiß nicht, ob Sie es kennen. Aller Wahrscheinlichkeit nach komme ich auch nach HamburgEin Gastspiel Wedekinds mit den Sieben Tantenmördern in Hamburg fand nicht statt. und werde mich unendlich freuen, Sie wiederzusehen. Mit der Literatur bin ich fertig. Die halsstarrige Abneigung des großen Publicums gegen mich würde ich auch in den kommenden zehn Jahren durch die heißesten Kämpfe kaum besiegen, und was hätte ich dann vom ganzen Leben gehabt! Ich wiederhole mir täglich mit dem Gefühl großer Erleichterung, daß mir von jetzt an die Literatur den Rücken hinunterrutschen kann.

Verzeihen Sie, liebe Freundin, daß ich soviel von mir selber schreibe. Aber da liegt eben der Hund begraben. In allem, was ich bis jetzt geschrieben habe, fehlt mir die große Liebe, der Hauptmann seine gewaltige Wirkung zu danken hat. Und diese Liebe läßt sich nicht vorgaukeln, auch wenn man es noch so durchtrieben anstellt. Als Mittel zur Unterhaltung, zur Bekämpfung der Langeweile ist sie mir auch schon gekommen, aber ich sehe zu meiner Enttäuschung, daß meine Begriffsverdrehungen keinen Glauben finden. Die wahre Liebe ist es nicht.

Wir hatten hier in München eine ziemlich lebendige tote Saison durch das Gastspiel des kleinen TheatersDas Ensemblegastspiel des Kleinen und Neuen Theaters (Direktion: Max Reinhardt) aus Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 291] (das frühere Kleine Theater „Schall und Rauch“, seit 1.1.1903 nur noch: Kleines Theater) am Münchner Volkstheater wurde am 17.6.1904 mit Maxim Gorkis „Nachtasyl“ eröffnet und am 3.7.1904 mit demselben Stück beschlossen. Wedekind notierte am 17.6.1904 „Abends Nachtasyl“ [Tb] und am 3.7.1904 „Abschiedsvorstellung des Kleinen Theaters“ [Tb]; auf dem Programm standen außerdem Stücke von Maurice Maeterlinck, Oscar Wilde, Hugo von Hofmannsthal, August Strindberg und Wedekinds „Erdgeist“ ‒ seine Tragödie wurde unter der Regie von Richard Vallentin mit Gertrud Eysoldt als Lulu und Emanuel Reicher als Dr. Schön am 24.6.1904 gespielt (Beginn: 20 Uhr, Ende gegen 23 Uhr) [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 291, 24.6.1904, General-Anzeiger, S. 1] und mit Beifall aufgenommen [vgl. KSA 3/II, S. 1227]. Hanns von Gumppenberg (H.v.G.) meinte: „Im Volkstheater wurde Wedekinds ‚Erdgeist‘ in der vortrefflichen Wiedergabe durch das Ensemble des Kleinen und Neuen Theaters mit starkem, zuletzt stürmischem Beifall aufgenommen. Mit und nach den Darstellern erntete auch Wedekind selbst zahlreiche Hervorrufe.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 293, 25.6.1904, Morgenblatt, S. 4] Selbst die konservative Presse schrieb über die „Erdgeist“-Vorstellung: „Das sehr gut besuchte Haus spendete den Schauspielern stürmischen Beifall, von dem auch der Verfasser sein Teil erhielt. Jedenfalls war der Abend äußerst interessant und, soweit die Leistungen der Schauspieler in Frage kommen, unbedingt einer der genußreichsten des Gastspiels.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 284, 26.6.1904, S. 2] Wedekind hielt am 24.6.1904 fest: „Abends Erdgeist.“ [Tb] und allerhand krumme Händel, die sich daran knüpften. Ich verwandte die Zeit hauptsächlich zum Studium von Frau Eysoldt, bin ihr aber höchstens bis auf ein Dritttheil auf den Grund gekommen; vielleicht befinde ich mich auch noch ganz an der Oberfläche. Jedenfalls ist sie das interessanteste MenschenkindWedekind hat die Künstlerin auch als „Menschenkind“ [Wedekind an Gertrud Eysoldt, 25.6.1904] angeredet., das mir seit vier Jahren vor Augen gekommen. Aber danach mögen Sie unser hiesiges Leben beurtheilen. Man gehört zum Inventar eines bestimmten Restaurants, und wenn das Lokal den Besitzer wechselt, wird man im Verkaufspreis so und so hoch bewerthet. In diesem Restaurant sitzt man nun wie in einem Burgverließ, über sich ein enges Gitter, durch welches man von unten dann und wann irgend etwas zu sehen bekommt, was die Sonne bescheint, während natürlich kein Schimmer von einem Strahl nach unten dringt. Verzeihen Sie mir die JeremiadeKlagelied.. Jetzt glaube ich ja den Ausweg gefunden zu haben, das Gitter öffnet sich, ich steige zum Licht empor; Freiheit, dein Name ist Tingel-Tangel.

Grüßen Sie bitte Karl auf das allerherzlichste von mir und seien Sie selber ebenso gegrüßt von Ihrem Ihrer in Dankbarkeit gedenkenden
Frank.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Verzeihen Sie, liebe Freundin, daß ich soviel von mir selber schreibe. Aber da liegt eben der Hund begraben. In allem, was ich bis jetzt geschrieben habe, fehlt mir die große Liebe, der Hauptmann seine gewaltige Wirkung zu danken hat. Und diese Liebe läßt sich nicht vorgaukeln, auch wenn man es noch so durchtrieben anstellt. Als Mittel zur Unterhaltung, zur Bekämpfung der Langeweile ist sie mir auch schon gekommen, aber ich sehe zu meiner Enttäuschung, daß meine Begriffsverdrehungen keinen Glauben finden. Die wahre Liebe ist es nicht.

Wir hatten hier in München eine ziemlich lebendige tote Saison durch das Gastspiel des kleinen Theaters und allerhand krumme Händel die sich daran knüpften. Ich verwandte die Zeit hauptsächlich zum Studium von Frau Eysoldt, bin ihr aber höchstens bis auf ein Dritttheil auf den Grund gekommen; vielleicht befinde ich mich auch noch ganz an der Oberfläche. Jedenfalls ist sie das interessanteste Menschenkind, das mir seit vier Jahren vor Augen gekommen. Aber danach mögen Sie unser hiesiges Leben beurtheilen. Man gehört zum Inventar eines bestimmten Restaurants, und wenn das Lokal den Besitzer wechselt, wird man im Verkaufspreis so und so hoch bewerthet. In diesem Restaurant sitzt man nun wie in einem Burgverließ, über sich ein enges Gitter, durch welches man von unten dann und wann irgend etwas zu sehen bekommt, was die Sonne bescheint, während natürlich kein Schimmer von einem Strahl nach unten dringt.

Verzeihen Sie mir die Jeremiade. Jetzt glaube ich ja den Ausweg gefunden zu haben, das Gitter öffnet sich, ich steige zum Licht empor; Freiheit, dein Name ist Tingel Tangel [...]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck zugänglich. Die Existenz des Originals ist verbürgt [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232].

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    28. Juli 1904 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Helgoland
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
126-128
Briefnummer:
232
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Informationen zum Bestand

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 28.7.1904. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

20.03.2024 21:03
Kennung: 992

München, 28. Juli 1904 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate
 
 

Inhalt

[1. Druck:]


München, 28.VII.1904Wedekind notierte am 28.7.1904: „Brief an Beate Heine.“ [Tb].


Hochverehrte Freundin!

Sie glauben nicht, wie mich Ihre Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 23.7.1904. hoch erfreut hat, vor allem als ein Zeichen, daß Sie mir meines langen Schweigens wegen nicht böse sind und daß Sie selber noch dieses Jahr wieder in Ihrem angestammten SommersitzFritz Strich zufolge „Helgoland“ [GB 2, S. 361] ‒ dort verbrachten Beate und Carl Heine nachweislich bereits die Sommer 1898 und 1899. Erholung gefunden. Ich habe in den letzten Jahren viele Menschen getroffen, mit denen ich über Sie und Ihre Hamburger Wirksamkeit sprechen konnte, und habe mich immer von ganzem Herzen über die guten Nachrichten und über die uneingeschränkte Verehrung, die Karls ThätigkeitCarl Heine war als Regisseur am Deutschen Schauspielhaus (Direktion: Alfred von Berger) in Hamburg tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 426]. in Hamburg und in der dortigen guten Gesellschaft erntet, gefreut. Freilich wird ihm das Hamburger Publicum im großen ganzen wol längst zu schwerfällig und zu hartmäulig sein. Sein Platz wäre jetzt unbedingt Berlin.

Was mich betrifft, so geht es mir in dieser Hinsicht nicht anders. Officielle Erfolge sind da, aber trotzdem sitze ich immer noch festgewachsen wie ein Schwamm und ohne Bewegungsfreiheit, über die doch schließlich jeder Handelsreisende verfügt. Dazu kommt, daß man sich durch das Münchner Bierleben entsetzlich weit von der reichen interessanten Welt entfernt. Nachdem ich nun diesen Frühling wieder eine recht düstere Zeit durchlebt hatte, sagte ich mir schließlich, daß solch eine Situation meiner nicht würdig ist, und nahm ein Engagement an ein TingeltangelWedekind war bei den Sieben Tantenmördern engagiert, ein Kabarett, das am 31.1.1904 im Lokal Zur Räuberhöhle (Färbergraben 33) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil II, S. 326] eröffnet worden ist: „Der Anfang der heutigen Eröffnungsvorstellung in der Künstlerkneipe Räuberhöhle, Färbergraben 33, ist auf halb 9 Uhr festgesetzt.“ [Künstler-Cabaret der 7 Tantenmörder. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 49, 31.1.1904, S. 4] „Im Cabaret zu den sieben Tantenmördern haben die jüngst entschlafenen Elf Scharfrichter eine teilweise Wiederauferstehung in der ‚Räuberhöhle‘, einem originell dekorierten Souterrainlokale am Färbergraben 33, gefeiert. [...] Joseph Vallé, der Unvermeidliche, hat die Rolle des Conférenciers übernommen.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 64, 9.2.1904, Morgenblatt, S. 6] Das Kabarett, das dann in den Kaim-Saal (Türkenstraße 5) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil II, S. 724] umzog, ist in den Veranstaltungshinweisen mit Mehrfachbezeichnungen versehen: Intimes Theater, Münchner Künstler-Kabarett, Sieben Tantenmörder [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 211, 5.4.1904, Morgenblatt, S. 3; Nr. 217, 9.5.1904, Generalanzeiger, S. 1; Nr. 454, 28.9.1904, Generalanzeiger, S. 1], bevor es nach einer Auftrittspause am 22.10.1904 seinen Namen änderte: „Am Samstag, den 22. Oktober, eröffnet das Münchener Künstler-Cabaret (früher 7 Tantenmörder) im unteren Kaim-Saal wieder seine Vorstellungen.“ [Intimes Theater im Kaim-Saal. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 481, 21.10.1904, Vorabendblatt, 3. Blatt, S. 10] Wedekinds erste Auftritte waren angekündigt: „Montag, den 16., Dienstag, den 17., und Mittwoch, den 18. Mai. gastiert M. Frank Wedekind im Münchner Künstler-Kabarett 7 Tantenmörder.“ [Intimes Theater Kaimsaal. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 225, 14.5.1904, Generalanzeiger, S. 1] Wedekind hat am 12.5.1904 „Kontraktabschluß mit den 7. Tantenmördern“ [Tb] und am 16.5.1904 erstmalig „Auftreten bei den Tantenmördern“ [Tb] notiert, was bald fast täglich der Fall war. an. Diesem ersten Engagement folgten andere, so daß ich voraussichtlich den ganzen nächsten Winter vor großem Publicum die Laute schlagen werde, aber dafür über die kleinlichen Mißhelligkeiten hinweggehoben bin und, was mir die Hauptsache ist, endlich wieder mit der Welt und ihren Bewohnern in Berührung kommen werde. Für den ganzen Monat NovemberDie Presse meldete: „Frank Wedekind ist zum Variété übergegangen und hat sich, einem Privat-Telegramm aus Breslau zufolge, der Direktion des dortigen Etablissements Liebich für ein vierwöchentliches Gastspiel verpflichtet.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 33, Nr. 546, 26.10.1904, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekind notierte am 31.10.1904 seine Ankunft in Breslau und den „Abend in Liebichs Etablissement“ [Tb]; sein Gastspiel in dem bekannten Varieté-Theater dauerte allerdings nur vom 1. bis 6.11.1904 – es wurde vorzeitig abgebrochen: „Aus Breslau wird gemeldet: Frank Wedekind hat bei seinem Auftreten im Variété hier wenig Glück gehabt. Er begegnete so entschiedener Opposition, daß er seinen Vertrag mit Liebichs Etablissement nach sechs Tagen lösen mußte und Breslau bereits verlassen hat.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 33, Nr. 572, 9.11.1904, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekind ist am 7.11.1904 von Breslau abgereist, wo er sechs Vorstellungen absolviert hatte; zu den Vorstellungen am 1. und 6.11.1904 notierte er: „Durchgefallen.“ [Tb] bin ich für Breslau engagirt, Liebigs Etablissement, es soll ein Institut allerersten Ranges sein. Ich weiß nicht, ob Sie es kennen. Aller Wahrscheinlichkeit nach komme ich auch nach HamburgEin Gastspiel Wedekinds mit den Sieben Tantenmördern in Hamburg fand nicht statt. und werde mich unendlich freuen, Sie wiederzusehen. Mit der Literatur bin ich fertig. Die halsstarrige Abneigung des großen Publicums gegen mich würde ich auch in den kommenden zehn Jahren durch die heißesten Kämpfe kaum besiegen, und was hätte ich dann vom ganzen Leben gehabt! Ich wiederhole mir täglich mit dem Gefühl großer Erleichterung, daß mir von jetzt an die Literatur den Rücken hinunterrutschen kann.

Verzeihen Sie, liebe Freundin, daß ich soviel von mir selber schreibe. Aber da liegt eben der Hund begraben. In allem, was ich bis jetzt geschrieben habe, fehlt mir die große Liebe, der Hauptmann seine gewaltige Wirkung zu danken hat. Und diese Liebe läßt sich nicht vorgaukeln, auch wenn man es noch so durchtrieben anstellt. Als Mittel zur Unterhaltung, zur Bekämpfung der Langeweile ist sie mir auch schon gekommen, aber ich sehe zu meiner Enttäuschung, daß meine Begriffsverdrehungen keinen Glauben finden. Die wahre Liebe ist es nicht.

Wir hatten hier in München eine ziemlich lebendige tote Saison durch das Gastspiel des kleinen TheatersDas Ensemblegastspiel des Kleinen und Neuen Theaters (Direktion: Max Reinhardt) aus Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 291] (das frühere Kleine Theater „Schall und Rauch“, seit 1.1.1903 nur noch: Kleines Theater) am Münchner Volkstheater wurde am 17.6.1904 mit Maxim Gorkis „Nachtasyl“ eröffnet und am 3.7.1904 mit demselben Stück beschlossen. Wedekind notierte am 17.6.1904 „Abends Nachtasyl“ [Tb] und am 3.7.1904 „Abschiedsvorstellung des Kleinen Theaters“ [Tb]; auf dem Programm standen außerdem Stücke von Maurice Maeterlinck, Oscar Wilde, Hugo von Hofmannsthal, August Strindberg und Wedekinds „Erdgeist“ ‒ seine Tragödie wurde unter der Regie von Richard Vallentin mit Gertrud Eysoldt als Lulu und Emanuel Reicher als Dr. Schön am 24.6.1904 gespielt (Beginn: 20 Uhr, Ende gegen 23 Uhr) [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 291, 24.6.1904, General-Anzeiger, S. 1] und mit Beifall aufgenommen [vgl. KSA 3/II, S. 1227]. Hanns von Gumppenberg (H.v.G.) meinte: „Im Volkstheater wurde Wedekinds ‚Erdgeist‘ in der vortrefflichen Wiedergabe durch das Ensemble des Kleinen und Neuen Theaters mit starkem, zuletzt stürmischem Beifall aufgenommen. Mit und nach den Darstellern erntete auch Wedekind selbst zahlreiche Hervorrufe.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 293, 25.6.1904, Morgenblatt, S. 4] Selbst die konservative Presse schrieb über die „Erdgeist“-Vorstellung: „Das sehr gut besuchte Haus spendete den Schauspielern stürmischen Beifall, von dem auch der Verfasser sein Teil erhielt. Jedenfalls war der Abend äußerst interessant und, soweit die Leistungen der Schauspieler in Frage kommen, unbedingt einer der genußreichsten des Gastspiels.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 284, 26.6.1904, S. 2] Wedekind hielt am 24.6.1904 fest: „Abends Erdgeist.“ [Tb] und allerhand krumme Händel, die sich daran knüpften. Ich verwandte die Zeit hauptsächlich zum Studium von Frau Eysoldt, bin ihr aber höchstens bis auf ein Dritttheil auf den Grund gekommen; vielleicht befinde ich mich auch noch ganz an der Oberfläche. Jedenfalls ist sie das interessanteste MenschenkindWedekind hat die Künstlerin auch als „Menschenkind“ [Wedekind an Gertrud Eysoldt, 25.6.1904] angeredet., das mir seit vier Jahren vor Augen gekommen. Aber danach mögen Sie unser hiesiges Leben beurtheilen. Man gehört zum Inventar eines bestimmten Restaurants, und wenn das Lokal den Besitzer wechselt, wird man im Verkaufspreis so und so hoch bewerthet. In diesem Restaurant sitzt man nun wie in einem Burgverließ, über sich ein enges Gitter, durch welches man von unten dann und wann irgend etwas zu sehen bekommt, was die Sonne bescheint, während natürlich kein Schimmer von einem Strahl nach unten dringt. Verzeihen Sie mir die JeremiadeKlagelied.. Jetzt glaube ich ja den Ausweg gefunden zu haben, das Gitter öffnet sich, ich steige zum Licht empor; Freiheit, dein Name ist Tingel-Tangel.

Grüßen Sie bitte Karl auf das allerherzlichste von mir und seien Sie selber ebenso gegrüßt von Ihrem Ihrer in Dankbarkeit gedenkenden
Frank.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Verzeihen Sie, liebe Freundin, daß ich soviel von mir selber schreibe. Aber da liegt eben der Hund begraben. In allem, was ich bis jetzt geschrieben habe, fehlt mir die große Liebe, der Hauptmann seine gewaltige Wirkung zu danken hat. Und diese Liebe läßt sich nicht vorgaukeln, auch wenn man es noch so durchtrieben anstellt. Als Mittel zur Unterhaltung, zur Bekämpfung der Langeweile ist sie mir auch schon gekommen, aber ich sehe zu meiner Enttäuschung, daß meine Begriffsverdrehungen keinen Glauben finden. Die wahre Liebe ist es nicht.

Wir hatten hier in München eine ziemlich lebendige tote Saison durch das Gastspiel des kleinen Theaters und allerhand krumme Händel die sich daran knüpften. Ich verwandte die Zeit hauptsächlich zum Studium von Frau Eysoldt, bin ihr aber höchstens bis auf ein Dritttheil auf den Grund gekommen; vielleicht befinde ich mich auch noch ganz an der Oberfläche. Jedenfalls ist sie das interessanteste Menschenkind, das mir seit vier Jahren vor Augen gekommen. Aber danach mögen Sie unser hiesiges Leben beurtheilen. Man gehört zum Inventar eines bestimmten Restaurants, und wenn das Lokal den Besitzer wechselt, wird man im Verkaufspreis so und so hoch bewerthet. In diesem Restaurant sitzt man nun wie in einem Burgverließ, über sich ein enges Gitter, durch welches man von unten dann und wann irgend etwas zu sehen bekommt, was die Sonne bescheint, während natürlich kein Schimmer von einem Strahl nach unten dringt.

Verzeihen Sie mir die Jeremiade. Jetzt glaube ich ja den Ausweg gefunden zu haben, das Gitter öffnet sich, ich steige zum Licht empor; Freiheit, dein Name ist Tingel Tangel [...]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck zugänglich. Die Existenz des Originals ist verbürgt [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232].

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    28. Juli 1904 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Helgoland
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
126-128
Briefnummer:
232
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Informationen zum Bestand

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 28.7.1904. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

20.03.2024 21:03