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Kennung: 987

München, 18. März 1903 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate

Inhalt

[1. Druck:]


München, 18.III.1903.


Liebe verehrte Freundin!

Wie sehr hatte ich gehofft, Sie gelegentlich der Scharfrichter-Tournée wiederzusehenEin Wiedersehen Wedekinds mit Beate Heine stand in Aussicht, da im Zuge der Tournee der Elf Scharfrichter ein Gastspiel in Hamburg im Theatersaal des Sagebielschen Etablissements angekündigt war (Wedekind namentlich genannt), das am 9.3.1903 begann und dann ohne Wedekind stattfand (wegen des im vorliegenden Brief erwähnten Zerwürfnisses). Die Presse schrieb: „Pech war es [...], daß nicht alle elf Scharfrichter anwesend sein konnten, daß unter den abwesenden gerade einer der Eigenartigsten und Ausgeprägtesten des Kreises, Frank Wedekind, sich befand.“ [B.: Die elf Scharfrichter. In: Neue Hamburger Zeitung, Nr. 116, 10.3.1903, Abend-Ausgabe, 1. Beilage, S. (1)], da brach in NürnbergAm 3.3.1903 fand in Nürnberg ein Gastspiel der Elf Scharfrichter am Intimen Theater statt. Nach dem Gastspiel in Nürnberg brach Wedekind wegen Streitigkeiten seine Teilnahme an der Scharfrichtertournee ab. zwischen der Regie und meiner Wenigkeit Streit aus und meine Mitwirkung hatte ein Ende. Ich ging dann nach Stuttgart und spielte Kammersänger, ohne Erfolg als Autor, aber mit ziemlichem Achtungserfolg als SchauspielerWedekind gastierte am 6. und 8.3.1903 am Wilhelma-Theater in Cannstatt bei Stuttgart in der vom Württembergischen Goethebund veranstalteten Inszenierung seines Einakters „Der Kammersänger“ [vgl. Schwäbischer Merkur, Nr. 97, 28.2.1903, Mittagsblatt, S. 3] und spielte die Titelrolle des Gerardo, deren Darstellung von der Presse gelobt wurde: „Herr Wedekind erwies sich in der Titelrolle als gewandter Schauspieler; er zeichnete den geschäftsmäßigen Modesänger und kühlen Pflichtmenschen mit gelungener Charakteristik.“ [W.: K. Wilhelma-Theater. Drei neue Einakter von Wedekind, Maeterlinck und Mirbeau. (Goethebund-Vorstellung.) In: Neues Tagblatt, Jg. 60, Nr. 55, 7.3.1903, S. 1] Die überregionale Presse meldete: „Der Stuttgarter Goethe-Bund veranstaltete [...] eine Einakteraufführung, bei der Wedekinds ‚Kammersänger‘ (mit dem Autor in der Hauptrolle), Maeterlinks ‚Eindringling‘ und Mirbeaus ‚Dieb‘ zur Darstellung kamen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 124, 9.3.1903, Abend-Ausgabe, S. (2)]. In Berlin war ich um NeujahrWedekind verbrachte den Jahreswechsel in Berlin (siehe unten). und sah die Eysoldt als LuluWedekind sah in Berlin die erfolgreiche „Erdgeist“-Inszenierung unter der Regie von Richard Vallentin am Kleinen Theater (Direktion: Hans Oberländer) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 259] mit Gertrud Eysoldt in der weiblichen Hauptrolle, deren Premiere am 17.12.1902 er wegen seiner Auftritte bei den Elf Scharfrichtern nicht hatte besuchen können [vgl. Wedekind an Gertrud Eysoldt, 20.12.1902].großartig. Dagegen war mir Reicher ungefähr das Gegentheil von dem was ich von der Rolle erwarte. Ich brauche Ihnen wol nicht zu sagen, daß ich persönlich von dem Ertrag des Erdgeistes bis jetzt nicht einen Pfennig erhalten habe, da alles von vornherein mit Beschlag belegt ist, theils durch Langens Vorschuß, theils durch andere Gläubiger. Ich hatte gehofft, mich auf einige Monate zurückziehen und ein anderes Stück beginnen zu können. Aber diesen Genuß, den höchsten, den ich vom weiteren Leben noch erwarte, muß ich vorderhand noch hinausschieben, um so mehr da ich nun auch mit den Scharfrichtern zerkriegtEduard von Keyserling, der den Abend des 24.2.1903 in München mit Wedekind verbrachte, schrieb am 25.2.1903 an Max Halbe: „Frank behauptet definitiv mit den Scharfrichtern auseinander zu sein, aber das war er doch schon öfters.“ [Gräbner/Lauinger 2021, S. 310] bin, die für mich immerhin einen ziemlich leicht verdienten Unterhalt bedeuteten.

Am Tage vor meiner Abreise nach BerlinWedekind dürfte spätestens am 28.12.1902 nach Berlin gereist sein, wie aus Korfiz Holms Brief an Albert Langen vom 5.1.1903 hervorgeht (siehe unten), und war diesem Brief zufolge am 4.1.1903 wieder zurück in München: „Nun ist Wedekind gestern aus Berlin zurückgekommen“ [Abret/Keel 1989, S. 312]. traf ich hier bei Max Halbe den Baron BergerAlfred von Berger war Direktor des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 382], wo Carl Heine als Regisseur tätig war., der sehr viel Liebes über Carl erzählte. Er sprach mit großer uneingeschränkter Anerkennung von seinen künstlerischen Leistungen. Ebenso scheint er ihn persönlich sehr hoch zu schätzen. Von Max Halbe höre ich, daß Carl jetzt Mutter Erde inscenirtMax Halbes Schauspiel „Mutter Erde“ (1898) hatte unter der Regie von Carl Heine am 26.3.1903 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere [vgl. Hamburger Fremden-Blatt, Jg. 75, Nr. 72, 26.3.1903, 2. Beilage, S. (4)].. Das Stück hat bei seiner Aufführung diesen Winter wol den stärksten Erfolg der SaisonMax Halbes Schauspiel „Mutter Erde“ hatte am 17.1.1903 am Münchner Schauspielhaus Premiere [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 56, Nr. 26, 17.1.1903, General-Anzeiger, S. 1]. Die letzte Vorstellung dieser Inszenierung fand am 11.3.1903 statt. erzielt und hält sich immer noch wacker auf dem Repertoir. Demgemäß wird auch Carl in der Inscenirung eine dankbare und ihm sympathische Aufgabe gefunden haben. Ich hatte während der verflossenen drei Jahre immer gehofft, es werde sich noch mal jemand finden, der mit mir und meinen Stücken eine Tournée unternimmt, aber trotz aller Zeitungsartikel stehe ich offenbar noch immer nicht hoch genug im Coursim Kurs. für ein solches Wagnis. Gleich zu Beginn der Saison habe ich mich zur Rehabilitirung des „Marquis von Keithhier in MünchenDie Münchner Premiere des „Marquis von Keith“ unter Wedekinds Regie und mit ihm in der Titelrolle – es spielten ferner Franz Herterich (Ernst Scholz), Ottilie Gerhäuser (Anna von Werdenfels), Anni Blaha (Molly Griesinger), Carl Sick (Konsul Casimir), Lili Marberg (Hermann Casimir), Emil Lind (Sommersberg), Julius Stettner (Saranieff), Robert Hiller (Zamrjaki), Gisela Graselli (Simba) – fand als geschlossene Vorstellung (veranstaltet vom Akademisch-Dramatischen Verein) am 20.10.1902 am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 460] statt: „Montag, den 20. Oktober. Aufführung des Akademisch-dramatischen Vereins. (Vor geladenem Publikum.) Zum ersten Male: Marquis von Keith Schauspiel in 5 Alten von Frank Wedekind.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 487, 20.10.1902, General-Anzeiger, S. 1] Die beiden weiteren Vorstellungen am 27.10.1902 und 3.11.1902 waren öffentlich. als Schauspieler in die Schanze geschlagen. Die Besetzung war, von mir natürlich abgesehen, vorzüglich. Um so enttäuschender war für mich der rasche Rückgang der Casse, so daß aus all der Mühe nur drei Vorstellungen resultirten. Um Neujahr sollte ich in Berlin, da Reicher plötzlich streikte, den Dr. Schön spielenEmanuel Reicher spielte in der Berliner „Erdgeist“-Inszenierung seit der Premiere am 17.12.1902 am Kleinen Theater in Berlin (siehe oben) die männliche Hauptrolle des Dr. Schön und drohte bald darauf wegen Krankheit auszufallen und Wedekind sollte ihn gegebenenfalls vertreten, wie aus Korfiz Holms Brief an Albert Langen vom 5.1.1903 hervorgeht: „Reicher, der den Dr. Schön spielte, erklärte auf einmal, er wäre krank und müßte einige Wochen ausruhen. Darauf bombardierte das Kleine Theater Wedekind mit Telegrammen, er müßte nach Berlin kommen entweder, um die Rolle selbst zu spielen, oder aber um durch seine Anwesenheit einen moralischen Druck auf Reicher auszuüben und ihn zum Spielen zu bringen. Das letztere gelang übrigens schließlich. Schließlich am 27. Dezember war die Reicherfrage sehr brennend geworden, und Reinhardt telefonierte mich von Berlin an, wir sollten um jeden Preis Wedekind bewegen nach Berlin zu kommen, sonst würde die Erfolgsserie des Erdgeist unterbrochen und bei einer späteren Wiederaufnahme würde die Chance sicher vorüber sein. Das Kleine Theater wäre bereit, uns sofort 400 Mark zu überweisen, [...] wenn wir uns bereit erklären, diese M. 400.– als Reisevorschuß weiterzugeben und sobald Wedekind ihm telegrafiert hätte, daß er käme. Und so geschah es.“ [Abret/Keel 1989, S. 311f.], hatte in den fünf Jahren aber leider die ganze Rolle wieder vergessen. Jetzt erscheint eben die zweite AuflageDie 2. Auflage des „Erdgeist“ kam unter dem Titel „Lulu. Dramatische Dichtung in zwei Teilen. Erster Teil: Erdgeist. Tragödie in vier Aufzügen“ [vgl. KSA 3/II, S. 861] noch im Frühjahr im Albert Langen Verlag in München heraus [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 70, Nr. 100, 2.5.1903, S. 3482]. „Dem Stück geht erstmals der ‚Prolog‘ in leicht überarbeiteter Fassung voraus. Der Dramentext stellt eine an den Erfahrungen der ersten Inszenierungen orientierte Korrektur des Erstdrucks dar“ [KSA 3/II, S. 861f.]. von „Erdgeist“. Ich habe vieles darin gestrichen und vielem einen natürlicheren Klang zu geben versucht, so daß sich nun vielleicht auch irgend eine andere Bühne dafür erwärmen wird. Bis jetzt hat nämlich, trotz des Berliner ErfolgesDie Berliner „Erdgeist“-Inszenierung (Premiere: 17.12.1902) stand noch immer auf dem Spielplan, als Wedekind den vorliegenden Brief schrieb. Die Tragödie war fast allabendlich zu sehen; um die Jahreswende 1902/03 herum stand sie lediglich am 31.12.1902 nicht auf dem Programm. Einen Monat nach der Premiere meldete die Presse: „Im Kleinen Theater wurde gestern Frank Wedekinds ‚Erdgeist‘ mit Emanuel Reicher und Gertrud Eysoldt in den Hauptrollen zum 25. Mal aufgeführt.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 30, 17.1.1903, Abend-Ausgabe, S. (3)], noch nicht ein einziges Theater auf das Stück angebissen.

Grüßen Sie bitte Carl aufs herzlichste von mir; hoffentlich sehen wir uns doch noch einmal wieder. Und seien Sie selber bestens gegrüßt von Ihrem treuergebenen
Frank Wedekind.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Wie sehr hatte ich gehofft, Sie gelegentlich der Scharfrichter-Tournee wiederzusehen. Da brach in Nürnberg zwischen der Regie und meiner Wenigkeit Streit aus und meine Mitwirkung hatte ein Ende. Ich ging dann nach Stuttgart und spielte Kammersänger, ohne Erfolg als Autor aber mit ziemlichem Achtungserfolg als Schauspieler. In Berlin war ich um Neujahr und sah die Eysoldt als Lulu ‒ großartig. Dagegen war mir Reicher ungefähr das Gegentheil von dem was ich von der Rolle erwarte. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß ich persönlich von dem Ertrag des Erdgeistes bis jetzt nicht einen Pfennig erhalten habe, da alles von vornherein mit Beschlag belegt ist, theils durch Langens Vorschuß, theils durch andere Gläubiger. Ich hatte gehofft mich auf einige Monate zurückziehen und ein neues Stück beginnen zu können. Aber diesen Genuß, den höchsten, den ich vom weiteren Leben noch erwarte, muß ich vorderhand noch hinausschieben, um so mehr da ich nun auch mit den Scharfrichtern zerkriegt bin, die für mich immerhin einen ziemlich leicht verdienten Unterhalt bedeuteten [...]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck zugänglich. Die Existenz des Originals ist verbürgt [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232].

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    18. März 1903 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Hamburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
95-97
Briefnummer:
206
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Informationen zum Bestand

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 18.3.1903. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

24.03.2024 11:28
Kennung: 987

München, 18. März 1903 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate
 
 

Inhalt

[1. Druck:]


München, 18.III.1903.


Liebe verehrte Freundin!

Wie sehr hatte ich gehofft, Sie gelegentlich der Scharfrichter-Tournée wiederzusehenEin Wiedersehen Wedekinds mit Beate Heine stand in Aussicht, da im Zuge der Tournee der Elf Scharfrichter ein Gastspiel in Hamburg im Theatersaal des Sagebielschen Etablissements angekündigt war (Wedekind namentlich genannt), das am 9.3.1903 begann und dann ohne Wedekind stattfand (wegen des im vorliegenden Brief erwähnten Zerwürfnisses). Die Presse schrieb: „Pech war es [...], daß nicht alle elf Scharfrichter anwesend sein konnten, daß unter den abwesenden gerade einer der Eigenartigsten und Ausgeprägtesten des Kreises, Frank Wedekind, sich befand.“ [B.: Die elf Scharfrichter. In: Neue Hamburger Zeitung, Nr. 116, 10.3.1903, Abend-Ausgabe, 1. Beilage, S. (1)], da brach in NürnbergAm 3.3.1903 fand in Nürnberg ein Gastspiel der Elf Scharfrichter am Intimen Theater statt. Nach dem Gastspiel in Nürnberg brach Wedekind wegen Streitigkeiten seine Teilnahme an der Scharfrichtertournee ab. zwischen der Regie und meiner Wenigkeit Streit aus und meine Mitwirkung hatte ein Ende. Ich ging dann nach Stuttgart und spielte Kammersänger, ohne Erfolg als Autor, aber mit ziemlichem Achtungserfolg als SchauspielerWedekind gastierte am 6. und 8.3.1903 am Wilhelma-Theater in Cannstatt bei Stuttgart in der vom Württembergischen Goethebund veranstalteten Inszenierung seines Einakters „Der Kammersänger“ [vgl. Schwäbischer Merkur, Nr. 97, 28.2.1903, Mittagsblatt, S. 3] und spielte die Titelrolle des Gerardo, deren Darstellung von der Presse gelobt wurde: „Herr Wedekind erwies sich in der Titelrolle als gewandter Schauspieler; er zeichnete den geschäftsmäßigen Modesänger und kühlen Pflichtmenschen mit gelungener Charakteristik.“ [W.: K. Wilhelma-Theater. Drei neue Einakter von Wedekind, Maeterlinck und Mirbeau. (Goethebund-Vorstellung.) In: Neues Tagblatt, Jg. 60, Nr. 55, 7.3.1903, S. 1] Die überregionale Presse meldete: „Der Stuttgarter Goethe-Bund veranstaltete [...] eine Einakteraufführung, bei der Wedekinds ‚Kammersänger‘ (mit dem Autor in der Hauptrolle), Maeterlinks ‚Eindringling‘ und Mirbeaus ‚Dieb‘ zur Darstellung kamen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 124, 9.3.1903, Abend-Ausgabe, S. (2)]. In Berlin war ich um NeujahrWedekind verbrachte den Jahreswechsel in Berlin (siehe unten). und sah die Eysoldt als LuluWedekind sah in Berlin die erfolgreiche „Erdgeist“-Inszenierung unter der Regie von Richard Vallentin am Kleinen Theater (Direktion: Hans Oberländer) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 259] mit Gertrud Eysoldt in der weiblichen Hauptrolle, deren Premiere am 17.12.1902 er wegen seiner Auftritte bei den Elf Scharfrichtern nicht hatte besuchen können [vgl. Wedekind an Gertrud Eysoldt, 20.12.1902].großartig. Dagegen war mir Reicher ungefähr das Gegentheil von dem was ich von der Rolle erwarte. Ich brauche Ihnen wol nicht zu sagen, daß ich persönlich von dem Ertrag des Erdgeistes bis jetzt nicht einen Pfennig erhalten habe, da alles von vornherein mit Beschlag belegt ist, theils durch Langens Vorschuß, theils durch andere Gläubiger. Ich hatte gehofft, mich auf einige Monate zurückziehen und ein anderes Stück beginnen zu können. Aber diesen Genuß, den höchsten, den ich vom weiteren Leben noch erwarte, muß ich vorderhand noch hinausschieben, um so mehr da ich nun auch mit den Scharfrichtern zerkriegtEduard von Keyserling, der den Abend des 24.2.1903 in München mit Wedekind verbrachte, schrieb am 25.2.1903 an Max Halbe: „Frank behauptet definitiv mit den Scharfrichtern auseinander zu sein, aber das war er doch schon öfters.“ [Gräbner/Lauinger 2021, S. 310] bin, die für mich immerhin einen ziemlich leicht verdienten Unterhalt bedeuteten.

Am Tage vor meiner Abreise nach BerlinWedekind dürfte spätestens am 28.12.1902 nach Berlin gereist sein, wie aus Korfiz Holms Brief an Albert Langen vom 5.1.1903 hervorgeht (siehe unten), und war diesem Brief zufolge am 4.1.1903 wieder zurück in München: „Nun ist Wedekind gestern aus Berlin zurückgekommen“ [Abret/Keel 1989, S. 312]. traf ich hier bei Max Halbe den Baron BergerAlfred von Berger war Direktor des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 382], wo Carl Heine als Regisseur tätig war., der sehr viel Liebes über Carl erzählte. Er sprach mit großer uneingeschränkter Anerkennung von seinen künstlerischen Leistungen. Ebenso scheint er ihn persönlich sehr hoch zu schätzen. Von Max Halbe höre ich, daß Carl jetzt Mutter Erde inscenirtMax Halbes Schauspiel „Mutter Erde“ (1898) hatte unter der Regie von Carl Heine am 26.3.1903 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere [vgl. Hamburger Fremden-Blatt, Jg. 75, Nr. 72, 26.3.1903, 2. Beilage, S. (4)].. Das Stück hat bei seiner Aufführung diesen Winter wol den stärksten Erfolg der SaisonMax Halbes Schauspiel „Mutter Erde“ hatte am 17.1.1903 am Münchner Schauspielhaus Premiere [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 56, Nr. 26, 17.1.1903, General-Anzeiger, S. 1]. Die letzte Vorstellung dieser Inszenierung fand am 11.3.1903 statt. erzielt und hält sich immer noch wacker auf dem Repertoir. Demgemäß wird auch Carl in der Inscenirung eine dankbare und ihm sympathische Aufgabe gefunden haben. Ich hatte während der verflossenen drei Jahre immer gehofft, es werde sich noch mal jemand finden, der mit mir und meinen Stücken eine Tournée unternimmt, aber trotz aller Zeitungsartikel stehe ich offenbar noch immer nicht hoch genug im Coursim Kurs. für ein solches Wagnis. Gleich zu Beginn der Saison habe ich mich zur Rehabilitirung des „Marquis von Keithhier in MünchenDie Münchner Premiere des „Marquis von Keith“ unter Wedekinds Regie und mit ihm in der Titelrolle – es spielten ferner Franz Herterich (Ernst Scholz), Ottilie Gerhäuser (Anna von Werdenfels), Anni Blaha (Molly Griesinger), Carl Sick (Konsul Casimir), Lili Marberg (Hermann Casimir), Emil Lind (Sommersberg), Julius Stettner (Saranieff), Robert Hiller (Zamrjaki), Gisela Graselli (Simba) – fand als geschlossene Vorstellung (veranstaltet vom Akademisch-Dramatischen Verein) am 20.10.1902 am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 460] statt: „Montag, den 20. Oktober. Aufführung des Akademisch-dramatischen Vereins. (Vor geladenem Publikum.) Zum ersten Male: Marquis von Keith Schauspiel in 5 Alten von Frank Wedekind.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 487, 20.10.1902, General-Anzeiger, S. 1] Die beiden weiteren Vorstellungen am 27.10.1902 und 3.11.1902 waren öffentlich. als Schauspieler in die Schanze geschlagen. Die Besetzung war, von mir natürlich abgesehen, vorzüglich. Um so enttäuschender war für mich der rasche Rückgang der Casse, so daß aus all der Mühe nur drei Vorstellungen resultirten. Um Neujahr sollte ich in Berlin, da Reicher plötzlich streikte, den Dr. Schön spielenEmanuel Reicher spielte in der Berliner „Erdgeist“-Inszenierung seit der Premiere am 17.12.1902 am Kleinen Theater in Berlin (siehe oben) die männliche Hauptrolle des Dr. Schön und drohte bald darauf wegen Krankheit auszufallen und Wedekind sollte ihn gegebenenfalls vertreten, wie aus Korfiz Holms Brief an Albert Langen vom 5.1.1903 hervorgeht: „Reicher, der den Dr. Schön spielte, erklärte auf einmal, er wäre krank und müßte einige Wochen ausruhen. Darauf bombardierte das Kleine Theater Wedekind mit Telegrammen, er müßte nach Berlin kommen entweder, um die Rolle selbst zu spielen, oder aber um durch seine Anwesenheit einen moralischen Druck auf Reicher auszuüben und ihn zum Spielen zu bringen. Das letztere gelang übrigens schließlich. Schließlich am 27. Dezember war die Reicherfrage sehr brennend geworden, und Reinhardt telefonierte mich von Berlin an, wir sollten um jeden Preis Wedekind bewegen nach Berlin zu kommen, sonst würde die Erfolgsserie des Erdgeist unterbrochen und bei einer späteren Wiederaufnahme würde die Chance sicher vorüber sein. Das Kleine Theater wäre bereit, uns sofort 400 Mark zu überweisen, [...] wenn wir uns bereit erklären, diese M. 400.– als Reisevorschuß weiterzugeben und sobald Wedekind ihm telegrafiert hätte, daß er käme. Und so geschah es.“ [Abret/Keel 1989, S. 311f.], hatte in den fünf Jahren aber leider die ganze Rolle wieder vergessen. Jetzt erscheint eben die zweite AuflageDie 2. Auflage des „Erdgeist“ kam unter dem Titel „Lulu. Dramatische Dichtung in zwei Teilen. Erster Teil: Erdgeist. Tragödie in vier Aufzügen“ [vgl. KSA 3/II, S. 861] noch im Frühjahr im Albert Langen Verlag in München heraus [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 70, Nr. 100, 2.5.1903, S. 3482]. „Dem Stück geht erstmals der ‚Prolog‘ in leicht überarbeiteter Fassung voraus. Der Dramentext stellt eine an den Erfahrungen der ersten Inszenierungen orientierte Korrektur des Erstdrucks dar“ [KSA 3/II, S. 861f.]. von „Erdgeist“. Ich habe vieles darin gestrichen und vielem einen natürlicheren Klang zu geben versucht, so daß sich nun vielleicht auch irgend eine andere Bühne dafür erwärmen wird. Bis jetzt hat nämlich, trotz des Berliner ErfolgesDie Berliner „Erdgeist“-Inszenierung (Premiere: 17.12.1902) stand noch immer auf dem Spielplan, als Wedekind den vorliegenden Brief schrieb. Die Tragödie war fast allabendlich zu sehen; um die Jahreswende 1902/03 herum stand sie lediglich am 31.12.1902 nicht auf dem Programm. Einen Monat nach der Premiere meldete die Presse: „Im Kleinen Theater wurde gestern Frank Wedekinds ‚Erdgeist‘ mit Emanuel Reicher und Gertrud Eysoldt in den Hauptrollen zum 25. Mal aufgeführt.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 30, 17.1.1903, Abend-Ausgabe, S. (3)], noch nicht ein einziges Theater auf das Stück angebissen.

Grüßen Sie bitte Carl aufs herzlichste von mir; hoffentlich sehen wir uns doch noch einmal wieder. Und seien Sie selber bestens gegrüßt von Ihrem treuergebenen
Frank Wedekind.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Wie sehr hatte ich gehofft, Sie gelegentlich der Scharfrichter-Tournee wiederzusehen. Da brach in Nürnberg zwischen der Regie und meiner Wenigkeit Streit aus und meine Mitwirkung hatte ein Ende. Ich ging dann nach Stuttgart und spielte Kammersänger, ohne Erfolg als Autor aber mit ziemlichem Achtungserfolg als Schauspieler. In Berlin war ich um Neujahr und sah die Eysoldt als Lulu ‒ großartig. Dagegen war mir Reicher ungefähr das Gegentheil von dem was ich von der Rolle erwarte. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß ich persönlich von dem Ertrag des Erdgeistes bis jetzt nicht einen Pfennig erhalten habe, da alles von vornherein mit Beschlag belegt ist, theils durch Langens Vorschuß, theils durch andere Gläubiger. Ich hatte gehofft mich auf einige Monate zurückziehen und ein neues Stück beginnen zu können. Aber diesen Genuß, den höchsten, den ich vom weiteren Leben noch erwarte, muß ich vorderhand noch hinausschieben, um so mehr da ich nun auch mit den Scharfrichtern zerkriegt bin, die für mich immerhin einen ziemlich leicht verdienten Unterhalt bedeuteten [...]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck zugänglich. Die Existenz des Originals ist verbürgt [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232].

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    18. März 1903 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Hamburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
95-97
Briefnummer:
206
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Informationen zum Bestand

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 18.3.1903. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

24.03.2024 11:28