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Kennung: 965

Leipzig, 20. Juli 1900 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate

Inhalt

[1. Druck:]


Leipzig, 20.III.1900irrtümlich datiert; dem Briefinhalt zufolge war der 20.7.1900 das Schreibdatum..


Meine liebe verehrte Freundin!

Die Sehnsucht, endlich wieder einmal zu wissen wie es Ihnen geht, die Unmenge gemeinsamer Erinnerungen, von denen ich auf Schritt und Tritt bestürmt werde, drängen mich, Ihnen zu schreiben, obwohl meine eigene ebenso komische wie unerquickliche Situation meinen Willen vollkommen geknickt hat und mich nur noch sehr selten und dann mit dem größten Widerwillen die Feder ergreifen läßt. Um Ihnen mein seltsames Verhalten kurz zu erklären, so schrieb ich, nachdem Carl und ich uns hier in Leipzig zum letzten Mal gesehenWedekind sah Carl Heine zuletzt am 8.2.1900 und in den Tagen darauf in Leipzig [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]. hatten, in München endlich unter Ach und Krach meinen „Marquis v. Keith“ fertig, verdiente auch ein hübsches Stück Geld bei der „InselWedekinds „Marquis von Keith“ (1901) erschien im Vorabdruck [vgl. KSA 4, S. 413, 425] in der von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen Monatsschrift „Die Insel“ [vgl. Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet von Frank Wedekind. In: Die Insel, Jg. 1, 3. Quartal, Nr. 7, April 1900, S. 3-76, Nr. 8, Mai 1900, S. 166-198, Nr. 9, Juni 1900, S. 255-310]. und hoffte und hoffte und hoffte, daß sich der seit nun 7 Monatenzurückgerechnet der 20.12.1899. Wedekinds Tante Auguste Bansen, die jüngste Schwester seines Vaters, war am 15.12.1899 in Hannover kinderlos gestorben, so dass die Neffen und Nichten auf ein Erbe hofften [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 199f.], das auf sich warten ließ. Wedekind hatte die ihn stark belastende Erbschaftsangelegenheit im Sinn (siehe dazu seine Korrespondenz mit Walther Oschwald). verkündete bescheidene Glücksfall endlich realisiren würde und mir ermöglichte, mir nach zehn Jahren heimathlosen Umherirrens nun endlich wieder einmal eine Stätte zu schaffen, wo ich mein Haupt hinlegen und in etwas rationellerer Weise arbeiten könnte, als mir das bisher möglich war. Daneben träumte ich davon, dramatischen Unterricht zu nehmen, zur Bühne zurückzukehren und tausend andere bescheidene schöne Dinge. Meine Hoffnung hat mich bis jetzt in unmenschlich grausamer Weise genarrt. Der RechtsanwaltDie Kanzlei des Rechtsanwalts Hans Heiliger in Hannover (Georgstraße 7) [vgl. Adreßbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1900, Teil I, S. 752] bearbeitete Wedekinds Erbschaftsangelegenheit. hatte sich verrechnet, Monat um Monat zieht sich die SacheWedekind hatte eine Erbschaft in Aussicht (siehe oben), deren Auszahlung sich jedoch verzögerte (siehe dazu Wedekinds Korrespondenz mit seinem Schwager Walther Oschwald sowie überhaupt seine Korrespondenz mit Familienmitgliedern in dieser Zeit). hinaus, schließlich kommen die Gerichtsferien und jetzt soll ich, wenn alles gut geht, mich noch einen vollen Monat gedulden. Dieser Zustand hat mich nun bis auf das Mark demoralisirt, so daß ich in München schließlich vor mir selber Reißaus nahm und mich hier in der LampestraßeWedekind hatte sich in Leipzig in der Lampestraße 13 (4. Stock links) eingemietet [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900]. auf einen Monat einmietete, in der Hoffnung, an der hiesigen BibliothekWedekind besuchte vermutlich entweder die Stadtbibliothek in Leipzig (Neumarkt 9), Öffnungszeiten des Lesesaals täglich 10 bis 13 Uhr, außerdem Dienstag, Mittwoch, Freitag und Samstag 15 bis 18 Uhr [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 130], oder die Universitätsbibliothek (Beethovenstraße 6) [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 28], Öffnungszeiten des Lesesaals (Bibliotheca Albertina) Montag bis Freitag 9 bis 13 Uhr und 15 bis 18 Uhr, Samstag 9 bis 13 Uhr [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 79]. eine bestellte ArbeitWedekind hoffte in Leipzig für eine Publikation „Das Varieté des Lebens“ (nicht nachgewiesen) für den S. Fischer Verlag arbeiten zu können [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900], die nicht realisiert wurde. absolviren zu können. Das ist meine ebenso lächerliche wie trostlose Geschichte seit dem Tage meiner wiedergewonnenen FreiheitWedekind war am 3.2.1900 aus der Festungshaft entlassen worden, die er wegen Majestätsbeleidigung verbüßte.. Womit ich diese horrenden TantalusqualenQualen dadurch, dass etwas Ersehntes zwar in greifbarer Nähe, aber nicht erreichbar ist (nach dem König Tantalus aus der griechischen Sage, der wegen Frevels gegen die Götter unstillbaren Hunger und Durst leiden musste, obwohl Essen und Trinken zum Greifen nah war). und obendrein den von mir am meisten gefürchteten Fluch der Lächerlichkeit verdient habe, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, daß irgend jemand anders nach meinen Erlebnissen dieses neue Mißgeschick tapferer bestanden haben würde als ich.

Aber nun zu Ihnen. Von Carl erhielt ich vor zwei Monaten einige Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 1.6.1900. aus AmsterdamCarl Heine gastierte auf der Gastspielreise mit seinem Ensemble am 1.6.1900 einmalig in Amsterdam mit Henrik Ibsens Schauspiel „Wenn wir Toten erwachen“ (Anfang: 20 Uhr) am Stadttheater am Leidseplein [vgl. Het Nieuws van den Dag, Nr. 9318, 1.6.1900, 4. Blatt, S. 13]. und las in den Zeitungen mit Vergnügen und Genugthuung von den auch in pekuniärer Beziehung bedeutenden Erfolgen, die er in Belgien und Holland erntete. Jetzt wird er wol nicht mehr spielen, sondern irgendwo in schöner Natur mit Ihnen der wolverdienten Erholung genießen. Aber wie haben Sie die langen Monate in Berlin verbracht? Sie werden eine Menge neuer Menschen kennen und schätzen gelernt haben; Sie werden mehr Berlinerin gewordenBeate Heine, in Berlin geboren und aufgewachsen, lebte mit ihrem Mann, dessen Dr. Heine-Ensemble nun in Berlin seinen Sitz hatte, wieder in der Stadt (Lutherstraße 17) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 262]. sein und über vieles lachen, was Sie früher eher träumerisch und muthlos stimmte. Ich habe hier in Leipzig bei jedem Schritt das Gefühl, als ob ich über Gräber wandelte, über die Gräber einer Gesellschaft voll der lebendigsten Beziehungen, einer ganzen Welt1898 der gesellige Kreis um die Literarische Gesellschaft und das Ibsen-Theater in Leipzig, zu dem Carl und Beate Heine gehört hatten., die mit Ihnen spurlos aus Leipzig verschwunden ist. Was an Trümmern davon zurückgeblieben, das kann mir wenig Freude mehr machen. Ebenso war es in München. Ich muß und muß in größere Kreise gelangen; dazu hoffte ich von dem tückischen Glücksfall einige Hülfe. Nun, es muß ja kommen; wenn bis dahin nur nicht der letzte Rest an Raketensatzdas Pulver in der Rakete (mit Brandsatz gefüllte Blechbüchse), bildlich gemeint. zum Teufel geht. Aber ich möchte Ihnen um alles in der Welt nichts vorjammern. Vor vierzehn Tagenam 6.7.1900 (genau gerechnet), an dem Wedekind in München Ernst von Wolzogen getroffen hat. traf ich Wolzogen in München, der mir die Hand zur Versöhnung bot und mich für sein Berliner Tingel TangelErnst von Wolzogen plante die Gründung eines Kabaretts, das Bunte Theater (Überbrettl) in Berlin (offiziell eröffnet am 18.1.1901). zu gewinnen trachtete. Ich habe nach wie vor wenig Zutrauen zu dem Unternehmen, nun erst recht, wo Wolzogen an der Spitze steht, dem alles Verständnis für Humor fehlt. Uebrigens hörte ich mit Freude gestern aus einem ruhigen sachlichen Gespräch mit dem hiesigen Oberregisseur AdlerLeopold Adler war Oberregisseur des Schauspiels an den vereinigten Stadttheatern in Leipzig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 409]., mit dem ich durch Hezel Der Wedekind freundschaftlich verbundene Rechtsanwalt Kurt Hezel aus Leipzig hatte ihn bei seinem Majestätsbeleidigungsprozess verteidigt; Wedekind dürfte in Leipzig vor allem mit ihm Kontakt gehabt haben.zusammenkam, einen wie unbestrittenen und nachhaltigen Eindruck Carl hier in LeipzigCarl Heine gastierte mit seinem Ensemble vom 12. bis 15.2.1900 im Krystallpalast in Leipzig [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]. zurückgelassen und wie ernst er gerade von seinen Gegnern genommen wird. Ich glaube, es hat sich auch hier gezeigt, daß im entscheidenden Moment die besten Freunde immer die unzuverlässigsten Factoren sind. Meßthaler, der momentan hier spieltEmil Meßthaler war als Direktor des Leipziger Sommer-Theaters in der Stadt (Spielstätte: Hotel Stadt Nürnberg, Bayerische Straße 8-10) und auch als Schauspieler auf der Bühne zu sehen. Eröffnungsvorstellung des Leipziger Sommer-Theaters war am 1.7.1900 [vgl. Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 329, 1.7.1900, S. 5329], davor gastierte er im Krystallpalast mit seinem „Meßthaler-Ensemble“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 292, 11.6.1900, Abend-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4781]., wird künstlerisch nicht ernst genommen. Ich hoffe sehr darauf, daß wir uns bald einmal wiedersehen. Ich hatte vor, im August nach Berlin zu kommen; da mir jetzt aber alles durcheinander geworfen ist, habe ich den Plan wieder fallen lassen.

Grüßen Sie Carl aufs herzlichste von mir. Jeder Schritt, den er thut, ist für mich Gegenstand des lebhaftesten Interesses. Vielleicht werden unsere beiderseitigen Bestrebungen doch auch wieder einmal miteinander verknüpft. Aber auch sonst begleiten ihn meine aufrichtigsten Wünsche.

Mit herzlichen Grüßen Ihrer gedenkend in Freundschaft und Dankbarkeit
Frank.


Zu meinem Schrecken fällt mir ein, daß ich den Brief erst in vier TagenWedekinds 36. Geburtstag am 24.7.1900. abschicken kann, da Sie sonst imstande wären, ihn zum Vorwand zu nehmen, um mir wieder ein Geschenk zu machen. Sie müssen sich das selber zuschreiben. Warum verwöhnen Sie Ihre Freunde so!


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Die Sehnsucht, endlich wieder einmal zu wissen wie es Ihnen geht, die Unmenge gemeinsamer Erinnerungen, von denen ich auf Schritt und Tritt bestürmt werde, drängen mich, Ihnen zu schreiben, obwohl meine eigene ebenso komische wie unerquickliche Situation meinen Willen vollkommen geknickt hat und mich nur noch sehr selten und dann mit dem größten Widerwillen die Feder ergreifen läßt. Um Ihnen mein seltsames Verhalten kurz zu erklären, so schrieb ich, nachdem Carl und ich uns hier in Leipzig zum letzten Mal gesehen hatten, in München endlich unter Ach und Krach meinen „Marquis v. Keith“fertig, verdiente auch ein hübsches Stück Geld bei der „Insel“ und hoffte und hoffte und hoffte, daß sich der seit nun 7 Monaten verkündete bescheidene Glücksfall endlich realisiren würde und mir ermöglichte, mir nach zehn Jahren heimatlosen Umherirrens nur endlich wieder einmal eine Stätte zu schaffen, wo ich mein Haupt hinlegen und in etwas rationellerer Weise arbeiten konnte, als mir das bisher möglich war. Daneben träumte ich davon dramatischen Unterricht zu nehmen, zur Bühne zurückzukehren und tausend andere bescheidene schöne Dinge. Meine Hoffnung hat mich bis jetzt in unmenschlich grausamer Weise genarrt [...]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck zugänglich. Die Existenz des Originals ist verbürgt [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 20.7.1900 ist als Ankerdatum gesetzt – das wahrscheinliche Schreibdatum, der Angabe im Autografenhandel zufolge [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232] und durch den Briefinhalt bestätigt.

Dem Briefinhalt zufolge wurde der Brief erst am 24.7.1900 abgeschickt.

  • Schreibort

    Leipzig
    20. Juli 1900 (Freitag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Leipzig
    24. Juli 1900 (Dienstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
43-46
Briefnummer:
174
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief irrtümlich auf den 20.3.1899 datiert.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 20.7.1900. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

16.03.2024 15:54
Kennung: 965

Leipzig, 20. Juli 1900 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate
 
 

Inhalt

[1. Druck:]


Leipzig, 20.III.1900irrtümlich datiert; dem Briefinhalt zufolge war der 20.7.1900 das Schreibdatum..


Meine liebe verehrte Freundin!

Die Sehnsucht, endlich wieder einmal zu wissen wie es Ihnen geht, die Unmenge gemeinsamer Erinnerungen, von denen ich auf Schritt und Tritt bestürmt werde, drängen mich, Ihnen zu schreiben, obwohl meine eigene ebenso komische wie unerquickliche Situation meinen Willen vollkommen geknickt hat und mich nur noch sehr selten und dann mit dem größten Widerwillen die Feder ergreifen läßt. Um Ihnen mein seltsames Verhalten kurz zu erklären, so schrieb ich, nachdem Carl und ich uns hier in Leipzig zum letzten Mal gesehenWedekind sah Carl Heine zuletzt am 8.2.1900 und in den Tagen darauf in Leipzig [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]. hatten, in München endlich unter Ach und Krach meinen „Marquis v. Keith“ fertig, verdiente auch ein hübsches Stück Geld bei der „InselWedekinds „Marquis von Keith“ (1901) erschien im Vorabdruck [vgl. KSA 4, S. 413, 425] in der von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen Monatsschrift „Die Insel“ [vgl. Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet von Frank Wedekind. In: Die Insel, Jg. 1, 3. Quartal, Nr. 7, April 1900, S. 3-76, Nr. 8, Mai 1900, S. 166-198, Nr. 9, Juni 1900, S. 255-310]. und hoffte und hoffte und hoffte, daß sich der seit nun 7 Monatenzurückgerechnet der 20.12.1899. Wedekinds Tante Auguste Bansen, die jüngste Schwester seines Vaters, war am 15.12.1899 in Hannover kinderlos gestorben, so dass die Neffen und Nichten auf ein Erbe hofften [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 199f.], das auf sich warten ließ. Wedekind hatte die ihn stark belastende Erbschaftsangelegenheit im Sinn (siehe dazu seine Korrespondenz mit Walther Oschwald). verkündete bescheidene Glücksfall endlich realisiren würde und mir ermöglichte, mir nach zehn Jahren heimathlosen Umherirrens nun endlich wieder einmal eine Stätte zu schaffen, wo ich mein Haupt hinlegen und in etwas rationellerer Weise arbeiten könnte, als mir das bisher möglich war. Daneben träumte ich davon, dramatischen Unterricht zu nehmen, zur Bühne zurückzukehren und tausend andere bescheidene schöne Dinge. Meine Hoffnung hat mich bis jetzt in unmenschlich grausamer Weise genarrt. Der RechtsanwaltDie Kanzlei des Rechtsanwalts Hans Heiliger in Hannover (Georgstraße 7) [vgl. Adreßbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1900, Teil I, S. 752] bearbeitete Wedekinds Erbschaftsangelegenheit. hatte sich verrechnet, Monat um Monat zieht sich die SacheWedekind hatte eine Erbschaft in Aussicht (siehe oben), deren Auszahlung sich jedoch verzögerte (siehe dazu Wedekinds Korrespondenz mit seinem Schwager Walther Oschwald sowie überhaupt seine Korrespondenz mit Familienmitgliedern in dieser Zeit). hinaus, schließlich kommen die Gerichtsferien und jetzt soll ich, wenn alles gut geht, mich noch einen vollen Monat gedulden. Dieser Zustand hat mich nun bis auf das Mark demoralisirt, so daß ich in München schließlich vor mir selber Reißaus nahm und mich hier in der LampestraßeWedekind hatte sich in Leipzig in der Lampestraße 13 (4. Stock links) eingemietet [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900]. auf einen Monat einmietete, in der Hoffnung, an der hiesigen BibliothekWedekind besuchte vermutlich entweder die Stadtbibliothek in Leipzig (Neumarkt 9), Öffnungszeiten des Lesesaals täglich 10 bis 13 Uhr, außerdem Dienstag, Mittwoch, Freitag und Samstag 15 bis 18 Uhr [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 130], oder die Universitätsbibliothek (Beethovenstraße 6) [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 28], Öffnungszeiten des Lesesaals (Bibliotheca Albertina) Montag bis Freitag 9 bis 13 Uhr und 15 bis 18 Uhr, Samstag 9 bis 13 Uhr [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 79]. eine bestellte ArbeitWedekind hoffte in Leipzig für eine Publikation „Das Varieté des Lebens“ (nicht nachgewiesen) für den S. Fischer Verlag arbeiten zu können [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900], die nicht realisiert wurde. absolviren zu können. Das ist meine ebenso lächerliche wie trostlose Geschichte seit dem Tage meiner wiedergewonnenen FreiheitWedekind war am 3.2.1900 aus der Festungshaft entlassen worden, die er wegen Majestätsbeleidigung verbüßte.. Womit ich diese horrenden TantalusqualenQualen dadurch, dass etwas Ersehntes zwar in greifbarer Nähe, aber nicht erreichbar ist (nach dem König Tantalus aus der griechischen Sage, der wegen Frevels gegen die Götter unstillbaren Hunger und Durst leiden musste, obwohl Essen und Trinken zum Greifen nah war). und obendrein den von mir am meisten gefürchteten Fluch der Lächerlichkeit verdient habe, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, daß irgend jemand anders nach meinen Erlebnissen dieses neue Mißgeschick tapferer bestanden haben würde als ich.

Aber nun zu Ihnen. Von Carl erhielt ich vor zwei Monaten einige Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 1.6.1900. aus AmsterdamCarl Heine gastierte auf der Gastspielreise mit seinem Ensemble am 1.6.1900 einmalig in Amsterdam mit Henrik Ibsens Schauspiel „Wenn wir Toten erwachen“ (Anfang: 20 Uhr) am Stadttheater am Leidseplein [vgl. Het Nieuws van den Dag, Nr. 9318, 1.6.1900, 4. Blatt, S. 13]. und las in den Zeitungen mit Vergnügen und Genugthuung von den auch in pekuniärer Beziehung bedeutenden Erfolgen, die er in Belgien und Holland erntete. Jetzt wird er wol nicht mehr spielen, sondern irgendwo in schöner Natur mit Ihnen der wolverdienten Erholung genießen. Aber wie haben Sie die langen Monate in Berlin verbracht? Sie werden eine Menge neuer Menschen kennen und schätzen gelernt haben; Sie werden mehr Berlinerin gewordenBeate Heine, in Berlin geboren und aufgewachsen, lebte mit ihrem Mann, dessen Dr. Heine-Ensemble nun in Berlin seinen Sitz hatte, wieder in der Stadt (Lutherstraße 17) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 262]. sein und über vieles lachen, was Sie früher eher träumerisch und muthlos stimmte. Ich habe hier in Leipzig bei jedem Schritt das Gefühl, als ob ich über Gräber wandelte, über die Gräber einer Gesellschaft voll der lebendigsten Beziehungen, einer ganzen Welt1898 der gesellige Kreis um die Literarische Gesellschaft und das Ibsen-Theater in Leipzig, zu dem Carl und Beate Heine gehört hatten., die mit Ihnen spurlos aus Leipzig verschwunden ist. Was an Trümmern davon zurückgeblieben, das kann mir wenig Freude mehr machen. Ebenso war es in München. Ich muß und muß in größere Kreise gelangen; dazu hoffte ich von dem tückischen Glücksfall einige Hülfe. Nun, es muß ja kommen; wenn bis dahin nur nicht der letzte Rest an Raketensatzdas Pulver in der Rakete (mit Brandsatz gefüllte Blechbüchse), bildlich gemeint. zum Teufel geht. Aber ich möchte Ihnen um alles in der Welt nichts vorjammern. Vor vierzehn Tagenam 6.7.1900 (genau gerechnet), an dem Wedekind in München Ernst von Wolzogen getroffen hat. traf ich Wolzogen in München, der mir die Hand zur Versöhnung bot und mich für sein Berliner Tingel TangelErnst von Wolzogen plante die Gründung eines Kabaretts, das Bunte Theater (Überbrettl) in Berlin (offiziell eröffnet am 18.1.1901). zu gewinnen trachtete. Ich habe nach wie vor wenig Zutrauen zu dem Unternehmen, nun erst recht, wo Wolzogen an der Spitze steht, dem alles Verständnis für Humor fehlt. Uebrigens hörte ich mit Freude gestern aus einem ruhigen sachlichen Gespräch mit dem hiesigen Oberregisseur AdlerLeopold Adler war Oberregisseur des Schauspiels an den vereinigten Stadttheatern in Leipzig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 409]., mit dem ich durch Hezel Der Wedekind freundschaftlich verbundene Rechtsanwalt Kurt Hezel aus Leipzig hatte ihn bei seinem Majestätsbeleidigungsprozess verteidigt; Wedekind dürfte in Leipzig vor allem mit ihm Kontakt gehabt haben.zusammenkam, einen wie unbestrittenen und nachhaltigen Eindruck Carl hier in LeipzigCarl Heine gastierte mit seinem Ensemble vom 12. bis 15.2.1900 im Krystallpalast in Leipzig [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]. zurückgelassen und wie ernst er gerade von seinen Gegnern genommen wird. Ich glaube, es hat sich auch hier gezeigt, daß im entscheidenden Moment die besten Freunde immer die unzuverlässigsten Factoren sind. Meßthaler, der momentan hier spieltEmil Meßthaler war als Direktor des Leipziger Sommer-Theaters in der Stadt (Spielstätte: Hotel Stadt Nürnberg, Bayerische Straße 8-10) und auch als Schauspieler auf der Bühne zu sehen. Eröffnungsvorstellung des Leipziger Sommer-Theaters war am 1.7.1900 [vgl. Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 329, 1.7.1900, S. 5329], davor gastierte er im Krystallpalast mit seinem „Meßthaler-Ensemble“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 292, 11.6.1900, Abend-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4781]., wird künstlerisch nicht ernst genommen. Ich hoffe sehr darauf, daß wir uns bald einmal wiedersehen. Ich hatte vor, im August nach Berlin zu kommen; da mir jetzt aber alles durcheinander geworfen ist, habe ich den Plan wieder fallen lassen.

Grüßen Sie Carl aufs herzlichste von mir. Jeder Schritt, den er thut, ist für mich Gegenstand des lebhaftesten Interesses. Vielleicht werden unsere beiderseitigen Bestrebungen doch auch wieder einmal miteinander verknüpft. Aber auch sonst begleiten ihn meine aufrichtigsten Wünsche.

Mit herzlichen Grüßen Ihrer gedenkend in Freundschaft und Dankbarkeit
Frank.


Zu meinem Schrecken fällt mir ein, daß ich den Brief erst in vier TagenWedekinds 36. Geburtstag am 24.7.1900. abschicken kann, da Sie sonst imstande wären, ihn zum Vorwand zu nehmen, um mir wieder ein Geschenk zu machen. Sie müssen sich das selber zuschreiben. Warum verwöhnen Sie Ihre Freunde so!


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Die Sehnsucht, endlich wieder einmal zu wissen wie es Ihnen geht, die Unmenge gemeinsamer Erinnerungen, von denen ich auf Schritt und Tritt bestürmt werde, drängen mich, Ihnen zu schreiben, obwohl meine eigene ebenso komische wie unerquickliche Situation meinen Willen vollkommen geknickt hat und mich nur noch sehr selten und dann mit dem größten Widerwillen die Feder ergreifen läßt. Um Ihnen mein seltsames Verhalten kurz zu erklären, so schrieb ich, nachdem Carl und ich uns hier in Leipzig zum letzten Mal gesehen hatten, in München endlich unter Ach und Krach meinen „Marquis v. Keith“fertig, verdiente auch ein hübsches Stück Geld bei der „Insel“ und hoffte und hoffte und hoffte, daß sich der seit nun 7 Monaten verkündete bescheidene Glücksfall endlich realisiren würde und mir ermöglichte, mir nach zehn Jahren heimatlosen Umherirrens nur endlich wieder einmal eine Stätte zu schaffen, wo ich mein Haupt hinlegen und in etwas rationellerer Weise arbeiten konnte, als mir das bisher möglich war. Daneben träumte ich davon dramatischen Unterricht zu nehmen, zur Bühne zurückzukehren und tausend andere bescheidene schöne Dinge. Meine Hoffnung hat mich bis jetzt in unmenschlich grausamer Weise genarrt [...]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck zugänglich. Die Existenz des Originals ist verbürgt [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 20.7.1900 ist als Ankerdatum gesetzt – das wahrscheinliche Schreibdatum, der Angabe im Autografenhandel zufolge [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232] und durch den Briefinhalt bestätigt.

Dem Briefinhalt zufolge wurde der Brief erst am 24.7.1900 abgeschickt.

  • Schreibort

    Leipzig
    20. Juli 1900 (Freitag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Leipzig
    24. Juli 1900 (Dienstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
43-46
Briefnummer:
174
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief irrtümlich auf den 20.3.1899 datiert.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 20.7.1900. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
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Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

16.03.2024 15:54