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Kennung: 950

Hamburg, 14. September 1899 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Heine, Beate

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Hamburg,
Eichenallée 11.
II.

Mein lieber Freund ‒ so lange habe ich sie wohl noch nie warten lassen mit meiner Antwort ‒ aber ich versichere Sie, ich hätte gerne schon eher geschrieben. Es liegt aber eine recht unruhige Zeit hinter mir ‒ hinter uns. Also, nachträglich schönen Dank für Ihre lieben Zeilenvgl. Wedekind an Beate Heine, 31.7.1899. ‒ ich freute mich so, daß Sie die Schreibunterlage haben brauchen können! Damals warteten wir mit Ihnen auf die Entscheidung Ihrer AngelegenheitWedekind hatte zunächst auf seine Gerichtsverhandlung gewartet und dann auf die Revision des Urteils nach seinem Gnadenersuch. Nachdem er am 3.8.1899 wegen Majestätsbeleidigung zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt worden war, wurde diese Strafe am 23.8.1899 in Festungshaft umgewandelt, die er am 21.9.1899 antrat [vgl. KSA 1/II, S. 1710, 1714-1717]., u. haben uns dann des | Resultates sehr gefreut. Wir sind begierig, wo Sie nun hinkommenWedekind verbüßte die noch abzusitzende Haft ab dem 21.9.1899 (siehe oben) auf der Festung Königstein in der Nähe von Dresden.! ‒ Nun will ich Ihnen von uns erzählen. Die letzte Helgolander Zeit war schon ganz von dem bevorstehenden Abschied beeinflußt ‒ nach der langen, herrlichen Zeit kein Wunder ‒ in circa 8 Wochen kann man sich fest einrichten, wenn man ein Stück Erde so liebt, wie wir unsere schöne, merkwürdige, rothe Zauberinsel. Die letzte Zeit war das Wetter nicht mehr so beständig, und, merkwürdig, nach den paar Sturmtagen war’s plötzlich Herbst geworden ‒ ein kühler Ton in der Luft ‒ u. Alles durchsichtiger ‒ der Sommer war mit dem Sturm fortgegangen. | Aber es war nicht weniger schön ‒ nur anders. Zuletzt hatten wir unsere kleine Nichte FridaFrieda Scharfe, eine Tochter von Beate Heines Schwägerin Blanka Scharfe (geb. Heine). noch 1 ½ Tage dort ‒ das war nett, ihr alles Schöne zu zeigen, gewissermaßen als Wirth. Wir wollten eigentlich direkt über Bremen zu meinen Geschwistern fahren ‒ aber es erhob sich ein derartiger Südost, daß ich todtsicher seekrank geworden wäre auf der 4stündigen Fahrt ‒ u. so fuhren wir feige hierher und am folgenden Tage nach WilhelmshavenBeate Heines Bruder Franz Wüerst lebte dort. Er war Bauingenieur und beaufsichtigte im Dienst des Reichsmarineamts in leitender Funktion den Hafenbau in Wilhelmshaven.. Dort erlebten wir anderthalb sehr hübsche harmonische Tage, mit behaglichem Gespräch u. viel Musik ‒ nach Aller Ausspruch muß ich sehr gut gesungen haben, u. ich war stolz über ein Lob meines Mannes, das die Bescheidenheit mir verbietet, | zu wiederholen, u. darüber, daß mein großer, weißhaariger Bruder lange Thränen weinte ‒ sowas macht doch wirklich Freude! ‒ Hier verlebten wir ein paar ruhige Tage u. dann fuhr Carl mal wieder nach Berlin ‒ leider ohne irgend welchen Erfolg. Die AussichtenCarl Heines berufliche Perspektiven, über die er Wedekind geschrieben hat [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899]., von denen Sie wissen, entscheiden sich erst Oktober, u. ich fürchte, für diesen Winter wird’s nichts mehr werden ‒ das dachten wir uns ja aber halb u. halb; ich verhehle Ihnen nicht, daß ich sehr traurig darüber bin, denn ich sorge mich, wie Carl es aushalten wird ‒ er ist doch nun mal geschaffen für diese „praktische“ Thätigkeit ‒ für den Schreibtisch ist er (Gottlob, hätt ich beinah gesagt) verdorben. Zwar | hat er in den ersten Tagen unseres Hierseins 2 längst versprochen gewesene Artikel geschrieben und jetzt arbeitet er seinen seligen MyliusCarl Heine schrieb eine literarhistorische Abhandlung über den Wissenschaftsjournalisten, Naturforscher und Schriftsteller Christlob Mylius; seine Studie „Ein Journalistenleben des 18. Jahrhunderts“ erschien erst Jahre später in drei Teilen in der „Belletristisch-Litterarischen Beilage der Hamburger Nachrichten“ (Teil I am 6.3.1904, Teil II am 13.3.1904, Teil III am 20.3.1904). um ‒ aber Sie verstehen, das ist doch Alles nur Nothbehelf. Uebrigens geht er Ende September noch mal nach Dresden, da er dort einige Fäden geknüpft hat, die sich vielleicht nicht so ganz nutzlos erweisen, u. die er nicht wieder aus der Hand geben möchte. Was mich betrifft, so wünsche ich am Meisten, daß die Berliner Sache sich realisirte ‒ Publikum u. Stellung wäre so sehr viel mehr nach unserm Geschmack, als hier in Hamburg. Uebrigens sitzen wir in einer gekündigten Wohnung ‒ | auch nicht sehr behaglich, da wir doch eventuell wohnen bleiben möchten! ‒ ‒ Wissen Sie, Ungewißheit ist doch das Allerscheußlichste ‒ das haben Sie ja letzthin auch durchgekostet ‒ u. darunter leiden wir augenblicklich eben sehr. ‒ Sehr netten LogirbesuchBesuch, bei dem die Gäste in der eigenen Wohnung untergebracht sind (und nicht in einem Hotel zum Beispiel). hatten wir jetzt ‒ 3 Tage lang ‒ ein Schulfreund meines Mannes ‒ ach ‒ Sie kennen die Leute ja, Dr. Oberdiek nebst FrauDr. med. Karl Oberdieck, praktischer Arzt in Hannover (Marienstraße 11) [vgl. Adreßbuch Stadt- und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1900, Teil I, S. 943], und dessen aus Göttingen stammende Gattin Gertrud Oberdieck (geb. Bock), mit der er seit knapp drei Jahren verheiratet war [vgl. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Jg. 36, Nr. 558, 27.11.1896, Abend-Ausgabe, S. 3]. aus Hannover!? Wir haben oft von Ihnen gesprochen. Das Netteste bei diesem Besuch war, die beiden Freunde sich in Schul-Erinnerungenan das Gymnasium in Rinteln, wo Carl Heine im Herbst 1883 das Abitur ablegte, während der aus Hannover stammende Karl Oberdieck um diese Zeit dort noch Primaner war [vgl. Jahresbericht über das Königliche Gymnasium zu Rinteln. Rinteln 1884, S. 22f.]. vertiefen zu sehn; diese Reminiscenzen bilden das hauptsächlichste Band zwischen den Beiden. Wir Frauen kennen nun auch schon | jeden Lehrer mit seinen Eigenthümlichkeiten, u. freuten uns mit. Ich sage Ihnen, die Seligkeit, wenn einer wieder was rausgefunden hatte, das der Andre vergessen ‒ Die Beiden lachten wie die Bengels ‒ wissen Sie, so aus dem Magen, ganz anders als sonst ‒ zu nett war das! Im Uebrigen lasen u. musicirten wir, gingen in den Zoologischen Garten, einmal ins Theater, u. machten die Cäsesche Rundfahrt„H. Käse’s Rundfahrt“ war für Stadt- und Hafenrundfahrten in Hamburg einschlägig. „Abfahrt 10 Uhr Morg. vom Alsterpavillon [...]. An die Wagenfahrt um die Alster schließt sich die Dampferrundfahrt durch die Häfen. Gegen 1 Uhr ¼st. Halt in St. Pauli Fährhaus [...], dann mit Wagen durch Altona und St. Pauli zum Alsterpavillon zurück. Dauer c. 4 St.“ [Baedeker 1902,S. 36] Veranstalter war das Reisebüro und Zigarrengeschäft H. Käse am Alsterdamm 39. mit. Wissen Sie nicht noch? Erst per mailcoach (engl.) Postkutsche.durch die Stadt u. dann durch den Hafen ‒ Sie saßen damals noch so gräßlich unbequem! ‒ Oberdieks sind nette, unspießbürgerliche Leute, mit Humor, u. Interesse | an der Kunst ‒ also nette Gäste. Aber, etwas strengte mich furchtbar an,/:/ gleich nach dem ersten Frühstück „frohe Unterhaltung“, und eigentlich dann den ganzen Tag ‒ nach 8wöchentlichem Schweigen in Helgoland konnte ich das schlecht aushalten! ‒ Von mir speziell kann ich Ihnen wenig sagen ‒ vielleicht sehen wir uns im Frühjahr ‒ dann sehen Sie selbst, ob Sie tyrannischer Shannon-Registratornach der englischen Firma Shannon Registrator Co. benannte, in Deutschland von der Firma August Zeiss & Co. in Berlin unter diesem Namen vertriebene und seit den 1880er Jahren gebräuchliche Sortiereinrichtung zum Ordnen und Aufbewahren von Korrespondenz (auch: Systemmöbel mit Schubladen und Regaleinlagen). So heißt es 1893 in einem Bericht über innovative Büroeinrichtung: „Sehr reichhaltig ist die Sammlung von Registrirungs-Apparaten für Briefe und Documente. Einer dieser Apparate, die Shannon-Binding-Case, der bekannte Shannon-Registrator, hat auch in Deutschland Glück gemacht.“ Hervorgehoben wurde „Geist der Specialisirung“ dieses Systems und erklärt: „Der Shannon-Registrator erhielt auch die höchste Auszeichnung auf der Weltausstellung in Chicago“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 579, 10.12.1893, Morgen-Ausgabe, S. 11]. mich noch in dasselbe Schubfach einkasteln wie sonst ‒ ich glaube kaum. Und nun leben Sie wohl ‒ im allerbesten Sinne des Worts, so wohl als thunlich, u. lassen Sie mal wieder von sich hören ‒ Sie wissen, daß wir uns darüber freuen! Mit herzlichen Grüßen von uns Beiden
Ihre
Beate Heine.

d. 14.9.99.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Notizen mit Tinte von fremder Hand jeweils zu Beginn des Bogens auf Seite 1 oben („II B. | Schr. Frank Wedekind | 15/9 99 / Boz“) und auf Seite 5 oben (ebenso, hier mit unterstrichenem Namen). Es handelt sich um Eingangsvermerke im Gefängnis in Leipzig, in dem der Schriftsteller (so ist wohl die Abkürzung aufzulösen) inhaftiert war.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Den Notizen von fremder Hand auf dem Brief zufolge traf er am 15.9.1899 in dem Gefängnis in Leipzig ein, in dem Wedekind inhaftiert war (oder Wedekind erhielt ihn an diesem Tag).

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 65
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Beate Heine an Frank Wedekind, 14.9.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

02.10.2024 14:29
Kennung: 950

Hamburg, 14. September 1899 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Heine, Beate

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Hamburg,
Eichenallée 11.
II.

Mein lieber Freund ‒ so lange habe ich sie wohl noch nie warten lassen mit meiner Antwort ‒ aber ich versichere Sie, ich hätte gerne schon eher geschrieben. Es liegt aber eine recht unruhige Zeit hinter mir ‒ hinter uns. Also, nachträglich schönen Dank für Ihre lieben Zeilenvgl. Wedekind an Beate Heine, 31.7.1899. ‒ ich freute mich so, daß Sie die Schreibunterlage haben brauchen können! Damals warteten wir mit Ihnen auf die Entscheidung Ihrer AngelegenheitWedekind hatte zunächst auf seine Gerichtsverhandlung gewartet und dann auf die Revision des Urteils nach seinem Gnadenersuch. Nachdem er am 3.8.1899 wegen Majestätsbeleidigung zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt worden war, wurde diese Strafe am 23.8.1899 in Festungshaft umgewandelt, die er am 21.9.1899 antrat [vgl. KSA 1/II, S. 1710, 1714-1717]., u. haben uns dann des | Resultates sehr gefreut. Wir sind begierig, wo Sie nun hinkommenWedekind verbüßte die noch abzusitzende Haft ab dem 21.9.1899 (siehe oben) auf der Festung Königstein in der Nähe von Dresden.! ‒ Nun will ich Ihnen von uns erzählen. Die letzte Helgolander Zeit war schon ganz von dem bevorstehenden Abschied beeinflußt ‒ nach der langen, herrlichen Zeit kein Wunder ‒ in circa 8 Wochen kann man sich fest einrichten, wenn man ein Stück Erde so liebt, wie wir unsere schöne, merkwürdige, rothe Zauberinsel. Die letzte Zeit war das Wetter nicht mehr so beständig, und, merkwürdig, nach den paar Sturmtagen war’s plötzlich Herbst geworden ‒ ein kühler Ton in der Luft ‒ u. Alles durchsichtiger ‒ der Sommer war mit dem Sturm fortgegangen. | Aber es war nicht weniger schön ‒ nur anders. Zuletzt hatten wir unsere kleine Nichte FridaFrieda Scharfe, eine Tochter von Beate Heines Schwägerin Blanka Scharfe (geb. Heine). noch 1 ½ Tage dort ‒ das war nett, ihr alles Schöne zu zeigen, gewissermaßen als Wirth. Wir wollten eigentlich direkt über Bremen zu meinen Geschwistern fahren ‒ aber es erhob sich ein derartiger Südost, daß ich todtsicher seekrank geworden wäre auf der 4stündigen Fahrt ‒ u. so fuhren wir feige hierher und am folgenden Tage nach WilhelmshavenBeate Heines Bruder Franz Wüerst lebte dort. Er war Bauingenieur und beaufsichtigte im Dienst des Reichsmarineamts in leitender Funktion den Hafenbau in Wilhelmshaven.. Dort erlebten wir anderthalb sehr hübsche harmonische Tage, mit behaglichem Gespräch u. viel Musik ‒ nach Aller Ausspruch muß ich sehr gut gesungen haben, u. ich war stolz über ein Lob meines Mannes, das die Bescheidenheit mir verbietet, | zu wiederholen, u. darüber, daß mein großer, weißhaariger Bruder lange Thränen weinte ‒ sowas macht doch wirklich Freude! ‒ Hier verlebten wir ein paar ruhige Tage u. dann fuhr Carl mal wieder nach Berlin ‒ leider ohne irgend welchen Erfolg. Die AussichtenCarl Heines berufliche Perspektiven, über die er Wedekind geschrieben hat [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899]., von denen Sie wissen, entscheiden sich erst Oktober, u. ich fürchte, für diesen Winter wird’s nichts mehr werden ‒ das dachten wir uns ja aber halb u. halb; ich verhehle Ihnen nicht, daß ich sehr traurig darüber bin, denn ich sorge mich, wie Carl es aushalten wird ‒ er ist doch nun mal geschaffen für diese „praktische“ Thätigkeit ‒ für den Schreibtisch ist er (Gottlob, hätt ich beinah gesagt) verdorben. Zwar | hat er in den ersten Tagen unseres Hierseins 2 längst versprochen gewesene Artikel geschrieben und jetzt arbeitet er seinen seligen MyliusCarl Heine schrieb eine literarhistorische Abhandlung über den Wissenschaftsjournalisten, Naturforscher und Schriftsteller Christlob Mylius; seine Studie „Ein Journalistenleben des 18. Jahrhunderts“ erschien erst Jahre später in drei Teilen in der „Belletristisch-Litterarischen Beilage der Hamburger Nachrichten“ (Teil I am 6.3.1904, Teil II am 13.3.1904, Teil III am 20.3.1904). um ‒ aber Sie verstehen, das ist doch Alles nur Nothbehelf. Uebrigens geht er Ende September noch mal nach Dresden, da er dort einige Fäden geknüpft hat, die sich vielleicht nicht so ganz nutzlos erweisen, u. die er nicht wieder aus der Hand geben möchte. Was mich betrifft, so wünsche ich am Meisten, daß die Berliner Sache sich realisirte ‒ Publikum u. Stellung wäre so sehr viel mehr nach unserm Geschmack, als hier in Hamburg. Uebrigens sitzen wir in einer gekündigten Wohnung ‒ | auch nicht sehr behaglich, da wir doch eventuell wohnen bleiben möchten! ‒ ‒ Wissen Sie, Ungewißheit ist doch das Allerscheußlichste ‒ das haben Sie ja letzthin auch durchgekostet ‒ u. darunter leiden wir augenblicklich eben sehr. ‒ Sehr netten LogirbesuchBesuch, bei dem die Gäste in der eigenen Wohnung untergebracht sind (und nicht in einem Hotel zum Beispiel). hatten wir jetzt ‒ 3 Tage lang ‒ ein Schulfreund meines Mannes ‒ ach ‒ Sie kennen die Leute ja, Dr. Oberdiek nebst FrauDr. med. Karl Oberdieck, praktischer Arzt in Hannover (Marienstraße 11) [vgl. Adreßbuch Stadt- und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1900, Teil I, S. 943], und dessen aus Göttingen stammende Gattin Gertrud Oberdieck (geb. Bock), mit der er seit knapp drei Jahren verheiratet war [vgl. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Jg. 36, Nr. 558, 27.11.1896, Abend-Ausgabe, S. 3]. aus Hannover!? Wir haben oft von Ihnen gesprochen. Das Netteste bei diesem Besuch war, die beiden Freunde sich in Schul-Erinnerungenan das Gymnasium in Rinteln, wo Carl Heine im Herbst 1883 das Abitur ablegte, während der aus Hannover stammende Karl Oberdieck um diese Zeit dort noch Primaner war [vgl. Jahresbericht über das Königliche Gymnasium zu Rinteln. Rinteln 1884, S. 22f.]. vertiefen zu sehn; diese Reminiscenzen bilden das hauptsächlichste Band zwischen den Beiden. Wir Frauen kennen nun auch schon | jeden Lehrer mit seinen Eigenthümlichkeiten, u. freuten uns mit. Ich sage Ihnen, die Seligkeit, wenn einer wieder was rausgefunden hatte, das der Andre vergessen ‒ Die Beiden lachten wie die Bengels ‒ wissen Sie, so aus dem Magen, ganz anders als sonst ‒ zu nett war das! Im Uebrigen lasen u. musicirten wir, gingen in den Zoologischen Garten, einmal ins Theater, u. machten die Cäsesche Rundfahrt„H. Käse’s Rundfahrt“ war für Stadt- und Hafenrundfahrten in Hamburg einschlägig. „Abfahrt 10 Uhr Morg. vom Alsterpavillon [...]. An die Wagenfahrt um die Alster schließt sich die Dampferrundfahrt durch die Häfen. Gegen 1 Uhr ¼st. Halt in St. Pauli Fährhaus [...], dann mit Wagen durch Altona und St. Pauli zum Alsterpavillon zurück. Dauer c. 4 St.“ [Baedeker 1902,S. 36] Veranstalter war das Reisebüro und Zigarrengeschäft H. Käse am Alsterdamm 39. mit. Wissen Sie nicht noch? Erst per mailcoach (engl.) Postkutsche.durch die Stadt u. dann durch den Hafen ‒ Sie saßen damals noch so gräßlich unbequem! ‒ Oberdieks sind nette, unspießbürgerliche Leute, mit Humor, u. Interesse | an der Kunst ‒ also nette Gäste. Aber, etwas strengte mich furchtbar an,/:/ gleich nach dem ersten Frühstück „frohe Unterhaltung“, und eigentlich dann den ganzen Tag ‒ nach 8wöchentlichem Schweigen in Helgoland konnte ich das schlecht aushalten! ‒ Von mir speziell kann ich Ihnen wenig sagen ‒ vielleicht sehen wir uns im Frühjahr ‒ dann sehen Sie selbst, ob Sie tyrannischer Shannon-Registratornach der englischen Firma Shannon Registrator Co. benannte, in Deutschland von der Firma August Zeiss & Co. in Berlin unter diesem Namen vertriebene und seit den 1880er Jahren gebräuchliche Sortiereinrichtung zum Ordnen und Aufbewahren von Korrespondenz (auch: Systemmöbel mit Schubladen und Regaleinlagen). So heißt es 1893 in einem Bericht über innovative Büroeinrichtung: „Sehr reichhaltig ist die Sammlung von Registrirungs-Apparaten für Briefe und Documente. Einer dieser Apparate, die Shannon-Binding-Case, der bekannte Shannon-Registrator, hat auch in Deutschland Glück gemacht.“ Hervorgehoben wurde „Geist der Specialisirung“ dieses Systems und erklärt: „Der Shannon-Registrator erhielt auch die höchste Auszeichnung auf der Weltausstellung in Chicago“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 579, 10.12.1893, Morgen-Ausgabe, S. 11]. mich noch in dasselbe Schubfach einkasteln wie sonst ‒ ich glaube kaum. Und nun leben Sie wohl ‒ im allerbesten Sinne des Worts, so wohl als thunlich, u. lassen Sie mal wieder von sich hören ‒ Sie wissen, daß wir uns darüber freuen! Mit herzlichen Grüßen von uns Beiden
Ihre
Beate Heine.

d. 14.9.99.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Notizen mit Tinte von fremder Hand jeweils zu Beginn des Bogens auf Seite 1 oben („II B. | Schr. Frank Wedekind | 15/9 99 / Boz“) und auf Seite 5 oben (ebenso, hier mit unterstrichenem Namen). Es handelt sich um Eingangsvermerke im Gefängnis in Leipzig, in dem der Schriftsteller (so ist wohl die Abkürzung aufzulösen) inhaftiert war.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Den Notizen von fremder Hand auf dem Brief zufolge traf er am 15.9.1899 in dem Gefängnis in Leipzig ein, in dem Wedekind inhaftiert war (oder Wedekind erhielt ihn an diesem Tag).

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 65
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Beate Heine an Frank Wedekind, 14.9.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
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Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

02.10.2024 14:29