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Kennung: 914

München, 27. Juli 1898 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate

Inhalt

[1. Druck:]


München, 27.VII.1898.


Liebe verehrte Frau Doctor,

Ich hoffte Ihnen schon eine günstige Nachricht geben zu können, sonst hätte ich Ihnen früher geschrieben. Herzlichen Dank für all das Viele Schöne, womit Sie mir meinen GeburtstagWedekinds 34. Geburtstag am 24.7.1898, zu dem Beate Heine ihm ein Geburtstagspaket mit Begleitbrief geschickt hat (siehe unten). verherrlicht. Die Kuchen schmecken exquisit. Wie mochten Sie sich aber auf dem Lande, losgerissen von aller feineren Küchencultur die Mühe machen, Kuchen zu backen. Und dann diese Unmenge Feuer mit der entzückenden schwarz und goldenen Hülse. Und das schöne Cigaretten-Etui! und der Bleistift. Alles was ich jetzt Elegantes auf meinem Schreibtisch habe, sind Gaben aus Ihrer Hand, verehrte Frau. Inmitten thront der goldene PetschaftSiegelstempel. und im Hintergrund die Kalender-Eule, die übrigens noch immer das richtige Datum zeigt, da sie sich der besonderen Fürsorge meiner jeweiligen Wirthin erfreut. GesternWedekind hat am 26.7.1898 mit Georg Stollberg, Oberregisseur und Schauspieler sowie dann neuer Direktor (siehe unten) am Münchner Schauspielhaus [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443], eine Vereinbarung für sein Engagement zunächst als Schauspieler am Münchner Schauspielhaus getroffen. habe ich mit dem Oberregisseur des Münchner Schauspielhauses abgemacht, daß er mich zu kleinen Rollen verwendet. Er nahm mein Anerbieten mit großem Vergnügen an. Betreffs Erdgeist habe ich noch keine bestimmte Aussage. Indessen herrscht an dem Theater eine solche VerwirrungEmil Drach, für die Moderne engagierter Direktor des am 17.11.1897 eröffneten Münchner Schauspielhauses, war finanziell an diesem Theaterprojekt gescheitert und musste zurücktreten. Sein Nachfolger wurde der bisherige Oberregisseur Georg Stollberg. Der Wechsel war nicht ganz einfach und vollzog sich im Sommer 1898 (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Georg Stollberg)., daß von einem Tag auf den andern alles möglich und wieder unmöglich werden kann.

Als ich das erste Mal bei Langen war, kam die Nachricht, daß der Simpl. wieder mal auf allen Bahnhöfen Preußens verbotenDer Verkauf des „Simplicissimus“ (und anderer Zeitschriften) war durch eine Verfügung des preußischen Staatsministers der öffentlichen Arbeiten und Chefs des Reichseisenbahnamtes Karl von Thielen auf preußischen Bahnhöfen seit dem 8.7.1898 verboten: „Wir bemerken dabei ausdrücklich, daß Preßerzeugnisse, insbesondere periodisch erscheinende, die durch Wort, Bild oder Geschäftsanzeigen Anstand und gute Sitte verspotten oder verletzen, die Sinnlichkeit überreizen, die die idealen Güter des Lebens herabzuwürdigen, werthvolle vaterländische Einrichtungen und deren Träger verächtlich zu machen, Neid und Haß unter den Staatsangehörigen zu erregen geeignet sind, auch wenn sie die Grenzen des Strafgesetzbuches vermeiden, von dem Verkaufe in Zukunft auszuschließen sind“ [KSA 1/II, S. 1136f.]. Wedekind zitierte in seinem Gedicht „Das Eisenbahn-Verbot“ (siehe unten) aus dieser Verfügung, die in diversen Zeitungen abgedruckt war. Das Branchenblatt meldete das Verkaufsverbot ebenfalls: „Der Verkauf der beiden Zeitschriften ‚Simplicissimus‘ und ‚Das Narrenschiff‘ ist auf sämtlichen preußischen Bahnhöfen verboten worden.“ [Verbote im Bahnhofsbuchhandel. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 170, 26.7.1898, S. 5477] sei. Er flehte mich um ein Gedichtder „Jubel-Hymnus auf den Preußischen Bahnhöfen zu singen“ [KSA 1/I, S. 486f.], der auf das Verkaufsverbot des „Simplicissimus“ in preußischen Bahnhofsbuchhandlungen reagierte (siehe oben) und am 6.8.1898 im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 19, S. 146] mit einem redaktionellen Kommentar Albert Langens erschienen ist [vgl. KSA 1/II, S. 1743-1746]. an, wozu ich mich auch herbeiließ. Vor drei Tagen schrieb ich das zweite GedichtWedekind schrieb am 24.7.1898 das Gedicht „Das Eisenbahn-Verbot“ [KSA 1/I, S. 490-493], das ebenfalls auf das Verkaufsverbot des „Simplicissimus“ an preußischen Bahnhöfen reagierte (siehe oben) und illustriert am 13.8.1898 im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 20, S. 154] veröffentlicht wurde [vgl. KSA 1/II, S. 1135-1140]. für ihn. Er rieb sich die Hände und sagte, es ist doch ein Glück, daß Sie wieder hier sind. Ob es nicht möglich wäre, daß ich hier bliebe. Ich sagte, ich könne Dr. Heine doch nicht so ohne weiteres im Stich lassenWedekind hatte sich eigentlich von Carl Heines Ibsen-Theater in Leipzig schon verabschiedet; er war dort bis vor wenigen Wochen als Dramaturg und Schauspieler engagiert gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408] und hatte mit dem Ensemble eine große Gastspieltournee unternommen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 24.3.1898].. Gestern wollte er Contract mit mir machen, aber ich lehnte ab, da ich ja im Voraus weiß, daß ich ihn nicht halten kann. Der alte Biörnsonder norwegische Schriftsteller Bjørnstjerne Bjørnson, Albert Langens Schwiegervater., der offenbar zu dem Zwecke von ihm engagirt ist, machte mir die glühendsten Complimente über meine Gedichte. Gestern las ich das Drama Johanna vom jungen BiörnsonBjørn Bjørnsons Schauspiel „Johanna“ (1898) war aus dem Norwegischen übersetzt vor wenigen Wochen im Albert Langen Verlag in München erschienen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 133, 13.6.1898, S. 4395]., was ohne Zweifel der Schlager für die nächste SaisonWedekind sah die Münchner Premiere von Bjørn Bjørnsons „Johanna“ am 24.8.1898 im Münchner Residenztheater [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.8.1898; Wedekind an Bjørn Bjørnson, 29.8.1898]. wird: furchtbar langweilig und eintönig und furchtbar wahr und gefühlvoll. Rosmersholm ist dagegen noch das reine Cirkus-Spectakel. Zugleich sagt mir Langen, daß der junge Biörnson, der in Christiania TheaterdirectorAlbert Langens Schwager Bjørn Bjørnson war der erste Intendant des soeben gegründeten norwegischen Nationaltheaters in Christiania (heute: Oslo). ist, nächsten Winter dort den Erdgeist geben wolle. Bevor ich den jungen Biörnson selber gesprochen, habe ich nicht viel Ursache, daran zu glauben.

Langen trägt sich jetzt ganz entschieden mit Theaterplänen und ich versäume keine Gelegenheit, um ihm vom Ibsen-Theater und dessen DirectorCarl Heine war Direktor des Ibsen-Theaters in Leipzig (siehe oben). zu sprechen. Thatsache ist, daß er eine Agentur zum Vertrieb von Stücken, die bei ihm erschienen sind, mit der Johanna eröffnet hat. Außerdem hörte ich, daß Neumann Hofer bei ihm war, um ihn zum finanziellen Theilhaber am Lessingtheater zu machen. Da sich Langen aber künstlerischen Einfluß sichern wollte, zerschlugen sich die Verhandlungen. Es muß das vor dem Eintritt des jungen L’Arronge ins LessingtheaterOtto Neumann-Hofer, offiziell ab dem 1.9.1898 neuer Direktor des Berliner Lessingtheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 254], hatte seine künftigen Mitarbeiter im Frühjahr bereits angeworben: „Als Dramaturg und Regisseur ist, wie schon bekannt, Herr Dr. Hans L’Arronge vom Berliner Theater, der Sohn von Adolf L’Arronge, gewonnen.“ [Das Lessingtheater unter der Direction Otto Neumann-Hofer. In: Berliner Tageblatt, Jg. 27, Nr. 219, 2.5.1898, Montags-Ausgabe, S. (1-2)] Unklar ist, wann die Verhandlungen zwischen ihm und Albert Langen genau stattgefunden haben. gewesen sein. Vorläufig schwärmt er von der Errichtung eines Chat noir’sLe Chat Noir war ein 1881 gegründetes Cabaret auf dem Montmartre, das zum Inbegriff der Pariser Bohème und der Kabarettkultur des Fin de Siècle wurde., also literarisches Variété, aus dem aber vermuthlich so bald nichts wird. Offenbar warten verschiedene Leute auf den Zusammenbruch des Schauspielhauses, der sich aber immer und immer wieder hinausschiebt.

An meinem Geburtstag, nachdem ich Abendsam 23.7.1898, der Vorabend von Wedekinds 34. Geburtstag am 24.7.1898. zwar schon Ihre prächtige Kiste ausgepackt und Ihren Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 22.7.1898. Es handelte sich um den Begleitbrief zu einem Geburtstagspaket. und den Ihres Herrn GemahlsHinweis auf einen ebenfalls nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 22.7.1898. gelesen, fuhr ich nach Tutzing zu meinem Bubi und nahm im Kreise meiner Familie, wenn ich mich so ausdrücken darf, am Ufer des Starnberger Sees ein stilles Mittagsmahl ein. Durch dieses mein Verhalten scheint ganz München mit meiner Existenz ausgesöhnt. Sogar die DirectorinWilhelmine Porges (siehe unten), Gattin von Heinrich Porges, der in München (Burgstraße 12) die Stellung eines königlich bayrischen Musikdirektors bekleidete [vgl. Adreßbuch von München 1899, Teil I, S. 410]. Porges, die Mutter von Ernst Rosmer, bei der sich das ganze Unheil angesponnenIm Salon von Wilhelmine (Minna) Porges (geb. Merores), Gattin des Dirigenten und Musikschriftstellers Heinrich Porges und Mutter der Schriftstellerin Elsa Bernstein (Ernst Rosmer), lernte Wedekind im Sommer 1896 Frida Strindberg (geb. Uhl) kennen, die von ihrem Mann August Strindberg getrennt lebte und bei ihren Aufenthalten in München bei der befreundeten Dame wohnte (Burgstraße 12, 3. Stock). Wedekind und Frida Strindberg gingen eine problematische Beziehung ein, aus der ein gemeinsames Kind hervorging: Friedrich Strindberg., schickte mir vor ihrer Reise in die Sommerfrische noch einen Grußnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wilhelmine Porges an Wedekind, 26.7.1898. Es dürfte sich um eine Postkarte gehandelt haben.. Dieser Gruß bedeutet meine allergnädigste Wiederaufnahme in die Münchner Gesellschaft, von der ich aber so bald keinen Gebrauch zu machen gedenke.

In Gedanken zehre ich immer noch sehr von den Erinnerungen an unsere Tournée und meine Leipziger Zeit. Es ist gar keine Frage, daß Ihr Herr Gemahl zu einem Retter an mir geworden ist, denn jeder Funke Achtung, den man mir hier entgegenbringt, bezieht sich auf die Campagnezeitlich begrenzter Arbeitsabschnitt, im Fall Wedekinds sein Engagement beim Ibsen-Theater (siehe oben)., die ich hinter mir habe.

Seien auch Sie, verehrte Frau, bestens bedankt für die Sympathien, die Sie mir bewahren. Daß wir uns sehr bald wiedersehen, scheint mir mehr als gewiß, aber nur unter der Bedingung, daß Ihr Werk sich nicht als fruchtlos erweist, daß sich Ihre Erwartungen bestätigen.

Grüßen Sie Herrn DoctorDr. phil. Carl Heine (siehe oben), Beate Heines Ehemann. herzlich von mir und seien Sie selber bestens gegrüßt von Ihrem Ihnen ganz ergebenen
Frank Wedekind.


Türkenstraße 69 II


Verzeihen Sie mir bitte den Klex auf der ersten Seite, aber ich schreibe im Café Luitpold.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Als ich das erste Mal bei Langen war kam die Nachricht daß der Simpl. wieder mal auf allen Bahnhöfen Preußens verboten sei. Er flehte mich um ein Gedicht an, wozu ich mich auch herbeiließ. Vor drei Tagen schrieb ich das zweite Gedicht für ihn. Er rieb sich die Hände und sagte, es ist doch ein Glück daß Sie wieder hier sind. Ob es nicht möglich wäre daß ich hier bliebe. Ich sagte, ich könne Dr. Heine doch nicht so ohne weiteres im Stich lassen. Gestern wollte er Contract mit mir machen, aber ich lehnte ab, da ich ja im Voraus weiß, daß ich ihn nicht halten kann. Der alte Biörnson der offenbar zu dem Zwecke von ihm engagirt ist machte mir die glühensten Complimente über meine Gedichte [...]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck zugänglich. Die Existenz des Originals ist verbürgt [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232].

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    27. Juli 1898 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort


    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
303-306
Briefnummer:
139
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

08.03.2024 12:35
Kennung: 914

München, 27. Juli 1898 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate
 
 

Inhalt

[1. Druck:]


München, 27.VII.1898.


Liebe verehrte Frau Doctor,

Ich hoffte Ihnen schon eine günstige Nachricht geben zu können, sonst hätte ich Ihnen früher geschrieben. Herzlichen Dank für all das Viele Schöne, womit Sie mir meinen GeburtstagWedekinds 34. Geburtstag am 24.7.1898, zu dem Beate Heine ihm ein Geburtstagspaket mit Begleitbrief geschickt hat (siehe unten). verherrlicht. Die Kuchen schmecken exquisit. Wie mochten Sie sich aber auf dem Lande, losgerissen von aller feineren Küchencultur die Mühe machen, Kuchen zu backen. Und dann diese Unmenge Feuer mit der entzückenden schwarz und goldenen Hülse. Und das schöne Cigaretten-Etui! und der Bleistift. Alles was ich jetzt Elegantes auf meinem Schreibtisch habe, sind Gaben aus Ihrer Hand, verehrte Frau. Inmitten thront der goldene PetschaftSiegelstempel. und im Hintergrund die Kalender-Eule, die übrigens noch immer das richtige Datum zeigt, da sie sich der besonderen Fürsorge meiner jeweiligen Wirthin erfreut. GesternWedekind hat am 26.7.1898 mit Georg Stollberg, Oberregisseur und Schauspieler sowie dann neuer Direktor (siehe unten) am Münchner Schauspielhaus [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443], eine Vereinbarung für sein Engagement zunächst als Schauspieler am Münchner Schauspielhaus getroffen. habe ich mit dem Oberregisseur des Münchner Schauspielhauses abgemacht, daß er mich zu kleinen Rollen verwendet. Er nahm mein Anerbieten mit großem Vergnügen an. Betreffs Erdgeist habe ich noch keine bestimmte Aussage. Indessen herrscht an dem Theater eine solche VerwirrungEmil Drach, für die Moderne engagierter Direktor des am 17.11.1897 eröffneten Münchner Schauspielhauses, war finanziell an diesem Theaterprojekt gescheitert und musste zurücktreten. Sein Nachfolger wurde der bisherige Oberregisseur Georg Stollberg. Der Wechsel war nicht ganz einfach und vollzog sich im Sommer 1898 (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Georg Stollberg)., daß von einem Tag auf den andern alles möglich und wieder unmöglich werden kann.

Als ich das erste Mal bei Langen war, kam die Nachricht, daß der Simpl. wieder mal auf allen Bahnhöfen Preußens verbotenDer Verkauf des „Simplicissimus“ (und anderer Zeitschriften) war durch eine Verfügung des preußischen Staatsministers der öffentlichen Arbeiten und Chefs des Reichseisenbahnamtes Karl von Thielen auf preußischen Bahnhöfen seit dem 8.7.1898 verboten: „Wir bemerken dabei ausdrücklich, daß Preßerzeugnisse, insbesondere periodisch erscheinende, die durch Wort, Bild oder Geschäftsanzeigen Anstand und gute Sitte verspotten oder verletzen, die Sinnlichkeit überreizen, die die idealen Güter des Lebens herabzuwürdigen, werthvolle vaterländische Einrichtungen und deren Träger verächtlich zu machen, Neid und Haß unter den Staatsangehörigen zu erregen geeignet sind, auch wenn sie die Grenzen des Strafgesetzbuches vermeiden, von dem Verkaufe in Zukunft auszuschließen sind“ [KSA 1/II, S. 1136f.]. Wedekind zitierte in seinem Gedicht „Das Eisenbahn-Verbot“ (siehe unten) aus dieser Verfügung, die in diversen Zeitungen abgedruckt war. Das Branchenblatt meldete das Verkaufsverbot ebenfalls: „Der Verkauf der beiden Zeitschriften ‚Simplicissimus‘ und ‚Das Narrenschiff‘ ist auf sämtlichen preußischen Bahnhöfen verboten worden.“ [Verbote im Bahnhofsbuchhandel. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 170, 26.7.1898, S. 5477] sei. Er flehte mich um ein Gedichtder „Jubel-Hymnus auf den Preußischen Bahnhöfen zu singen“ [KSA 1/I, S. 486f.], der auf das Verkaufsverbot des „Simplicissimus“ in preußischen Bahnhofsbuchhandlungen reagierte (siehe oben) und am 6.8.1898 im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 19, S. 146] mit einem redaktionellen Kommentar Albert Langens erschienen ist [vgl. KSA 1/II, S. 1743-1746]. an, wozu ich mich auch herbeiließ. Vor drei Tagen schrieb ich das zweite GedichtWedekind schrieb am 24.7.1898 das Gedicht „Das Eisenbahn-Verbot“ [KSA 1/I, S. 490-493], das ebenfalls auf das Verkaufsverbot des „Simplicissimus“ an preußischen Bahnhöfen reagierte (siehe oben) und illustriert am 13.8.1898 im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 20, S. 154] veröffentlicht wurde [vgl. KSA 1/II, S. 1135-1140]. für ihn. Er rieb sich die Hände und sagte, es ist doch ein Glück, daß Sie wieder hier sind. Ob es nicht möglich wäre, daß ich hier bliebe. Ich sagte, ich könne Dr. Heine doch nicht so ohne weiteres im Stich lassenWedekind hatte sich eigentlich von Carl Heines Ibsen-Theater in Leipzig schon verabschiedet; er war dort bis vor wenigen Wochen als Dramaturg und Schauspieler engagiert gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408] und hatte mit dem Ensemble eine große Gastspieltournee unternommen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 24.3.1898].. Gestern wollte er Contract mit mir machen, aber ich lehnte ab, da ich ja im Voraus weiß, daß ich ihn nicht halten kann. Der alte Biörnsonder norwegische Schriftsteller Bjørnstjerne Bjørnson, Albert Langens Schwiegervater., der offenbar zu dem Zwecke von ihm engagirt ist, machte mir die glühendsten Complimente über meine Gedichte. Gestern las ich das Drama Johanna vom jungen BiörnsonBjørn Bjørnsons Schauspiel „Johanna“ (1898) war aus dem Norwegischen übersetzt vor wenigen Wochen im Albert Langen Verlag in München erschienen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 133, 13.6.1898, S. 4395]., was ohne Zweifel der Schlager für die nächste SaisonWedekind sah die Münchner Premiere von Bjørn Bjørnsons „Johanna“ am 24.8.1898 im Münchner Residenztheater [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.8.1898; Wedekind an Bjørn Bjørnson, 29.8.1898]. wird: furchtbar langweilig und eintönig und furchtbar wahr und gefühlvoll. Rosmersholm ist dagegen noch das reine Cirkus-Spectakel. Zugleich sagt mir Langen, daß der junge Biörnson, der in Christiania TheaterdirectorAlbert Langens Schwager Bjørn Bjørnson war der erste Intendant des soeben gegründeten norwegischen Nationaltheaters in Christiania (heute: Oslo). ist, nächsten Winter dort den Erdgeist geben wolle. Bevor ich den jungen Biörnson selber gesprochen, habe ich nicht viel Ursache, daran zu glauben.

Langen trägt sich jetzt ganz entschieden mit Theaterplänen und ich versäume keine Gelegenheit, um ihm vom Ibsen-Theater und dessen DirectorCarl Heine war Direktor des Ibsen-Theaters in Leipzig (siehe oben). zu sprechen. Thatsache ist, daß er eine Agentur zum Vertrieb von Stücken, die bei ihm erschienen sind, mit der Johanna eröffnet hat. Außerdem hörte ich, daß Neumann Hofer bei ihm war, um ihn zum finanziellen Theilhaber am Lessingtheater zu machen. Da sich Langen aber künstlerischen Einfluß sichern wollte, zerschlugen sich die Verhandlungen. Es muß das vor dem Eintritt des jungen L’Arronge ins LessingtheaterOtto Neumann-Hofer, offiziell ab dem 1.9.1898 neuer Direktor des Berliner Lessingtheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 254], hatte seine künftigen Mitarbeiter im Frühjahr bereits angeworben: „Als Dramaturg und Regisseur ist, wie schon bekannt, Herr Dr. Hans L’Arronge vom Berliner Theater, der Sohn von Adolf L’Arronge, gewonnen.“ [Das Lessingtheater unter der Direction Otto Neumann-Hofer. In: Berliner Tageblatt, Jg. 27, Nr. 219, 2.5.1898, Montags-Ausgabe, S. (1-2)] Unklar ist, wann die Verhandlungen zwischen ihm und Albert Langen genau stattgefunden haben. gewesen sein. Vorläufig schwärmt er von der Errichtung eines Chat noir’sLe Chat Noir war ein 1881 gegründetes Cabaret auf dem Montmartre, das zum Inbegriff der Pariser Bohème und der Kabarettkultur des Fin de Siècle wurde., also literarisches Variété, aus dem aber vermuthlich so bald nichts wird. Offenbar warten verschiedene Leute auf den Zusammenbruch des Schauspielhauses, der sich aber immer und immer wieder hinausschiebt.

An meinem Geburtstag, nachdem ich Abendsam 23.7.1898, der Vorabend von Wedekinds 34. Geburtstag am 24.7.1898. zwar schon Ihre prächtige Kiste ausgepackt und Ihren Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 22.7.1898. Es handelte sich um den Begleitbrief zu einem Geburtstagspaket. und den Ihres Herrn GemahlsHinweis auf einen ebenfalls nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 22.7.1898. gelesen, fuhr ich nach Tutzing zu meinem Bubi und nahm im Kreise meiner Familie, wenn ich mich so ausdrücken darf, am Ufer des Starnberger Sees ein stilles Mittagsmahl ein. Durch dieses mein Verhalten scheint ganz München mit meiner Existenz ausgesöhnt. Sogar die DirectorinWilhelmine Porges (siehe unten), Gattin von Heinrich Porges, der in München (Burgstraße 12) die Stellung eines königlich bayrischen Musikdirektors bekleidete [vgl. Adreßbuch von München 1899, Teil I, S. 410]. Porges, die Mutter von Ernst Rosmer, bei der sich das ganze Unheil angesponnenIm Salon von Wilhelmine (Minna) Porges (geb. Merores), Gattin des Dirigenten und Musikschriftstellers Heinrich Porges und Mutter der Schriftstellerin Elsa Bernstein (Ernst Rosmer), lernte Wedekind im Sommer 1896 Frida Strindberg (geb. Uhl) kennen, die von ihrem Mann August Strindberg getrennt lebte und bei ihren Aufenthalten in München bei der befreundeten Dame wohnte (Burgstraße 12, 3. Stock). Wedekind und Frida Strindberg gingen eine problematische Beziehung ein, aus der ein gemeinsames Kind hervorging: Friedrich Strindberg., schickte mir vor ihrer Reise in die Sommerfrische noch einen Grußnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wilhelmine Porges an Wedekind, 26.7.1898. Es dürfte sich um eine Postkarte gehandelt haben.. Dieser Gruß bedeutet meine allergnädigste Wiederaufnahme in die Münchner Gesellschaft, von der ich aber so bald keinen Gebrauch zu machen gedenke.

In Gedanken zehre ich immer noch sehr von den Erinnerungen an unsere Tournée und meine Leipziger Zeit. Es ist gar keine Frage, daß Ihr Herr Gemahl zu einem Retter an mir geworden ist, denn jeder Funke Achtung, den man mir hier entgegenbringt, bezieht sich auf die Campagnezeitlich begrenzter Arbeitsabschnitt, im Fall Wedekinds sein Engagement beim Ibsen-Theater (siehe oben)., die ich hinter mir habe.

Seien auch Sie, verehrte Frau, bestens bedankt für die Sympathien, die Sie mir bewahren. Daß wir uns sehr bald wiedersehen, scheint mir mehr als gewiß, aber nur unter der Bedingung, daß Ihr Werk sich nicht als fruchtlos erweist, daß sich Ihre Erwartungen bestätigen.

Grüßen Sie Herrn DoctorDr. phil. Carl Heine (siehe oben), Beate Heines Ehemann. herzlich von mir und seien Sie selber bestens gegrüßt von Ihrem Ihnen ganz ergebenen
Frank Wedekind.


Türkenstraße 69 II


Verzeihen Sie mir bitte den Klex auf der ersten Seite, aber ich schreibe im Café Luitpold.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Als ich das erste Mal bei Langen war kam die Nachricht daß der Simpl. wieder mal auf allen Bahnhöfen Preußens verboten sei. Er flehte mich um ein Gedicht an, wozu ich mich auch herbeiließ. Vor drei Tagen schrieb ich das zweite Gedicht für ihn. Er rieb sich die Hände und sagte, es ist doch ein Glück daß Sie wieder hier sind. Ob es nicht möglich wäre daß ich hier bliebe. Ich sagte, ich könne Dr. Heine doch nicht so ohne weiteres im Stich lassen. Gestern wollte er Contract mit mir machen, aber ich lehnte ab, da ich ja im Voraus weiß, daß ich ihn nicht halten kann. Der alte Biörnson der offenbar zu dem Zwecke von ihm engagirt ist machte mir die glühensten Complimente über meine Gedichte [...]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck zugänglich. Die Existenz des Originals ist verbürgt [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232].

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    27. Juli 1898 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort


    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
303-306
Briefnummer:
139
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

08.03.2024 12:35