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Erst dies lesen!
Liebe
Daß ich Dir in allem Ernste zumuthe, beiliegendes langes vo
Deiner
„Und scheint die Sonne noch so schön,
Am Ende muß sie untergehn.“
,! | Und damit verabschiede ich mich, denn
Gute Nacht! schlaf wohl!
Morgen auf Wiedersehn!
Träume süß, liebe Minna!
Dein Franklin
[Beilage:]
Meiner lieben CousineMinna von Greyerz.
Eine ästhetische
Caffeevisite. |
Wol gibt es Gespenster.
Sie schleichen sich sacht
Durch Thüren und Fenster
In finsterer Nacht.
Sie kommen und gehen,
Bevor wir erwacht,
Und haben uns herrliche
Träume gebracht. ––
[Finisschnörkel] |
Da trat sie ein. In ihren Blicken
Las ich die Freuden dieser Welt,
Auf ihren Lippen das Entzücken,
Das Menschen fest zusammen hält.
Das Diadem in ihrem Haare,
Hell strahlt’ es – da erkannt’ ich sie,
Die Königin der Jugendjahre,
Die schöne Göttin Poesie.
„O, sei mir tausend Mal willkommen!
Hier steht ein Canapee; komm, setz’ dich hin.
Und wenn du artig Platz genommen,
Dann, wunderbare Königin,
Erzähl’ mir alles, was seit Anbeginn
Der Zeit, die wir uns nicht gesehen,
In Deinen Reichen
Die Göttin nahm die Laute von der
Und ließ sich vornehm auf den Sopha
Drauf stimmte ihre kunstgeübte Hand
Die schlaffgeword’nen Saiten wieder.
Es rauschten ihre zarten Finger in den Strängen
Mit einer Fertigkeit, die Ihr nicht kennt;
Und aus dem neubelebten Instrument
Floß ein bewegtes Meer von wundervollen Klängen.
Jetzt aber leg ich meine Feder hin.
Denn, ach, mit welchen Worten, welchen Bildern
Könnt’ ich die zauberhaften Töne schildern,
Die aus der Kehl’ ihr strömten?! – Nein ich bin
Zu schwach zu solchem Werke. Tiefbeschämt
Laß ich in diesem Fall mein Schweigen reden
Und bitte unterthänigst einen Jeden
Von Euch, daß Ihr es mir nicht übel nehmt.
Ich hatte unterdessen den Kaffee
Gekocht, und als er nun tiefbraun und klar
Im feinsten Porzellan bereitet war,
Setzt’ ich mich ebenfalls aufs Canapee.
Noch sang und spielte sie geraume Zeit, |
Ich aber, zur Erhöhung der Gemüthlichkeit,
Hätt’ gern mir ’ne Cigarre angezündet.
Jedoch ein Blick von meiner Königin
Bracht’ unerwartet wieder mir zu Sinn,
Daß Rauchen sie höchst unpoetisch findet.
Derweilen war aus strammen Duraccorden
Durch manche Fuge, reich und wundervoll,
Ihr Spiel zur süßen Phanthasie geworden,
Die bald in trübem, grambewegtem Moll,
Bald leichthin tändelnd sich zum Herzen schleicht,
Und hat sie dort der Saiten Zarteste erreicht,
Dieselbe unbarmherzig läßt erklingen,
Daß uns die Thränen in die Augen dringen. –
So ging’s auch mir: Ich spürte schon das Nasse
Im Augenlied. Es war die höchste Zeit;
Sie sollt’s nicht sehn. – In der Verlegenheit
Griff hastig ich nach meiner Caffeetasse. –
Was half’s? Die Göttin hatte sich bereits
An meiner Rührung schadenfroh geweidet
Und so ihr Ziel erreicht; auch ihrerseits
Sich selbst das Melancholische verleidet. |
Durch wunderbares Zwischenspiel –
Ich wage nicht, es kritisch zu behandeln –
Ließ sie die Sehnsuchtsklänge voll Gefühl
In eine lust’ge Tanzmusik sich wandeln.
Da ward mir plötzlich sonderbar zu Muth:
Schnell fuhr ich auf aus düst’ren Träumen;
Ich sah im Geiste mich in weiten Räumen,
Erhellt durch vieler Lampen lichte Gluth.
Rasch ging der Tact, noch rascher floß mein Blut h.
Die Göttin intonirt’ indessen Stück für Stück
Auf ihrer Laute wie mit Klarinett’ und Flöthen,
Es war die reinste Regimentsmusik.
Da plötzlich – eben spielte sie
’ne schöne Polkamelodie, ––
Brach jählings sie mit einem Mißklang ab,
Der weithin schrillend durch die Saiten kreischte;
Schnell fiel aus meinem Himmel ich herab,
Da mir der Jammerton das Ohr zerfleischte.
Und als ich vollends dann erwachte,
Da saß ich wieder auf dem Canapee
Bei meiner Königin. Es dampfte der Kaffee,
Sie aber sah mich höhnisch an und lachte. ––
Jedes Ding hat einst ein Ende:
Daß ich, sta s/t/t in schweren
Ja, ich war auch ganz begeistert:
Eben hatten noch die Klänge
Und der Göttin Tanzgesänge
Meiner Sinne sich bemeistert, –
Sieh, da wußte sie mein Ohr
Schon aufs Neu’ zu unterhalten,
Denn aus des Gewandes Falten
Zog sie nun ein
Das aufs Schönste eingebunden |
War in rothem
Und mit Goldschnitt angethan.
Auf der ersten Seite stunden
Daß in diesen
Uns entdeckt ihr großes Herz
Fräulein Minna von Greyerz. –
Und gleich sah man, daß ein wilder
Genius in dem Buche weilt’,
Denn ohn’ Ordnung d’rum vertheilt
Waren viele Abziehbilder:
Männer, Frauen, kleine Kinder,
Thiere, Pflanzen und nicht minder
Alles, was den Geist belebt,
Fand man hier in bunten Reihen
Einzeln, paarweis und zu Dreien
Durcheinander aufgeklebt.
„Richte, was drinn ist, |
Nicht nach der Hülle! –
Was voller Sinn ist,
Lebt in der Stille.
Oft trägt, was Klarheit ist,
Närrisch’ Gewand.
Wo keine Narrheit ist,
Wohnt kein Verstand!“
Diese tiefgedachten Worte
Sprach zu mir mit vielem Pathos
Meine Göttin, als ich rathlos
Stets noch an des Buches Pforte
All’ die zarten, wundernetten,
Bunten
Stummen Mund’s betrachtete
Und sie halb verachtete. ––
Als ich aber mit der Hand
Nun die Blätter umgewandt,
Da entdeckt ich eine Menge
Schöner Lieder und Gesänge,
Sprüche, die von Weisheit schwer, |
Worte, die uns wider Willen
Oft aus tiefstem Herzen quillen
Und noch vieles andre mehr.
Da entdeckte ich Gedanken,
Welche nur in trüben Stunden,
Tief, im Schmerzgefühl der Wunden,
Wenn wir, fast verzweifelnd, wanken,
Aus dem Kopf heraus sich ranken. –
Alles was uns hier im Dasein
Nur bemerkenswerth erscheint,
Mag es ferne, mag es nah sein,
War in diesem Buch vereint. –
Aber als ich nunmehr fragte,
Wie sie denn das alles fände,
Was darin geschrieben stände,
Hub die Göttin an und sagte:
„Die Sonne sinkt im Westen nieder
Und steigt im fernen Ost empor. –
Ein ganzer Frühling sproßt hervor.
Er grünt und blüht und welket wieder. – |
Auf unabänderlicher Bahn
Ziehn durch den Weltraum die Planeten,
Und ewig singen die Poeten
Von Liebesglück und Liebeswahn.
Die Erde fliegt mit ihren Polen
Dahin in tausendjähr’ger Spur.
Das ganze Weltall siehst du nur
Die eig’nen Wege wiederholen.
Jedoch des Menschen Geist allein
Bleibt immer neu und unergründet.
Was sich in Deiner Seele findet,
Das wird dir stets ein Räthsel sein.
Denn wie der Schiffer auf dem Meer
Vergebens sucht den Grund zu sehen,
So ist’s dem Menschen doppelt schwer,
Ein tiefes Herze zu verstehen.
Hier aber tritt es schön zu Tage
In kunstgerechtem Strophenbau:
Des Lebens Fröhlichkeit und Plage,
Das alles spiegelt sich genau. |
Du siehst, wie Leidenschaften kämpfen
In sturmbewegter Fluthen Gischt;
Bis die Vernunft, die Gluth zu dämpfen,
Mit ihrer Weisheit drein sich mischt.
Aus tiefempfundenen n/e/tten
Wie sich zwei Herzen innig lieben
Und, ob auch Jahre fließen hin,
In unabänderlichem Sinn
Sich ohne Wanken treu geblieben. –
Zwar sind noch holprig oft die Wege,
Als ging es durch den dicht’sten Wald.
Doch steht zu hoffen, daß recht bald
Der kleine Übelstand sich lege.
Hingegen was mir auf der Stelle
Gefiel, und was ich fand noch nie,
Das ist das ganz Originelle
In dieser Freundschaftspoesie: |
Nichts schleppt die Dichterin uns her
Von überird’schem Liebeswesen
Man sieht, sie hat nicht viel gelesen,
Doch dafür denkt sie desto mehr.
Auch
Obschon es Mode jetzt geworden,
Daß man von frechem Selbstermorden,
Von tiefer Weltverachtung
spricht.“
(Ich schlug beschämt die Augen nieder
Als plötzlich ich dies Wort vernahm,
Das ihr aus tiefster Seele kam,
Und dacht’ an meine
„Nein, wahre, sittliche Moral,“
Fuhr ungestört die Göttin weiter.
„Und froher Lebensmuth spricht heiter
Aus ihren Worten überall.
Rein sieht man die Gedanken quillen;
Die Form zwar könnte besser sein. |
Die Dicht’rin soll
Nicht in die alten Schläuche füllen.
Nein, neue Schläuche schaffe sie
Für ihren Wein in voller Gährung.
Dann wird wol auch der Welt Verehrung
Nicht fehlen ihrer Poesie.
Selbst Götter werden niedersteigen
Und horchen auf der Laute Klang.
Der ganze Himmel wird sich neigen
Vor ihrem herrlichen Gesang.
Sie wird die Sterblichen erheben
Durch ihre Weisen, stark und schön. –
Dann werd’ auch ich herniederschweben
Von des
Und mich erfreu’n an ihren Tönen,
An ihrer Rede tiefem Sinn,
Und mit geweihtem Lorbeer krönen
Die Stirne meiner Priesterin. –[“]
Die Tassen hatt’ ich unterdessen frisch gefüllt, |
Und als die Göttin nun mit ihrer Rede fertig,
Und ihren Dur ch/s/t durch einen guten Schluck gestillt,
„Mein Bester, jetzt gestatt’ ich dir“ –
Und gnädig senkte sie dabei die Wimpern –
„Auf deiner Dichterharphe mir
Auch einmal etwas vorzuklimpern.“ –
„Ach, meine Göttin“, sprach ich „ich kann Ihnen
Ja nur mit Weltschmerzliedern
dienen!“
„Thut nichts!“ sprach sie, und ich griff schnell
In die von ihr gestimmten Saiten, |
Um mit Accorden, voll und hell,
Die Klageworte zu begleiten:
„
Was nützt dir alle Philosophie?!
Verschling den ganzen Erkenntnißbaum,
Du findst doch die ewige Wahrheit nie.
Und wenn ich Himmel und Hölle früge,
Sie sprächen: Die Wahrheit ist eine Lüge!
Wahrheit ein eit’les Hirngespinst!
Und eitel sind Recht und Gerechtigkeit! –
Versuch, ob du sie bei den Göttern gewinnst! –
Auf Erden herrschet die Schlechtigkeit.
Sie ruht in der Schöpfung geheimsten g/G/ewalten,
Frag, wie das Übel entstanden sei?!
Todt lag das All in friedlichem Grab,
Bis daß mit grausamer Barbarei
Ein Gott dem Staube das Leben gab. –
So zeugte am
Der erste Frevel unendliche Plage!“ –
So sang ich zu dem Schmerzgewimmer
Der weichen Laute mein Gedicht.
Ein leises Rauschen durch das Zimmer
Das störte meine Worte nicht.
Doch als der letzte Ton verklungen,
Und ich mich umsah, ward mir klar,
Daß, während ich mein Lied gesungen,
Die Poesie verduftet war. –
[Finisschnörkel mit Schlusspunkt]
Franklin
Wedekind.
Bestehend aus 11 Blatt, davon 22 Seiten beschrieben
Der 27.10.1883 ist als Ankerdatum gesetzt. Das Schreibdatum (die Nacht vom 27. auf den 28.10.1883) ergibt sich aus dem Kontext – Wedekind verfasste den Brief an einem Samstag („Sonntag, das wäre morgen“), gratulierte Minna von Greyerz zum Geburtstag (am Samstag, den 27.10.1883, wurde sie 22 Jahre alt) und legte ein Gelegenheitsgedicht („Die ästhetische Caffeevisite“) für sie bei, das er im Laufe des Tages vollendet hatte. – Die nächtlichen Zeitangaben im Brief („Geisterstunde“ und „1 Uhr“) dürften zur Inszenierung des Gedichts gehören.
Lenzburg
27. Oktober 1883 (Samstag)
Ermittelt (unsicher)
Lenzburg
Datum unbekannt
Datum unbekannt
Historisches Museum Schloss Lenzburg
CH-5600 Lenzburg
Schweiz
Schloss Lenzburg
Wir danken dem Historischen Museum Schloss Lenzburg für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.
Frank Wedekind an Minna von Greyerz, 27.10.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (07.12.2025).
Anke Lindemann