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Kennung: 821

München, 28. Januar 1909 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kempner, Hans
 
 

Inhalt

Verehrter Herr KempnerDr. jur. Hans Kempner (Pseudonym: Hanns Kerr), der bereits 1908 eine Monografie über Wedekind veröffentlicht hat (siehe unten), lebte als Essayist und Kritiker in Breslau (Schloßstraße 2) [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1910, Teil II, Sp. 813]. Wedekind hatte am 19.8.1908 in Breslau mit ihm einen Abend verbracht: „Abends mit Hans Kempner (Kerr) im Pilsner Urquell.“ [Tb] Dieses Treffen erwähnte er auch in einem Brief an seine Frau [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 19.8.1908].!

Von ganzem Herzen beglückwünsche ich Sie zu dem ruhigen vornehmen Stil, zu der starken Innerlichkeit, zu der Schärfe Klarheit und Schönheit Ihres Werkesein unter Pseudonym veröffentlichtes Buch [vgl. Hanns Kerr: Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Eine Studie. Mit einem Bilde Wedekinds. Berlin 1909], das 72 Seiten umfasst und in der Verlagsbuchhandlung G.m.b.H. Hermann Walther erschienen ist. 1908 war bereits eine kürzere Fassung (Titel: „Frank Wedekind. Eine Studie“) von 48 Seiten herausgekommen (als Band 56 der seit 1906 von Hermann Gräf im Verlag für Literatur, Kunst und Musik in Leipzig herausgegebenen Reihe „Beiträge zur Literaturgeschichte“); eine nochmals erweiterte Ausgabe (im Verlag Oskar Linser in Berlin-Pankow, als zweite Auflage ausgewiesen, Titel: „Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Eine Studie“), die 94 Seiten umfasst, erschien 1911 unter dem Namen Hans Kempner.. Die Tageskritik wird Sie literarisch unter Kuratel stellen. Sie wird Sie vor der Hand totschweigen oder hämisch mit den Achseln zucken. Sie werden wenig Dank ernten. Aber wie soll ich mich nun zu Ihrem Urtheil über mich stellen? Ganz offen gesagt: Ich glaube auch, daß Sie meine/die/ Tragweite meiner Arbeiten überschätzen. Aber meine Arbeiten haben allerdings meinem Gefühl nach, die Tragweite noch nicht gezeigt, die sie haben könnten. Deshalb bin ich Ihnen auf jeden Fall zu großem, für mich | kaum zu ermessenden Dank verpflichtet. Ich habe das Gefühl: Wenn meine bisherigen Arbeiten nicht etwa hochgeschätzt sondern nur als das was/bis/chen was sie sind richtig gewürdigt würden, könnte ich unbefangner an neue Arbeiten gehen. In dieser Hinsicht würde mir Ihr Werk alle Knüppel aus dem Wege räumen, wenn Sie mich nicht wirklich zu hoch einschätzten, wenn Sie nicht von EwigkeitDas Schlagwort taucht zuerst auf in dem Satz: „Wedekind schafft eine Kunst für die Ewigkeit.“ [Hanns Kerr: Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Berlin 1909, S. 9] Es findet sich danach ähnlich programmatisch an weiteren Stellen über den Band verteilt [S. 18, 24, 28, 30, 31, 37, 40]. sprächen. Dieses Wort ist in Ihrem Buch die Achillesferseder schwache Punkt ‒ dies die Bedeutung der verbreiteten Metapher, abgeleitet aus der griechischen Mythologie (die rechte Verse des Helden Achill war die einzige Stelle, an der er verwundbar war)., an der sich sämmtliche Hunde festbeißen werden. Ich kann mir wol vorstellen, daß Sie mit vollem Bewußtsein über das Ziel hinaus geschossen haben. Sie werfen zu meiner Entlastung damit ein schweres Gewicht in die Wagschale. Aber Ihr Werk wird es büßen. Verzeihen Sie, daß ich meinen | persönlichen Vortheil so ernsthaft erörtere. Aber meine künstlerische Freiheit, die Möglichkeit, mich ungehindert entwickeln weiter bilden zu können, nehme ich allerdings sehr ernst[.] Bei diesem Bestreben unterstützen Sie mich auf Ihre eigenen Kosten als Freund.

Was soll ich zu dem sagen was Sie auf Seite 66Wedekind dürfte diese Passage gemeint haben: „Wedekind ist ein ganz neuer Menschentypus. Wedekind sieht die Dinge so, wie er sie schildert. Um sie zu verzerren, dazu ist er als Mensch viel zu unbekümmert, ehrlich und treuherzig. Wer ihn kennt, muß ihn lieb haben. Er sagt das Unanständigste mit ruhiger Miene, weil es ihm nicht unsittlich, sondern natürlich klingt. Und so ist er denn vorläufig unser einziger, denn nur so ein Mensch konnte solche Werke schaffen.“ [Hanns Kerr: Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Berlin 1909, S. 66] schreiben? Ich bin stolz darauf. Ich Und wünsche Ihnen von ganzem Herzen daß Ihnen das Leben gleichen hohen Dank einbringt.

Mit besten Grüßen auf baldiges WiedersehnEin Wiedersehen ist nicht belegt.
Ihr
FrW

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Notizbuchseiten. 10 x 16,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf ist im Notizbuch [Nb 55, Blatt 36r, 36v, 37r] überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 28.1.1909 ist als Ankerdatum gesetzt – das Schreibdatum, Wedekinds Notiz vom 28.1.1909 in München zufolge: „Brief an Hanns Kerr.“ [Tb]

  • Schreibort

    München
    28. Januar 1909 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Breslau
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
217-218
Briefnummer:
326
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief als „Entwurf“ ausgewiesen, datiert auf: „Anfang 1909.“
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3501/58
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Hans Kempner, 28.1.1909. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

05.06.2024 13:23
Kennung: 821

München, 28. Januar 1909 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kempner, Hans
 
 

Inhalt

Verehrter Herr KempnerDr. jur. Hans Kempner (Pseudonym: Hanns Kerr), der bereits 1908 eine Monografie über Wedekind veröffentlicht hat (siehe unten), lebte als Essayist und Kritiker in Breslau (Schloßstraße 2) [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1910, Teil II, Sp. 813]. Wedekind hatte am 19.8.1908 in Breslau mit ihm einen Abend verbracht: „Abends mit Hans Kempner (Kerr) im Pilsner Urquell.“ [Tb] Dieses Treffen erwähnte er auch in einem Brief an seine Frau [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 19.8.1908].!

Von ganzem Herzen beglückwünsche ich Sie zu dem ruhigen vornehmen Stil, zu der starken Innerlichkeit, zu der Schärfe Klarheit und Schönheit Ihres Werkesein unter Pseudonym veröffentlichtes Buch [vgl. Hanns Kerr: Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Eine Studie. Mit einem Bilde Wedekinds. Berlin 1909], das 72 Seiten umfasst und in der Verlagsbuchhandlung G.m.b.H. Hermann Walther erschienen ist. 1908 war bereits eine kürzere Fassung (Titel: „Frank Wedekind. Eine Studie“) von 48 Seiten herausgekommen (als Band 56 der seit 1906 von Hermann Gräf im Verlag für Literatur, Kunst und Musik in Leipzig herausgegebenen Reihe „Beiträge zur Literaturgeschichte“); eine nochmals erweiterte Ausgabe (im Verlag Oskar Linser in Berlin-Pankow, als zweite Auflage ausgewiesen, Titel: „Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Eine Studie“), die 94 Seiten umfasst, erschien 1911 unter dem Namen Hans Kempner.. Die Tageskritik wird Sie literarisch unter Kuratel stellen. Sie wird Sie vor der Hand totschweigen oder hämisch mit den Achseln zucken. Sie werden wenig Dank ernten. Aber wie soll ich mich nun zu Ihrem Urtheil über mich stellen? Ganz offen gesagt: Ich glaube auch, daß Sie meine/die/ Tragweite meiner Arbeiten überschätzen. Aber meine Arbeiten haben allerdings meinem Gefühl nach, die Tragweite noch nicht gezeigt, die sie haben könnten. Deshalb bin ich Ihnen auf jeden Fall zu großem, für mich | kaum zu ermessenden Dank verpflichtet. Ich habe das Gefühl: Wenn meine bisherigen Arbeiten nicht etwa hochgeschätzt sondern nur als das was/bis/chen was sie sind richtig gewürdigt würden, könnte ich unbefangner an neue Arbeiten gehen. In dieser Hinsicht würde mir Ihr Werk alle Knüppel aus dem Wege räumen, wenn Sie mich nicht wirklich zu hoch einschätzten, wenn Sie nicht von EwigkeitDas Schlagwort taucht zuerst auf in dem Satz: „Wedekind schafft eine Kunst für die Ewigkeit.“ [Hanns Kerr: Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Berlin 1909, S. 9] Es findet sich danach ähnlich programmatisch an weiteren Stellen über den Band verteilt [S. 18, 24, 28, 30, 31, 37, 40]. sprächen. Dieses Wort ist in Ihrem Buch die Achillesferseder schwache Punkt ‒ dies die Bedeutung der verbreiteten Metapher, abgeleitet aus der griechischen Mythologie (die rechte Verse des Helden Achill war die einzige Stelle, an der er verwundbar war)., an der sich sämmtliche Hunde festbeißen werden. Ich kann mir wol vorstellen, daß Sie mit vollem Bewußtsein über das Ziel hinaus geschossen haben. Sie werfen zu meiner Entlastung damit ein schweres Gewicht in die Wagschale. Aber Ihr Werk wird es büßen. Verzeihen Sie, daß ich meinen | persönlichen Vortheil so ernsthaft erörtere. Aber meine künstlerische Freiheit, die Möglichkeit, mich ungehindert entwickeln weiter bilden zu können, nehme ich allerdings sehr ernst[.] Bei diesem Bestreben unterstützen Sie mich auf Ihre eigenen Kosten als Freund.

Was soll ich zu dem sagen was Sie auf Seite 66Wedekind dürfte diese Passage gemeint haben: „Wedekind ist ein ganz neuer Menschentypus. Wedekind sieht die Dinge so, wie er sie schildert. Um sie zu verzerren, dazu ist er als Mensch viel zu unbekümmert, ehrlich und treuherzig. Wer ihn kennt, muß ihn lieb haben. Er sagt das Unanständigste mit ruhiger Miene, weil es ihm nicht unsittlich, sondern natürlich klingt. Und so ist er denn vorläufig unser einziger, denn nur so ein Mensch konnte solche Werke schaffen.“ [Hanns Kerr: Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Berlin 1909, S. 66] schreiben? Ich bin stolz darauf. Ich Und wünsche Ihnen von ganzem Herzen daß Ihnen das Leben gleichen hohen Dank einbringt.

Mit besten Grüßen auf baldiges WiedersehnEin Wiedersehen ist nicht belegt.
Ihr
FrW

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Notizbuchseiten. 10 x 16,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf ist im Notizbuch [Nb 55, Blatt 36r, 36v, 37r] überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 28.1.1909 ist als Ankerdatum gesetzt – das Schreibdatum, Wedekinds Notiz vom 28.1.1909 in München zufolge: „Brief an Hanns Kerr.“ [Tb]

  • Schreibort

    München
    28. Januar 1909 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Breslau
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
217-218
Briefnummer:
326
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief als „Entwurf“ ausgewiesen, datiert auf: „Anfang 1909.“
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3501/58
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Hans Kempner, 28.1.1909. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

05.06.2024 13:23