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Kennung: 665

Berlin, 18. Juni 1915 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Harden, Maximilian

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Grunewald, 18/6 15


Verehrter und lieber Herr Wedekind,

aufrichtig freue ich mich, von Ihnen zu hörenvgl. Wedekind an Maximilian Harden, 17.6.1915., daß es, endlich, besser geht. Ich danke Ihnen sehr herzlich. Wie arge Zeit war für Sie! Nun, bitte, erholen Sie völlig, in schöner Natur!

Daß Ihr neues Werk mich aufs Höchste interessirtWedekind hatte Maximilian Harden angeboten, ihm sein neues Drama „Bismarck“ zu widmen [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 17.6.1915]. Maximilian Harden, der begeistert war von dem ehemaligen Reichskanzler Otto von Bismarck, galt in Fragen zu ihm als kompetent. So notierte Theodor Wolff am 2.12.1915: „Ich bitte Harden [...] alles zusammenzustellen, was Bismarck gegen die Idee der Neutralitätsverletzung in Beziehung auf Belgien geäußert hat. Harden kommt immer wieder darauf zurück, wie ganz vergessen Bismarck heute sei ‒ als habe er nie gelebt. Alles, was geschehe u. geschehen sei, sei die absolute Negation des Bismarckschen Werkes.“ [Tb Wolff], wissen Sie. Weil es Ihr Werk, ein Werk schwerer Zeit ist, und wegen des Stoffes. In Versailles (Ihnen ists gewiß bekannt) sagte Bismarck mal, seine Diplomatie von 63 bis 66 würde einen guten Stoff für das Theater geben (ich las die StelleMaximilian Harden dachte wohl an folgende Stelle: „Zuletzt kam die Rede auf die Politik der letztvergangnen Jahre, und der Kanzler äußerte: ‚Am Stolzesten bin ich doch auf unsere Erfolge in der schleswig-holsteinischen Sache, aus der man ein diplomatisches Intriguenspiel für’s Theater machen könnte. [...]‘“ [Moritz Busch: Graf Bismarck und seine Leute während des Kriegs mit Frankreich. Nach Tagebuchsblättern. Bd. 1. Leipzig 1878, S. 150] Das Werk war Wedekind bekannt [vgl. Kutscher 3, S. 197]; es zählt zu den Quellen seines „Bismarck“ [vgl. KSA 8, S. 697f.]; mit der Lektüre hatte er am 14.10.1914 begonnen: „Ich lese Bismark Tagebücher“ [Tb]. neulich wieder); er dachte vielleicht eher an Etwas à la Scribe(frz.) im Stil von Scribe. Maximilian Harden zufolge dachte Bismarck also an etwas in der Art der Unterhaltungsstücke des erfolgreichen französischen Dramatikers Eugène Scribe.; aber merkwürdig ist die Intuition. Alle guten Geister sind sicher bei Ihrem Schaffen. Daß Sie dieses Werk mir widmen wollen, ist mir eine rechte Ehre; eine der wenigen, die, wirklich, zugleich Freude sind. Ich danke Ihnen!

Eine reichlich fließende Quelle ist das (auch übersetzte) Werk Les origines diplomatiques de la guerre de 1870 (die ersten Bände8 Bände der Sammlung „Les origines diplomatiques de la guerre de 1870-1871. Recueil de documents publié par le Ministère des affaires étrangères“ (insgesamt 29 Bände der Aktenedition wurden von 1910 bis 1932 in Paris vom französischen Außenministerium veröffentlicht) waren bis 1914 erschienen, die Dokumente über den Zeitraum vom 25.12.1863 bis 31.12.1866 enthalten. Eine deutsche Teilübersetzung der französischen Aktenedition ist 1910/11 in drei Bänden unter dem Titel „Der diplomatische Ursprung des Krieges von 1870/71. Gesammelte Urkunden, herausgegeben vom französischen Ministerium des Auswärtigen“ in Berlin erschienen.); nur amtliche | Akten. Aber Sie brauchen wohl nichts mehr.

Militärisch im Westen unverändertDer deutsche Operationsplan an der Westfront (Schlacht an der Marne) war gescheitert und der Krieg zum Stellungskrieg erstarrt., im Osten ja gutDie deutsche Kriegsführung an der östlichen Front war von Anfang an (Schlacht bei Tannenberg) erfolgreicher als an der Westfront. Anfang Mai 1915 zwangen die Mittelmächte mit der Durchbruchsschlacht bei Tarnów und Gorlice die russischen Armeen zum Rückzug, was in der Folge zu großen Geländegewinnen im Osten führte. (fraglich, ob u wann die Russen sich retablirenwiederherstellen. können); Verluste ungeheuerVerluste an Menschenleben, vor allem an der Westfront durch den Einsatz von Giftgas.. Politik existirt nicht. Allgemeiner Diplomatenglaube: bis nächsten Sommer. Rumänien unsicher; war in letzten Tagen schlecht; heute wird gemeldet (privatimDie private Quelle war vermutlich Walther Rathenau, der für die Kriegsrohstoffabteilung arbeitete und Maximilian Harden über die Lebensmittellage informierte, insbesondere über die Getreideknappheit [vgl. Hellige 1983, S. 704]. Maximilian Harden hatte in seiner Wochenschrift soeben über die Versorgungslage während des Krieges geschrieben und auf Walther Rathenau hingewiesen: „in Berlin [...] wurde ein Rohstoffamt nöthig, dessen Aufbau und Leitung ein Civilist, der Ingenieur-Industrielle Dr. Walter Rathenau, übernahm“ [Die Zukunft, Jg. 23, Nr. 37, 12.6.1915, S. 337].), Grenzen seien für Petroleum u Getreide geöffnet worden; ganz ungewiß noch, ebenso BulgarienMaximilian Harden hatte sich gegenüber Wedekind bereits eingehend über das neutrale Bulgarien geäußert [vgl. Maximilian Harden an Wedekind, 24.4.1915].. Unzählige Thorheiten, die ich Ihnen mündlich zu erzählen hoffe.

Die Zeitschrift werde ich nun wohl aufgebenMaximilian Harden äußerte Überlegungen, seine Wochenschrift „Die Zukunft“ einzustellen (er tat dies nicht), auch gegenüber anderen Personen. So notierte Theodor Wolff am 4.9.1915: Harden „möchte, angeblich, die ‚Zukunft‘ eingehen lassen und garnicht mehr schreiben.“ [Tb Wolff]. Ich kann in solcher Luft nicht athmen. Und das Talent all der Vortrefflichen, die den Weltbrandder Erste Weltkrieg. als „Konjunktur“ benutzen, habe ich nicht.

Ich bitte Sie herzlich, sich zu schonen, von Ihrer verehrten Frau, der ich dankbare Wünsche sende, sich pflegen zu lassen, und mir freundschaftlich zu bleiben.

Ihr
Harden

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Kopierstift.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 15 x 19,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    18. Juni 1915 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus V. Frank Wedekind, Thomas Mann, Heinrich Mann – Briefwechsel mit Maximilian Harden

Herausgeber:
Ariane Martin
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag Jürgen Häusser
Jahrgang:
1996
Seitenangabe:
120
Briefnummer:
84
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Bundesarchiv Koblenz

Potsdamer Straße 1
56075 Koblenz
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Maximilian Harden
Signatur des Dokuments:
Nr. 147
Standort:
Bundesarchiv Koblenz (Koblenz)

Danksagung

Wir danken dem Bundesarchiv Koblenz für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Maximilian Harden an Frank Wedekind, 18.6.1915. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

29.10.2023 10:51
Kennung: 665

Berlin, 18. Juni 1915 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Harden, Maximilian

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Grunewald, 18/6 15


Verehrter und lieber Herr Wedekind,

aufrichtig freue ich mich, von Ihnen zu hörenvgl. Wedekind an Maximilian Harden, 17.6.1915., daß es, endlich, besser geht. Ich danke Ihnen sehr herzlich. Wie arge Zeit war für Sie! Nun, bitte, erholen Sie völlig, in schöner Natur!

Daß Ihr neues Werk mich aufs Höchste interessirtWedekind hatte Maximilian Harden angeboten, ihm sein neues Drama „Bismarck“ zu widmen [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 17.6.1915]. Maximilian Harden, der begeistert war von dem ehemaligen Reichskanzler Otto von Bismarck, galt in Fragen zu ihm als kompetent. So notierte Theodor Wolff am 2.12.1915: „Ich bitte Harden [...] alles zusammenzustellen, was Bismarck gegen die Idee der Neutralitätsverletzung in Beziehung auf Belgien geäußert hat. Harden kommt immer wieder darauf zurück, wie ganz vergessen Bismarck heute sei ‒ als habe er nie gelebt. Alles, was geschehe u. geschehen sei, sei die absolute Negation des Bismarckschen Werkes.“ [Tb Wolff], wissen Sie. Weil es Ihr Werk, ein Werk schwerer Zeit ist, und wegen des Stoffes. In Versailles (Ihnen ists gewiß bekannt) sagte Bismarck mal, seine Diplomatie von 63 bis 66 würde einen guten Stoff für das Theater geben (ich las die StelleMaximilian Harden dachte wohl an folgende Stelle: „Zuletzt kam die Rede auf die Politik der letztvergangnen Jahre, und der Kanzler äußerte: ‚Am Stolzesten bin ich doch auf unsere Erfolge in der schleswig-holsteinischen Sache, aus der man ein diplomatisches Intriguenspiel für’s Theater machen könnte. [...]‘“ [Moritz Busch: Graf Bismarck und seine Leute während des Kriegs mit Frankreich. Nach Tagebuchsblättern. Bd. 1. Leipzig 1878, S. 150] Das Werk war Wedekind bekannt [vgl. Kutscher 3, S. 197]; es zählt zu den Quellen seines „Bismarck“ [vgl. KSA 8, S. 697f.]; mit der Lektüre hatte er am 14.10.1914 begonnen: „Ich lese Bismark Tagebücher“ [Tb]. neulich wieder); er dachte vielleicht eher an Etwas à la Scribe(frz.) im Stil von Scribe. Maximilian Harden zufolge dachte Bismarck also an etwas in der Art der Unterhaltungsstücke des erfolgreichen französischen Dramatikers Eugène Scribe.; aber merkwürdig ist die Intuition. Alle guten Geister sind sicher bei Ihrem Schaffen. Daß Sie dieses Werk mir widmen wollen, ist mir eine rechte Ehre; eine der wenigen, die, wirklich, zugleich Freude sind. Ich danke Ihnen!

Eine reichlich fließende Quelle ist das (auch übersetzte) Werk Les origines diplomatiques de la guerre de 1870 (die ersten Bände8 Bände der Sammlung „Les origines diplomatiques de la guerre de 1870-1871. Recueil de documents publié par le Ministère des affaires étrangères“ (insgesamt 29 Bände der Aktenedition wurden von 1910 bis 1932 in Paris vom französischen Außenministerium veröffentlicht) waren bis 1914 erschienen, die Dokumente über den Zeitraum vom 25.12.1863 bis 31.12.1866 enthalten. Eine deutsche Teilübersetzung der französischen Aktenedition ist 1910/11 in drei Bänden unter dem Titel „Der diplomatische Ursprung des Krieges von 1870/71. Gesammelte Urkunden, herausgegeben vom französischen Ministerium des Auswärtigen“ in Berlin erschienen.); nur amtliche | Akten. Aber Sie brauchen wohl nichts mehr.

Militärisch im Westen unverändertDer deutsche Operationsplan an der Westfront (Schlacht an der Marne) war gescheitert und der Krieg zum Stellungskrieg erstarrt., im Osten ja gutDie deutsche Kriegsführung an der östlichen Front war von Anfang an (Schlacht bei Tannenberg) erfolgreicher als an der Westfront. Anfang Mai 1915 zwangen die Mittelmächte mit der Durchbruchsschlacht bei Tarnów und Gorlice die russischen Armeen zum Rückzug, was in der Folge zu großen Geländegewinnen im Osten führte. (fraglich, ob u wann die Russen sich retablirenwiederherstellen. können); Verluste ungeheuerVerluste an Menschenleben, vor allem an der Westfront durch den Einsatz von Giftgas.. Politik existirt nicht. Allgemeiner Diplomatenglaube: bis nächsten Sommer. Rumänien unsicher; war in letzten Tagen schlecht; heute wird gemeldet (privatimDie private Quelle war vermutlich Walther Rathenau, der für die Kriegsrohstoffabteilung arbeitete und Maximilian Harden über die Lebensmittellage informierte, insbesondere über die Getreideknappheit [vgl. Hellige 1983, S. 704]. Maximilian Harden hatte in seiner Wochenschrift soeben über die Versorgungslage während des Krieges geschrieben und auf Walther Rathenau hingewiesen: „in Berlin [...] wurde ein Rohstoffamt nöthig, dessen Aufbau und Leitung ein Civilist, der Ingenieur-Industrielle Dr. Walter Rathenau, übernahm“ [Die Zukunft, Jg. 23, Nr. 37, 12.6.1915, S. 337].), Grenzen seien für Petroleum u Getreide geöffnet worden; ganz ungewiß noch, ebenso BulgarienMaximilian Harden hatte sich gegenüber Wedekind bereits eingehend über das neutrale Bulgarien geäußert [vgl. Maximilian Harden an Wedekind, 24.4.1915].. Unzählige Thorheiten, die ich Ihnen mündlich zu erzählen hoffe.

Die Zeitschrift werde ich nun wohl aufgebenMaximilian Harden äußerte Überlegungen, seine Wochenschrift „Die Zukunft“ einzustellen (er tat dies nicht), auch gegenüber anderen Personen. So notierte Theodor Wolff am 4.9.1915: Harden „möchte, angeblich, die ‚Zukunft‘ eingehen lassen und garnicht mehr schreiben.“ [Tb Wolff]. Ich kann in solcher Luft nicht athmen. Und das Talent all der Vortrefflichen, die den Weltbrandder Erste Weltkrieg. als „Konjunktur“ benutzen, habe ich nicht.

Ich bitte Sie herzlich, sich zu schonen, von Ihrer verehrten Frau, der ich dankbare Wünsche sende, sich pflegen zu lassen, und mir freundschaftlich zu bleiben.

Ihr
Harden

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Kopierstift.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 15 x 19,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    18. Juni 1915 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus V. Frank Wedekind, Thomas Mann, Heinrich Mann – Briefwechsel mit Maximilian Harden

Herausgeber:
Ariane Martin
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag Jürgen Häusser
Jahrgang:
1996
Seitenangabe:
120
Briefnummer:
84
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Bundesarchiv Koblenz

Potsdamer Straße 1
56075 Koblenz
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Maximilian Harden
Signatur des Dokuments:
Nr. 147
Standort:
Bundesarchiv Koblenz (Koblenz)

Danksagung

Wir danken dem Bundesarchiv Koblenz für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Maximilian Harden an Frank Wedekind, 18.6.1915. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

29.10.2023 10:51