Bitte wählen Sie je ein Dokument für die linke und rechte Seite über die Eingabefelder aus.
Liebe
Empfangen Sie meinen besten Dank für
Ihre freundlichen, Glut Stürmen des Fiebers an Ihrem Lager stehen,
Ihren ruhlosen Schlummer bewachen, Ihrem Athem lauschen und mit
Soweit hatt’ ich schon vor vier Wochen diesen Brief begonnen,
als mich die unerwartete Nachricht von dem plötzlichen Tode j aufs
Schrecklichste in meinen Gedanken | unterbrach. Seit jenem Tage drangen die
verschiedensten Gefühle auf mich ein; ich habe in kurzer Zeit viel Trauriges
und viel Interessantes gesehen und miterlebt, und Sie werden mir daher
verzeihen wenn ich jetzt erst, allerdings
Erlassen Sie es mir, Ihnen ins Einzelne den Eindruck zu
schildern, den die kurzgefaßte Hiobspost auf mich hervorbrachte. Ich konnte die
Wirklichkeit natürlich im ersten Augenblick gar nicht fassen, geschweige denn
glauben. Sollte denn d/e/in Wesen, das ich noch kurz zuvor in der
herrlichsten Blüthe seiner Jugend, im Übermaß von Fröhlichkeit und glühender
Lebenslust an meiner Seite gesehen – sollte dieser Himmel von Lieblichkeit,
Geist und tiefem Gemüth wirklich so ohne Weiteres, im ruhigsten Lauf der Zeiten
zusammen brechen, zerstört werden können? – | Und mit einem Male füllte ihr
liebendes Wesen wieder die ganze Tiefe und Weite meines Daseins aus; ich kam
mir vor wie ein Bettler, hatte nichts mehr als das Gefühl, daß ich bin, daß ich
elend bin und daß mir alles fehle, was
Woran mochte das geliebte Kind gestorben sein? – In der
Anzeige stand von einer | kurzen, schmerzlosen Krankheit; aber wie sollt ich
mir das deuten? w/W/ie kam ich überhaupt zu einer Todesanzeige? – Meine
letzten Briefe waren ja sämmtlich unerwidert geblieben; ich wähnte mich längst
vergessen oder durch angenähmere Verhältnisse ersetzt. – Arme Angelika, ich sah
es zu spät ein, daß ich dich trotz aller Liebe doch niemals zu schätzen gewußt
hatte.
Eine schlafberaubte Nacht reifte wenigstens einen Entschluß
in mir, zu dem meine kleine Baarschaft gerade noch aus g/r/eichen mochte.
Ich mußte sie noch einmal sehen, in ihren ruhigen bleichen Zügen, dem matten
Spiegel der entflohenen Seele wollt’ ich Vergebung meiner Sünden lesen und,
wenn irgend möglich, meine Ruhe wiederfinden. Früh Morgens des folgenden Tages
saß ich schwarz gekleidet mit einem gepumpten Cylinderhut im
Nachdem ich auf dem w/W/eg
und Richtung sofort das Haus auf, darin sie gelebt hatte und gestorben
In einem vornehm eingerichteten Salon, dessen lauschige
Dämmerung mich doch einige Abgüsse von Antiken in den Ecken und an den Wänden
italiänische Landschaften erkennen ließ, öffnete sich bald da nach
meinem Eintreten eine | Tapetenthür, die ich zuvor nicht bemerkt hatte, und
heraus trat ein schöner alter Herr in weißem Haar mit dem tiefen Eindruck
schmerzlicher Trauer in den edlen Zügen. Nachdem er mich bei meinem Namen, den
ihm meine Karte gemeldet, eher kalt als herzlich bewillkommt und wir beide
Platz genommen hatten sagt’ ich eine wohl einstudirte und bis auf jede
Einzelheit berechnete
So erzählte der alte Herr. Ich war in der That so weit meinen Zweck, das Mädchen noch
einmal zu sehen, so scharf im Auge, daß ich ihn den Eindruck jedes seiner Worte
aufs Lebhafteste in meinen bewegten Zügen lesen ließ. Hiedurch besonders hatt’
ich auch bald sein vollständiges Vertrauen erworben und nun erst eröffnete er
mir, daß ihm seine Tochter in den letzten Tagen, da er öfters allein an ihrem
Bette gewacht, viel Gutes von mir erzählt habe. Sie habe die Zeit ihres Umgangs
mit mir ihr höchstes Glück, mich | selber aber die Sonne ihres Lebens genannt
und habe ihn in ihren letzten Zügen noch gebeten, mich nicht im Ungewissen über
ihr trauriges Schicksal zu lassen, da der Gedanke an mich und meine Liebe ihr
doch Trost und Stärke in ihrem Unglück biete. Es ist das Vermächtniß einer Todten,
liebe Tante, das ich Ihnen wohl entdecken darf ohne dadurch den Schein von
Selbstlob und Überhebung auf mich zu laden. Als ich in Thränen aufgelöst dem
Alten für diese Nachricht dankte, erhob er sich aus seinem Lehnstuhl und,
nachdem ich ihm gefolgt, drückte er mir warm und herzlich die Hände „Gott im
Himmel möge Sie segnen
Meine Brust hob und senkte sich hörbar, als Bi/Ah/nenbilder aus ihren alten verrosteten Rahmen heraus.
Einem Verbrecher konnte nicht anders zu Muthe sein, der zum Richtplatz geführt
wird aber doch von Jenseits her die Freuden des Himmels winken sieht.
Die Thüre ging auf und da lag sie weiß gekleidet, auf hohem weißem
Lager, umgeben von Blumen und Kränzen, die einen schweren betäubenden Duft
durch das G/g/anze Gemach verbreiteten. Aber sofort verwandelte sich
meine tiefe Rührung in entsetzliches, herzzerreißendes Grausen, als ich
Bestehend aus 6 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben
Der 2. und der 30.12.1885 sind als Ankerdaten gesetzt – Wedekind gab in dem Brief, dem er das vorliegende Brieffragment später beilegte, an, er habe den Brief zum Jahresende wiederaufgenommen und „ihn für Neujahr bestimmt“ [Wedekind an Bertha Jahn, 4.3.1886], also vermutlich am 30.12.1889 das Schreiben fortgesetzt, das er „vor vier Wochen [...] begonnen“ hatte; daraus ergibt sich als erstes Schreibdatum der 2.12.1885.
Wedekind legte das abgebrochene Brieffragment vom Dezember 1885 seinem Brief an Bertha Jahn vom 4.3.1886 bei.
München
2. Dezember 1885 - 30. Dezember 1885
Ermittelt (unsicher) - Unbekannt
München
Datum unbekannt
Datum unbekannt
(Band 1)
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia
Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13
Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.
Frank Wedekind an Bertha Jahn, 2.12.1885 - 30.12.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (29.10.2025).
Tilman Fischer