München. April 85.
Liebe
Tante,
wol
haben Sie allen Grund, mir zu zürnen, weil ich so lange nichts von mir hören
ließ, und sogar Ihre freundlich mahnende Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 9.4.1885. acht
Tage lang unbeantwortet bleibt. Aber wie und was sollt’ ich Ihnen denn auch
schreiben? Sie berichten mir im IhremSchreibversehen, statt: in Ihrem. letzten liebnSchreibversehen, satt: lieben.
Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 10.3.1885. allerhand Vorfälle und Abenteuer, die mich allerdings sehr
interessirten, aber auch keinen Ton aus jener MelodieAnspielung auf die erotische Beziehung zwischen Wedekind und Bertha Jahn im Herbst 1884., nach der mein Ohr
eigentlich lechtzte, die ich mit Schmerzen in der Fremde vermißte und mir nicht
selten in der Erinnerung an vergangene schöne Tage in’s | Gedächtniß
zurückrufe. Soll denn die edle Blume so schnell verblüht und verwelkt sein?
Soll denn der herrliche Zaubergarten nur eine leere Phantasie, nur ein
Hirngespinst gewesen sein, darin wir beide nur der langen Zeit wegen ein
schnell vorübergehendes Schäferspiel aufführten? – O zürnen Sie mir nicht, daß
ich es wage, auch heute noch tief empfundene Worte mit Ihnen wechseln zu
wollen. Zwar weiß ich ja, daß Sie miI
––– Sind Sie mir jetzt böse darüber, | daß ich, ein junger
Fantjunger, noch unerfahrener Mensch mit noch wenig Erfahrung (von ital. ‚fante‘ für Bursche). , es wage, Ihnen so freimüthig meine Ansichten vorzulegen. Wol haben Sie
Grund dazu und dennoch tragen Sie selber nicht die kleinste Schuld daran. Haben
Sie mich doch verwöhnt durch die Gunst Ihres Umganges, verwöhnt durch die
herzlichsten, liebevollsten Worte, die jemals einem Menschenherzen entströmten;
und noch jetzt, wenn ich Ihre zarten, schönen Gedichte, Ihre früheren Briefe
lese, so thut sich eine Welt voll Wonne und Seligkeit meinen Blicken auf,
deutlich erkenn ich jegliche der Gestalten darin; aber sie weichen scheu zurück
wie die Trugbilder der Fata-MorganaLuftspiegelung., sobald mein sehnender Arm sie umfangen,
mein Wort sie bannen, mein Mund sie küssen will. –––
Sie haben mich verwöhnt, liebe Tante; das ist freilich wahr.
Aber wenn ich auch momentan ein wenig | darunter leide, wenn ich empfindlich,eiu
Unglücklicherweise sind nun schon wieder mehrere TageHinweis auf eine Schreibunterbrechung, für die hier drei Tagen angenommen werden. verflossen ohne daß ich diese
Zeilen vollendet hätte. Ich bekam BesuchOskar Schibler, der in Leipzig studierte, dürfte vor Beginn der Vorlesungszeit dort am 20.4.1885 [vgl.: https://histvv.uni-leipzig.de/vv/1885s.html; abgerufen am 18.2.25] auf dem Weg von Aarau nach Leipzig seinen Weg über München gewählt haben, um dort für ein paar Tage seinen Jugendfreund Wedekind zu besuchen. von meinem Freunde Oskar und da werden
Sie wol entschuldigen, daß mir weder Stimmung noch Sammlung kommen wollte,
erhaben genug, um Ihnen, liebe Tante, mein Herz auszuschütten. Aber jetzt bin
ich wieder mit Leib und Seele der
Ihrige und will es bleiben, so lange Sie Ihren lässigen Neffen nicht von sich
stoßen. Vor allem erlauben Sie mir, daß ich Ihnen gratulire zu Ihrem verehrten
H. Sohne und meinem
lieben Freunde Victor; ich meine | zu den Triumphen, die er geerndtetSchreibversehen, statt: geerntet., und zu
seiner vortrefflichen MaturitätsprüfungDie Zeugnisübergabe für die Absolventen des Gymnasiums in Aarau war am 9.4.1885 [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1884/85 (Titelblatt)].. Seinen PrologVictor Jahn trug den von ihm verfassten Prolog auf der Abendunterhaltung der Kantonsschüler am 30.1.1885 vor [abgedruckt bei Hans Kaeslin: Schülerabend-Prologe. In: Aargauer Neujahrsblätter, Jg. 18, 1944, S. 32-34]. Der Text dürfte einem Brief Emilie Wedekinds an ihren Sohn beigelegen haben [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885], der ihr später von der Lektüre berichtete [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.3.1885]. hab’ ich natürlich mit
dem größten Interesse gelesen und freute mich dabei für die aargauische
Cantonsschule darüber, daß Sie in meinem OpusWedekind hatte für die erste Abendunterhaltung der Kantonsschule Aarau am 1.2.1884 den Prolog [vgl. KSA 1/I, S. 114-117] verfasst und im neuen Festsaal in Aarau mit großem Beifall vorgetragen [vgl. KSA 1/II, S. 1983-1986]. Mitte Februar 1884 wurden die Verse bei Sauerländer in Aarau als 8-seitiger Separatdruck mit einigen 100 Exemplaren gedruckt. nicht mehr ein Meerwunderim übertragenen Sinne: „sehenswürdigkeit und gegenstand des anstaunens“ [DWB 12, Sp. 1863]. von unerreichter
Meisterschaft anzustaunen braucht, sondern daß es nunmehr der Ausgangspunkt und
die erste Stufe zu einer Reihe besserer, vollkommnerer Leistungen geworden ist,
eine Rolle, die mich bedeutend mehr befriedigt als das tolle GechsBdeinauf
Als ich jüngst träumend die Maximiliansstraße hinaus wanderte,
sah ich einen wunderschönen Körsnnachr