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Kennung: 5542

München, 19. Februar 1885 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Koautoren*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm

Inhalt

München, 19.II.84Das Datum des irrtümlich auf 1884 datierten Briefs wurde später mit blauem Buntstift auf 1885 korrigiert, was auch dem Briefkontext entspricht: das gemeinsame Studiensemester von Armin und Frank Wedekind in München im Wintersemester 1884/85..


Lieber Papa,

dürfen wirDer Brief wurde von Frank Wedekind als gemeinsames Schreiben von ihm und seinem Bruder Armin verfasst und unterzeichnet. es wagen, Dir zu Deinem GeburtstageFriedrich Wilhelm Wedekinds 69. Geburtstag am 21.2.1885. zu gratuliren und Dir Glück und alles Schöne und Gute zu wünschen? – Deine freundliche Neujahrskartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 1.1.1885. giebt uns Muth dazu und zugleich die feste Zuversicht, Verzeihung von Dir erbitten zu können alles dessen wegen, was Unrechtes vor unserer Abreisevermutlich nach einem gemeinsamen Besuch Frank und Armin Wedekinds auf Schloss Lenzburg über die Weihnachtstage. zu Hause vorgefallen. Allerdings ist vieles darunter, was sich leichter ganz vergessen und als verzeihen ließe und trotzdem noch viel eher | zu verzeihen als zu begreifen ist. Aber, bitte, erlaß mir die peinliche Aufgabe, all’ das Traurige, Fall für Fall, zu recapituliren. Vergessen hab’ ich es wahrhaftig nicht; doch die Erwähnung könnte mehr verderben, als alle Reue gut zu machen im Stande ist. Und wie dankbar wären wir Dir, wenn Du es hingegen vergessen würdest, wie Du uns schon so vieles vergessen hast. Die damaligen Verhältnisse, die vielen Besuche, das Wiedersehen alter Kameraden und das häufige Zusammentreffen mit ihnen waren ja gewiß nicht wenig schuld an unserem leichten Leben; und was außerdem noch geschehen ist, mögen wol großentheils traurige Folgen von diesem gewesen sein.

Wir verließen Lenzburg in der größten Bestürzung, da uns, | nachdem wir geraume Zeit, ohne zu fühlen, zu denken und umzublicken, in den Tag hinein gelebt hatten, plötzlich die ganze entsetzliche/s/te Situation in grellstem Lichte vor Augen getreten war. Die Reise nach München war schweigsam und trübselig, und seither wagte keiner von uns, mit dem anderen über dasjenige zu sprechen, was uns beiden doch am schwersten auf dem Herzen lag, was jeder als des anderen sehnlichstes Verlangen kannte.

Und so entstand auf unserer Seite ein neues Vergehen, schwerer und vielleicht verhängnißvoller als alle vorhergegangenen, daß nämlich Tage, Wochen und Monate verflossen, ohne daß wir Dir geschrieben hätten, uns/d/ daß wir Dich, statt gleich nach unserer Abreise, erst heute um Verzeihung bitten. Aber Lässigkeit oder gar Gleichgültigkeit | tragen gewiß keine Schuld daran, höchstens Mangel an Fassung und an gegenseitiger Offenheit und Aufrichtigkeit uns selbst gegenüber. ––

Nicht wahr, lieber Papa, du verzeihst uns auch diesen Fehler, du nennst uns wieder Deine lieben Kinder. Probier’ es nur noch ein Mal; an uns soll der gute Erfolg sicherlich nicht scheitern. Wenn wir durch unser Betragen das Vaterhaus entweiht haben, so waren wir freilich keiner besseren Entlassung daraus würdig. Aber die Menschen können sich ändern wie ihre Empfindungen, sie können sich bessern, zumal in der Fremde, wo sie mehr als zu Hause auf sich, auf ihre innere Welt, und ihren Seelenfrieden angewiesen sind. ––

Bitte, sende uns nur wenige | Zeilen, woraus wir Deine Gesinnung und – wir hoffen – Deine Verzeihung ersehen können. Dann werden wir sofort, wenn wir wissen, daß Du es lesen wirst, daß es Dich interessirt, Dir von allem ausführlich Rechenschaft geben, von unserem Leben und Treiben hier in München und von unseren StudienArmin Wedekind studierte seit dem 27.4.1881 Medizin, zunächst in Zürich, anschließend in Göttingen und seit dem Wintersemester 1884/85 in München; Frank Wedekind begann zu diesem Semester sein Jurastudium in München und teilte sich mit seinem Bruder ein Zimmer (Türkenstraße 30). „Er hatte drei Vorlesungen belegt: Deutsche Rechtsgeschichte bei v. Sicherer, Institutionen bei Hellmann und römische Rechtsgeschichte bei Löwenfeld“ [Kutscher 1, S. 114]. Gemäß dem Vorlesungsverzeichnis besuchte er demnach „Deutsche Rechtsgeschichte, wöchentlich fünfmal von 10–11 Uhr [...] Institutionen des römischen Privatrechts, fünfmal wöchentlich (excl. Samstag) von 8–9 Uhr [...] römische Rechtsgeschichte, viermal wöchentlich, Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag von 2–3 Uhr“ [Verzeichnis der Vorlesungen an der königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1884/85. München 1884, S. 4f.].. Armin ist den ganzen Tag über im Spital, so daß wir uns nur beim Mittagessen und Abends sehen. Die medicinische Facultät hat einen guten Ruf, und er ist mit seinen Professoren recht zufrieden. Auch ich fand die Jurisprudenz bedeutend fesselnder und weniger trocken, als ich erwartete. Daneben ließ ich allerdings auch anderes nicht aus dem Auge und hospitire in einigen literarischen und culturhistorischen Vorlesungennicht ermittelt..

Empfange noch einmal | unsere herzlichsten Glückwünsche zu Deinem Geburtstage, verzeih uns und vergiß nicht Deine treuen Söhne
Armin und Franklin


P. S.

Armin gab mir gestern 56 Mark von den 112 M. die Du ihm gütigst gesandt. Auch in seinem Namen danke ich Dir bestens dafür.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt + Einzelblatt. Seitenmaß 14 x 22,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Einzelblatt ist oben rechts mit „II.“ nummeriert (hier nicht wiedergegeben). Die „4“ der Jahreszahl im Datum ist später mit blauem Buntstift gestrichen und durch eine „5“ ersetzt worden.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Die später korrigierte Jahreszahl des Datums ist aufgrund des Briefinhalts plausibel.

Als Empfangsort wird der Wohnort des Vaters angenommen.

  • Schreibort

    München
    19. Februar 1885 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
84-86
Briefnummer:
24
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 72-74 (Nr. 28).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind, Armin (Hami) Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 19.2.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

04.10.2024 11:20
Kennung: 5542

München, 19. Februar 1885 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Koautoren*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm
 
 

Inhalt

München, 19.II.84Das Datum des irrtümlich auf 1884 datierten Briefs wurde später mit blauem Buntstift auf 1885 korrigiert, was auch dem Briefkontext entspricht: das gemeinsame Studiensemester von Armin und Frank Wedekind in München im Wintersemester 1884/85..


Lieber Papa,

dürfen wirDer Brief wurde von Frank Wedekind als gemeinsames Schreiben von ihm und seinem Bruder Armin verfasst und unterzeichnet. es wagen, Dir zu Deinem GeburtstageFriedrich Wilhelm Wedekinds 69. Geburtstag am 21.2.1885. zu gratuliren und Dir Glück und alles Schöne und Gute zu wünschen? – Deine freundliche Neujahrskartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 1.1.1885. giebt uns Muth dazu und zugleich die feste Zuversicht, Verzeihung von Dir erbitten zu können alles dessen wegen, was Unrechtes vor unserer Abreisevermutlich nach einem gemeinsamen Besuch Frank und Armin Wedekinds auf Schloss Lenzburg über die Weihnachtstage. zu Hause vorgefallen. Allerdings ist vieles darunter, was sich leichter ganz vergessen und als verzeihen ließe und trotzdem noch viel eher | zu verzeihen als zu begreifen ist. Aber, bitte, erlaß mir die peinliche Aufgabe, all’ das Traurige, Fall für Fall, zu recapituliren. Vergessen hab’ ich es wahrhaftig nicht; doch die Erwähnung könnte mehr verderben, als alle Reue gut zu machen im Stande ist. Und wie dankbar wären wir Dir, wenn Du es hingegen vergessen würdest, wie Du uns schon so vieles vergessen hast. Die damaligen Verhältnisse, die vielen Besuche, das Wiedersehen alter Kameraden und das häufige Zusammentreffen mit ihnen waren ja gewiß nicht wenig schuld an unserem leichten Leben; und was außerdem noch geschehen ist, mögen wol großentheils traurige Folgen von diesem gewesen sein.

Wir verließen Lenzburg in der größten Bestürzung, da uns, | nachdem wir geraume Zeit, ohne zu fühlen, zu denken und umzublicken, in den Tag hinein gelebt hatten, plötzlich die ganze entsetzliche/s/te Situation in grellstem Lichte vor Augen getreten war. Die Reise nach München war schweigsam und trübselig, und seither wagte keiner von uns, mit dem anderen über dasjenige zu sprechen, was uns beiden doch am schwersten auf dem Herzen lag, was jeder als des anderen sehnlichstes Verlangen kannte.

Und so entstand auf unserer Seite ein neues Vergehen, schwerer und vielleicht verhängnißvoller als alle vorhergegangenen, daß nämlich Tage, Wochen und Monate verflossen, ohne daß wir Dir geschrieben hätten, uns/d/ daß wir Dich, statt gleich nach unserer Abreise, erst heute um Verzeihung bitten. Aber Lässigkeit oder gar Gleichgültigkeit | tragen gewiß keine Schuld daran, höchstens Mangel an Fassung und an gegenseitiger Offenheit und Aufrichtigkeit uns selbst gegenüber. ––

Nicht wahr, lieber Papa, du verzeihst uns auch diesen Fehler, du nennst uns wieder Deine lieben Kinder. Probier’ es nur noch ein Mal; an uns soll der gute Erfolg sicherlich nicht scheitern. Wenn wir durch unser Betragen das Vaterhaus entweiht haben, so waren wir freilich keiner besseren Entlassung daraus würdig. Aber die Menschen können sich ändern wie ihre Empfindungen, sie können sich bessern, zumal in der Fremde, wo sie mehr als zu Hause auf sich, auf ihre innere Welt, und ihren Seelenfrieden angewiesen sind. ––

Bitte, sende uns nur wenige | Zeilen, woraus wir Deine Gesinnung und – wir hoffen – Deine Verzeihung ersehen können. Dann werden wir sofort, wenn wir wissen, daß Du es lesen wirst, daß es Dich interessirt, Dir von allem ausführlich Rechenschaft geben, von unserem Leben und Treiben hier in München und von unseren StudienArmin Wedekind studierte seit dem 27.4.1881 Medizin, zunächst in Zürich, anschließend in Göttingen und seit dem Wintersemester 1884/85 in München; Frank Wedekind begann zu diesem Semester sein Jurastudium in München und teilte sich mit seinem Bruder ein Zimmer (Türkenstraße 30). „Er hatte drei Vorlesungen belegt: Deutsche Rechtsgeschichte bei v. Sicherer, Institutionen bei Hellmann und römische Rechtsgeschichte bei Löwenfeld“ [Kutscher 1, S. 114]. Gemäß dem Vorlesungsverzeichnis besuchte er demnach „Deutsche Rechtsgeschichte, wöchentlich fünfmal von 10–11 Uhr [...] Institutionen des römischen Privatrechts, fünfmal wöchentlich (excl. Samstag) von 8–9 Uhr [...] römische Rechtsgeschichte, viermal wöchentlich, Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag von 2–3 Uhr“ [Verzeichnis der Vorlesungen an der königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1884/85. München 1884, S. 4f.].. Armin ist den ganzen Tag über im Spital, so daß wir uns nur beim Mittagessen und Abends sehen. Die medicinische Facultät hat einen guten Ruf, und er ist mit seinen Professoren recht zufrieden. Auch ich fand die Jurisprudenz bedeutend fesselnder und weniger trocken, als ich erwartete. Daneben ließ ich allerdings auch anderes nicht aus dem Auge und hospitire in einigen literarischen und culturhistorischen Vorlesungennicht ermittelt..

Empfange noch einmal | unsere herzlichsten Glückwünsche zu Deinem Geburtstage, verzeih uns und vergiß nicht Deine treuen Söhne
Armin und Franklin


P. S.

Armin gab mir gestern 56 Mark von den 112 M. die Du ihm gütigst gesandt. Auch in seinem Namen danke ich Dir bestens dafür.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt + Einzelblatt. Seitenmaß 14 x 22,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Einzelblatt ist oben rechts mit „II.“ nummeriert (hier nicht wiedergegeben). Die „4“ der Jahreszahl im Datum ist später mit blauem Buntstift gestrichen und durch eine „5“ ersetzt worden.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Die später korrigierte Jahreszahl des Datums ist aufgrund des Briefinhalts plausibel.

Als Empfangsort wird der Wohnort des Vaters angenommen.

  • Schreibort

    München
    19. Februar 1885 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
84-86
Briefnummer:
24
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 72-74 (Nr. 28).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind, Armin (Hami) Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 19.2.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

04.10.2024 11:20