Vergleichsansicht

Bitte wählen Sie je ein Dokument für die linke und rechte Seite über die Eingabefelder aus.

Kennung: 5476

München, 26. März 1886 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm

Inhalt

München, 26.III.86.


Lieber Papa,

herzlichen Dank für die liebevolle Freundlichkeit, mit der Du meinem PoemaWedekinds Briefgedicht „UNSERM LIEBEN VATER DR.. F. WEDEKIND zum siebzigsten Geburtstage“ [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 20.3.1886 und KSA 1/I, S. 205-235 sowie KSA 1/II, S. 2109-2122], das die Biographie des Vaters bis zu seiner Heirat nacherzählt. entgegengekommen bistHinweis auf ein nicht überliefertes Antwortschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.3.1886.. Ich weiß sehr wol, daß es stellenweise nur allzusehr derselben bedarf. Es fehlte mir eben zu Beginn vollständig das Augenmaß und indem ich dann den Stoff unter meinen Händen über Berechnung hin anwachsen sah, mußt ich manches stehen lassen, was ich gerne schöner und treffender gesagt hätte. Doch tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß | ja diese einmalige Behandlung des so hochpoetischen Stoffes eine zweite vollkommenere ja durchaus nicht ausschließt und daß das Motiv, deine Pilgerfahrt durchs Leben, ja so ungemein reich an den buntesten Momenten ist, daß es bei sorgfältiger Bearbeitung leicht auch für einen allgemeineren Leserkreis Interesse gewinnen würde. – Auch für mein erstes Honorar sag ich dir meinen besten Dank; ich hab’ es auf das würdigste verwendet und angelegt, und wag’ es noch nebenbei als eine recht schöne Vorbedeutung für spätere Zeiten zu nehmen. Auch die beiden PhotographienDie dem Brief beigelegten Kunst-Photographien sind nicht überliefert. haben mir große Freude bereitenSchreibversehen, statt: bereitet.. Nicht weniger die von Julio Romano als die von | Titian. Wenn ich überdenke was ich an alten und neuen Bildern seit meinem AustritSchreibversehen, statt: Austritt. in die Welt nun alles gesehen habe, so sind doch die Schöpfungen TitiansReproduktionen von Bildern Tizians hatte Wedekind auch selbst erworben und seinem Vater davon berichtet [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 9.1.1886]. diejenigen, bei denen ich im Geist am liebsten verharreweile. Diese herrliche Lebensfülle, verbunden mit der hohen und zugleich lieblichen Schönheit und vor allem die tiefe wunderbare Farbenpracht, sind so bestrickende Vorzüge, daß sie den Blick sich nicht abwenden lassen.

Über alledem hab’ ich bis jetzt noch ganz vergessen, Dir, lieber Papa, für dein eigenes BildDas Bild des Vaters, vermutlich eine Photographie, lag wahrscheinlich dem Brief des Vaters von Ende Januar bei [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886]. zu danken; und doch stand dasselbe während der ganzen ZeitWedekind arbeitete spätestens seit Anfang Februar an dem Geburtstagsgedicht für den Vater [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 1.2.1886]., da ich b/a/bends an dem Festpoema arbeitete, vor mir auf dem Tisch und half mir in liebevollster Weise überall wieder auf die Spur | wo mich mein GedächtnißWedekind dürfte die Biographie des Vaters aus dessen Erzählungen gekannt haben. zufällig zu verlassen drohte.

Vor ungefähr einem Monat fragt ich bei H. Professor WagnerWedekinds Vater hatte seinem Sohn wiederholt aufgetragen, „Professor Moritz Wagner“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886] zu grüßen [vgl. zuerst: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 22.7.1885], der seit 1862 Honorarprofessor für Ethnographie und Geographie an der Universität München und Direktor der ethnographischen Sammlungen war, wohnhaft Maximilianstraße 21, 1. Stock links [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1885, Teil I, S. 548]. Friedrich Wilhelm Wedekind hatte ihn während seines Türkeiaufenthalts am 1.10.1843 in Samsun kennengelernt [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301]. in einem kurzen höflichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Moritz Wagner, 24.2.1886. , worin ich mich ihm vorstellte, an, wann ich ihm meine Aufwartung machen dürfe. Er schrieb mir darauf ein sehr freundliches Billetvgl. Moritz Wagner an Wedekind, 25.2.1886., worin er bedauerte, mich nicht empfangen zu können, da er schon seit Wochen an einer Bronchitis leide und der Arzt ihm das Sprechen strengstens untersagt habe. Er bittet mich, Dir für Deine freundliche Erinnerung seinen Dank auszusprechen und Dich/r/ ihn bestens zu empfehlen. Seither hab ich nichts mehr von ihm vernommen.

Die Fleischmannsche AusstellungGemäldeausstellung der Hof-, Buch- und Kunsthandlung E. A. Fleischmann (Inhaber: Albert Riegner) (Maximilianstraße 1) [vgl. Adreßbuch von München 1886, Teil I, S. 126] im Münchener Odeon: „(Kgl. Odeon.) Im Laufe dieser Woche eröffnet die E. A. Fleischmann’sche Hofkunsthandlung in ihrem eigenen Parterre-Lokale, sowie in zweien besonders hiezu arrangirten Sälen des ersten Stockes eine größere Kunstausstellung. Wie wir vernehmen gelangt eine größere Anzahl neuer Werke hiesiger Künstler zur Ausstellung, worunter das soeben vollendete Werk von Professor Gabriel Max ‚Die Himmelskönigin.‘ Die Ausstellung enthält u. a. noch die bekannten Abundantiabilder von Hans Makart, sowie das Colossalgemälde von George Rochegrosse ‚Bauernaufstand‘, welches in der diesjährigen Salonausstellung in Paris großes Aufsehen erregte.“ [Bayerischer Landbote, Jg. 61, Nr. 162, 22.7.1885, S. (3)]. Die Ausstellung wurde auch an anderen Orten gezeigt, so im „Ausstellungssaal von Rudolf Bangel in Frankfurt a. M.“ mit dem Bild von Rochegrosse sowie „Werken der hervorragendsten modernen deutschen Meister, wie A. Achenbach, Brandt, Defregger, Diez, Hugo Kauffmann, Herm. und Fritz Aug. Kaulbach, Gabriel Max, Klaus Meyer, Pilow, Schreyer, Voltz u. a.“ [Illustrirte Zeitung, Bd. 86, Nr. 2220, 16.1.1886, S. 65] sah ich schon vor geraumer Zeit | hier in München. Sie enthielt damals ein großes Historienbild„La Jacquerie“ (Bauernaufstand) von Georges-Antoine Rochegrosse wurde erstmals 1885 auf der Ausstellung im Pariser Salon gezeigt, anschließend in München, Frankfurt am Main, Leipzig und Wien. Es zeigt eine Szene aus dem französischen Bauernaufstand von 1358. Die Presse schrieb: „Dieses Bild des Eindringens eines wütenden Bauernhaufens in das Innere eines mittelalterlichen Schlosses, wo sie die Familie des eben ermordeten Schloßherren in Todesangst zusammengedrängt finden und ihr dessen Haupt sowie sein Herz auf Piken gesteckt zeigen, spricht ein hervorragendes dramatisches Talent aus. Besonders die Großmutter, welche sich schützend vor ihre Tochter und deren Kinder stellt, eine glücklich erfundene, imponierende Gestalt, und auch die entsetzt die Eindringenden anstarrenden Kinder sind im Ganzen gut geschildert. Weit weniger wird man sich mit den mehr wie die Insassen eines Irrenhauses als wie Bauern aussehenden Aufständischen befreunden können. Hier wie beim ganzen Bild hat der Maler ganz offenbar seine Erinnerungen an die Commune in Paris und die Schreckensszenen jener furchtbaren Zeit verwertet, und dadurch allerdings seiner Darstellung eine gewisse packende, unmittelbare Wahrheit gegeben, die freilich mehr zurückstoßender, ja entsetzender, als eigentlich tragischer Art ist.“ [Friedrich Pecht: Unsere Bilder. In: Die Kunst für Alle. Jg. 1, Heft 3, 1.11.1885, S. 42] von dem jungen Franzosen Rochgrosse, das durch seinem/n/ hochdramatischen EfectSchreibversehen, satt: Effect. und besonders durch die fast ins Abstoßende getriebene Realistik meine Aufmerksamkeit erregte. Die neuen Gemälde haben allerdings alle beinahe ohne alle Kritik einen ung/v/erhältnißmäßig hohen Preis und es giebt wol kaum eine Waare, die im Werthe mit dem Alter so schnell und so tief herabsinkt, wenige Meisterleistungen von unbestrittener Schönheit natürlich ausgenommen. Schon aus diesem Grunde ist wol das Princip, von dem Du Dich beim Sammeln von Kunstwerken leiten läßt, das U untrüglichste, und ich freue mich darauf, bei meiner Rückkehr die Stücke sehen zu dürfen, | mit denen Du neuerdings Deine Gallerie beschenkt hast.

Im nächsten Semester würd ich sehr gerne noch hier in München bleibenWedekinds Vater hatte bereits im Sommer 1885 einen gemeinsamen Studienortwechsel von Armin und Frank Wedekind nach Zürich gewünscht [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 22.7.1885]. Frank Wedekind blieb jedoch in München, brach sein Studium dort aber im Sommer 1886 ab.. Es währt ja nur drei Monate lang und die Zeit die ich zur Reise und zum Einwohnen in einem Anderen Ort brauchen würde, kann ich hier besser verwenden. Um die Welt ist es mir auch einstweilen noch nicht sehr zu thun. Später wenn ich erst etwas gelernt habe und an ein g/b/estimmtes Ziel gelangt bin, hoff’ ich sie mir noch in aller Muße n/b/etrachten zu können.

Von der großen RaufereiDie Presse berichtete: „(Schlägerei.) Der Polizeibericht meldet: ‚In der Nacht von Samstag auf Sonntag kam es in einer Wirthschaft an der Blüthenstraße zwischen deutschen und griechischen Akademikern und Studenten zu einem größeren Raufexceß, in dessen Verlauf ein Bildhauer aus Schlesien eine gefährliche Stichwunde erhielt. Derselbe wurde in das allgemeine Krankenhaus verbracht.‘ [...] Namentlich sollen die Griechen den Gesang der deutschen Nationalhymne durch Spottlieder unterbrochen haben.“ [Allgemeine Zeitung Nr. 82, 23.3.1886, 2. Beilage, S. (1)] die hier, dicht in meiner Nähe, zwischen Griechen und Norddeutschen stattfand, wirst du vielleicht in der Zeitung etwas gelesen haben. Gleich tags darauf sprach ich zufällig | einen von den Ärzten, die man in der Schreckensnacht herbeigerufen hatte. Von den zwei schwerverwundeten Norddeutschen soll bereits der Eine im Spital gestorben sein.

Ich g/b/in glücklicherweise in letzter Zeit sehr wohl gewesen. Deine Mahnungvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886. betreffs Schlittschuhlaufens nahm ich mir zu Herzen und nützte die anhaltende Kälte der letzten Wochen noch nach Kräften aus. Plötzlich schlug dann das Wetter um und seit einigen Tagen haben wir eine schwühle drückende Hitze. Übrigens hat es jetzt allen Anschein, als will es Regen geben und im April und Mai wird sich wol auch der Schnee wieder einstellen. Ich hoffe, lieber Papa, daß auch Dich dieser Brief recht wohl antreffen möge. Mama laß ich aufs herzlichste für ihre lieben Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 15.3.1886. danken und | werde sie bei nächster Gelegenheit beantworten. Mit den herzlichsten Grüßen vor allem an Dich, lieber Papa, wie auch an die a/A/nderen, bin ich dein dankbarer Sohn Franklin.


P. S. Es war mir nicht möglich die BranntweinschenkeEine Abbildung des Ölgemäldes „In der Branntweinschänke“ (1883) des Münchner Genremalers Eduard Grützner (Praterstraße 7) [vgl. Adreßbuch von München 1886, Teil I, S. 168] findet sich in den jüngst vergangenen Ausgaben der „Illustrirten Zeitung“ nicht. Von seinen beliebten Trinkbildern war zuletzt eine Reproduktion von „In der Klosterschäfflerei“ (1883) abgedruckt [vgl. Illustrirte Zeitung, Bd. 85, Nr. 2209, 31.10.1885, S. (19)]. in ei/de/r illustr. Zeitung zu finden und somit liegt hier die Photographie beiDie beigelegte Photographie des Bildes ist nicht überliefert.. Grützners neustes Werk ist der Auerbachs Keller1885 entstandenes Gemälde von Eduard Grützner nach einer Szene in Goethes Tragödie „Faust“. Die Presse urteilte: „Die meisten Figuren dieses Bildes sind in Bezug auf Lebendigkeit und Schärfe der Individualisierung, in Bezug auf die Beredsamkeit des Ausdrucks wahre Kabinettstücke.“ Das Bild sei „bis zum geringsten Detail mit gleichmäßiger Sorgfalt und mit blendender Wirklichkeitstreue gemalt [...] Ohne Frage kann man ‚Auerbachs Keller‘ von Ed. Grützner den bedeutendsten Kunst-Schöpfungen desselben beizählen.“ [Die Kunst für Alle, Jg. 1, Heft 5, 1.12.1885, S. 73] aus dem Faust, der mir aber nicht sonderlich imponirt. Es scheint mir eben nur die Kneiperei wiedergegeben, ohne den Goetheschen Geist der dieselbe belebt.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 22 x 14 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    26. März 1886 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
136-139
Briefnummer:
42
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 166-168 (Nr. 64).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.3.1886. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

17.10.2024 10:33
Kennung: 5476

München, 26. März 1886 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm
 
 

Inhalt

München, 26.III.86.


Lieber Papa,

herzlichen Dank für die liebevolle Freundlichkeit, mit der Du meinem PoemaWedekinds Briefgedicht „UNSERM LIEBEN VATER DR.. F. WEDEKIND zum siebzigsten Geburtstage“ [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 20.3.1886 und KSA 1/I, S. 205-235 sowie KSA 1/II, S. 2109-2122], das die Biographie des Vaters bis zu seiner Heirat nacherzählt. entgegengekommen bistHinweis auf ein nicht überliefertes Antwortschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.3.1886.. Ich weiß sehr wol, daß es stellenweise nur allzusehr derselben bedarf. Es fehlte mir eben zu Beginn vollständig das Augenmaß und indem ich dann den Stoff unter meinen Händen über Berechnung hin anwachsen sah, mußt ich manches stehen lassen, was ich gerne schöner und treffender gesagt hätte. Doch tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß | ja diese einmalige Behandlung des so hochpoetischen Stoffes eine zweite vollkommenere ja durchaus nicht ausschließt und daß das Motiv, deine Pilgerfahrt durchs Leben, ja so ungemein reich an den buntesten Momenten ist, daß es bei sorgfältiger Bearbeitung leicht auch für einen allgemeineren Leserkreis Interesse gewinnen würde. – Auch für mein erstes Honorar sag ich dir meinen besten Dank; ich hab’ es auf das würdigste verwendet und angelegt, und wag’ es noch nebenbei als eine recht schöne Vorbedeutung für spätere Zeiten zu nehmen. Auch die beiden PhotographienDie dem Brief beigelegten Kunst-Photographien sind nicht überliefert. haben mir große Freude bereitenSchreibversehen, statt: bereitet.. Nicht weniger die von Julio Romano als die von | Titian. Wenn ich überdenke was ich an alten und neuen Bildern seit meinem AustritSchreibversehen, statt: Austritt. in die Welt nun alles gesehen habe, so sind doch die Schöpfungen TitiansReproduktionen von Bildern Tizians hatte Wedekind auch selbst erworben und seinem Vater davon berichtet [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 9.1.1886]. diejenigen, bei denen ich im Geist am liebsten verharreweile. Diese herrliche Lebensfülle, verbunden mit der hohen und zugleich lieblichen Schönheit und vor allem die tiefe wunderbare Farbenpracht, sind so bestrickende Vorzüge, daß sie den Blick sich nicht abwenden lassen.

Über alledem hab’ ich bis jetzt noch ganz vergessen, Dir, lieber Papa, für dein eigenes BildDas Bild des Vaters, vermutlich eine Photographie, lag wahrscheinlich dem Brief des Vaters von Ende Januar bei [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886]. zu danken; und doch stand dasselbe während der ganzen ZeitWedekind arbeitete spätestens seit Anfang Februar an dem Geburtstagsgedicht für den Vater [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 1.2.1886]., da ich b/a/bends an dem Festpoema arbeitete, vor mir auf dem Tisch und half mir in liebevollster Weise überall wieder auf die Spur | wo mich mein GedächtnißWedekind dürfte die Biographie des Vaters aus dessen Erzählungen gekannt haben. zufällig zu verlassen drohte.

Vor ungefähr einem Monat fragt ich bei H. Professor WagnerWedekinds Vater hatte seinem Sohn wiederholt aufgetragen, „Professor Moritz Wagner“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886] zu grüßen [vgl. zuerst: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 22.7.1885], der seit 1862 Honorarprofessor für Ethnographie und Geographie an der Universität München und Direktor der ethnographischen Sammlungen war, wohnhaft Maximilianstraße 21, 1. Stock links [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1885, Teil I, S. 548]. Friedrich Wilhelm Wedekind hatte ihn während seines Türkeiaufenthalts am 1.10.1843 in Samsun kennengelernt [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301]. in einem kurzen höflichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Moritz Wagner, 24.2.1886. , worin ich mich ihm vorstellte, an, wann ich ihm meine Aufwartung machen dürfe. Er schrieb mir darauf ein sehr freundliches Billetvgl. Moritz Wagner an Wedekind, 25.2.1886., worin er bedauerte, mich nicht empfangen zu können, da er schon seit Wochen an einer Bronchitis leide und der Arzt ihm das Sprechen strengstens untersagt habe. Er bittet mich, Dir für Deine freundliche Erinnerung seinen Dank auszusprechen und Dich/r/ ihn bestens zu empfehlen. Seither hab ich nichts mehr von ihm vernommen.

Die Fleischmannsche AusstellungGemäldeausstellung der Hof-, Buch- und Kunsthandlung E. A. Fleischmann (Inhaber: Albert Riegner) (Maximilianstraße 1) [vgl. Adreßbuch von München 1886, Teil I, S. 126] im Münchener Odeon: „(Kgl. Odeon.) Im Laufe dieser Woche eröffnet die E. A. Fleischmann’sche Hofkunsthandlung in ihrem eigenen Parterre-Lokale, sowie in zweien besonders hiezu arrangirten Sälen des ersten Stockes eine größere Kunstausstellung. Wie wir vernehmen gelangt eine größere Anzahl neuer Werke hiesiger Künstler zur Ausstellung, worunter das soeben vollendete Werk von Professor Gabriel Max ‚Die Himmelskönigin.‘ Die Ausstellung enthält u. a. noch die bekannten Abundantiabilder von Hans Makart, sowie das Colossalgemälde von George Rochegrosse ‚Bauernaufstand‘, welches in der diesjährigen Salonausstellung in Paris großes Aufsehen erregte.“ [Bayerischer Landbote, Jg. 61, Nr. 162, 22.7.1885, S. (3)]. Die Ausstellung wurde auch an anderen Orten gezeigt, so im „Ausstellungssaal von Rudolf Bangel in Frankfurt a. M.“ mit dem Bild von Rochegrosse sowie „Werken der hervorragendsten modernen deutschen Meister, wie A. Achenbach, Brandt, Defregger, Diez, Hugo Kauffmann, Herm. und Fritz Aug. Kaulbach, Gabriel Max, Klaus Meyer, Pilow, Schreyer, Voltz u. a.“ [Illustrirte Zeitung, Bd. 86, Nr. 2220, 16.1.1886, S. 65] sah ich schon vor geraumer Zeit | hier in München. Sie enthielt damals ein großes Historienbild„La Jacquerie“ (Bauernaufstand) von Georges-Antoine Rochegrosse wurde erstmals 1885 auf der Ausstellung im Pariser Salon gezeigt, anschließend in München, Frankfurt am Main, Leipzig und Wien. Es zeigt eine Szene aus dem französischen Bauernaufstand von 1358. Die Presse schrieb: „Dieses Bild des Eindringens eines wütenden Bauernhaufens in das Innere eines mittelalterlichen Schlosses, wo sie die Familie des eben ermordeten Schloßherren in Todesangst zusammengedrängt finden und ihr dessen Haupt sowie sein Herz auf Piken gesteckt zeigen, spricht ein hervorragendes dramatisches Talent aus. Besonders die Großmutter, welche sich schützend vor ihre Tochter und deren Kinder stellt, eine glücklich erfundene, imponierende Gestalt, und auch die entsetzt die Eindringenden anstarrenden Kinder sind im Ganzen gut geschildert. Weit weniger wird man sich mit den mehr wie die Insassen eines Irrenhauses als wie Bauern aussehenden Aufständischen befreunden können. Hier wie beim ganzen Bild hat der Maler ganz offenbar seine Erinnerungen an die Commune in Paris und die Schreckensszenen jener furchtbaren Zeit verwertet, und dadurch allerdings seiner Darstellung eine gewisse packende, unmittelbare Wahrheit gegeben, die freilich mehr zurückstoßender, ja entsetzender, als eigentlich tragischer Art ist.“ [Friedrich Pecht: Unsere Bilder. In: Die Kunst für Alle. Jg. 1, Heft 3, 1.11.1885, S. 42] von dem jungen Franzosen Rochgrosse, das durch seinem/n/ hochdramatischen EfectSchreibversehen, satt: Effect. und besonders durch die fast ins Abstoßende getriebene Realistik meine Aufmerksamkeit erregte. Die neuen Gemälde haben allerdings alle beinahe ohne alle Kritik einen ung/v/erhältnißmäßig hohen Preis und es giebt wol kaum eine Waare, die im Werthe mit dem Alter so schnell und so tief herabsinkt, wenige Meisterleistungen von unbestrittener Schönheit natürlich ausgenommen. Schon aus diesem Grunde ist wol das Princip, von dem Du Dich beim Sammeln von Kunstwerken leiten läßt, das U untrüglichste, und ich freue mich darauf, bei meiner Rückkehr die Stücke sehen zu dürfen, | mit denen Du neuerdings Deine Gallerie beschenkt hast.

Im nächsten Semester würd ich sehr gerne noch hier in München bleibenWedekinds Vater hatte bereits im Sommer 1885 einen gemeinsamen Studienortwechsel von Armin und Frank Wedekind nach Zürich gewünscht [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 22.7.1885]. Frank Wedekind blieb jedoch in München, brach sein Studium dort aber im Sommer 1886 ab.. Es währt ja nur drei Monate lang und die Zeit die ich zur Reise und zum Einwohnen in einem Anderen Ort brauchen würde, kann ich hier besser verwenden. Um die Welt ist es mir auch einstweilen noch nicht sehr zu thun. Später wenn ich erst etwas gelernt habe und an ein g/b/estimmtes Ziel gelangt bin, hoff’ ich sie mir noch in aller Muße n/b/etrachten zu können.

Von der großen RaufereiDie Presse berichtete: „(Schlägerei.) Der Polizeibericht meldet: ‚In der Nacht von Samstag auf Sonntag kam es in einer Wirthschaft an der Blüthenstraße zwischen deutschen und griechischen Akademikern und Studenten zu einem größeren Raufexceß, in dessen Verlauf ein Bildhauer aus Schlesien eine gefährliche Stichwunde erhielt. Derselbe wurde in das allgemeine Krankenhaus verbracht.‘ [...] Namentlich sollen die Griechen den Gesang der deutschen Nationalhymne durch Spottlieder unterbrochen haben.“ [Allgemeine Zeitung Nr. 82, 23.3.1886, 2. Beilage, S. (1)] die hier, dicht in meiner Nähe, zwischen Griechen und Norddeutschen stattfand, wirst du vielleicht in der Zeitung etwas gelesen haben. Gleich tags darauf sprach ich zufällig | einen von den Ärzten, die man in der Schreckensnacht herbeigerufen hatte. Von den zwei schwerverwundeten Norddeutschen soll bereits der Eine im Spital gestorben sein.

Ich g/b/in glücklicherweise in letzter Zeit sehr wohl gewesen. Deine Mahnungvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886. betreffs Schlittschuhlaufens nahm ich mir zu Herzen und nützte die anhaltende Kälte der letzten Wochen noch nach Kräften aus. Plötzlich schlug dann das Wetter um und seit einigen Tagen haben wir eine schwühle drückende Hitze. Übrigens hat es jetzt allen Anschein, als will es Regen geben und im April und Mai wird sich wol auch der Schnee wieder einstellen. Ich hoffe, lieber Papa, daß auch Dich dieser Brief recht wohl antreffen möge. Mama laß ich aufs herzlichste für ihre lieben Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 15.3.1886. danken und | werde sie bei nächster Gelegenheit beantworten. Mit den herzlichsten Grüßen vor allem an Dich, lieber Papa, wie auch an die a/A/nderen, bin ich dein dankbarer Sohn Franklin.


P. S. Es war mir nicht möglich die BranntweinschenkeEine Abbildung des Ölgemäldes „In der Branntweinschänke“ (1883) des Münchner Genremalers Eduard Grützner (Praterstraße 7) [vgl. Adreßbuch von München 1886, Teil I, S. 168] findet sich in den jüngst vergangenen Ausgaben der „Illustrirten Zeitung“ nicht. Von seinen beliebten Trinkbildern war zuletzt eine Reproduktion von „In der Klosterschäfflerei“ (1883) abgedruckt [vgl. Illustrirte Zeitung, Bd. 85, Nr. 2209, 31.10.1885, S. (19)]. in ei/de/r illustr. Zeitung zu finden und somit liegt hier die Photographie beiDie beigelegte Photographie des Bildes ist nicht überliefert.. Grützners neustes Werk ist der Auerbachs Keller1885 entstandenes Gemälde von Eduard Grützner nach einer Szene in Goethes Tragödie „Faust“. Die Presse urteilte: „Die meisten Figuren dieses Bildes sind in Bezug auf Lebendigkeit und Schärfe der Individualisierung, in Bezug auf die Beredsamkeit des Ausdrucks wahre Kabinettstücke.“ Das Bild sei „bis zum geringsten Detail mit gleichmäßiger Sorgfalt und mit blendender Wirklichkeitstreue gemalt [...] Ohne Frage kann man ‚Auerbachs Keller‘ von Ed. Grützner den bedeutendsten Kunst-Schöpfungen desselben beizählen.“ [Die Kunst für Alle, Jg. 1, Heft 5, 1.12.1885, S. 73] aus dem Faust, der mir aber nicht sonderlich imponirt. Es scheint mir eben nur die Kneiperei wiedergegeben, ohne den Goetheschen Geist der dieselbe belebt.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 22 x 14 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    26. März 1886 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
136-139
Briefnummer:
42
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 166-168 (Nr. 64).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.3.1886. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

17.10.2024 10:33