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Kennung: 5462

München, 20. Februar 1886 (Samstag), Briefgedicht

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm

Inhalt

UNSERM LIEBEN VATER

DR.. F. W. WEDEKIND


zum siebzigsten Geburtstage
DEN 21. FEBR. 1886.


seine SöhneWie aus dem Briefwechsel mit seinen Brüdern Armin und William hervorgeht, war Frank Wedekind der alleinige Verfasser des Briefgedichts, an dem er seit Anfang Februar arbeitete [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 1.2.1886]. Am Geburtstag des Vaters trug Armin Wedekind das Gedicht auf Schloss Lenzburg vor [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 25.2.1886].:
A. Wedekind.
B. Franklin
William. L. |


Innig geliebter Vater!


Heut schlug ein Ehrentag, ein Tag der Freude,
Die dunkeln Wimpern auf zum Sonnenlicht;
Er steht geschmückt im festlichen Sonntagskleide,
Lieb’ und Verehrung im leuchtenden Angesicht.
Und wir begrüßen ihn mit herzlichem Frohlocken,
Von unsern Lippen tönt der Weihgesang;
Und tief im Städtchen unten die Kirchenglockender 21.2.1886 war ein Sonntag.
Begleiten uns mit mächtigem Feierklang.


Denn siebzig Mal erneute sich der Lauf
Des vollen Jahr’s mit seinen bunten Gaben,
Denn siebzig holde Lenze blühten auf,
Und siebzig Herbste hat der Schnee begraben,
Seit sich dein Aug’, o Vater, dem Licht erschloß,
Seit Du begonnen hast in edlem Streben.
Heut’ blickst als Sieger Du auf ein reiches Leben,
Das stürmisch wogend an Dir vorüber floß. |


Und aufrecht in der Würde Deiner Jahre,
Noch immer kraftvoll thätig ohne Rast,
Trägst Du den heil’gen Schmuck der weißen Haare
Und der DecennienJahrzehnte. hochgethürmte Last.
Und Deine Kinder blicken mit frommen Gebärden
Empor an ihres Vaters hehrem Bild;
In Thun und Wandel einst ihm gleich zu werden,
Das ist der Stolz, der ihre Brust erfüllt. ––


Früh zogst hinaus du in die Weite
Mit frischem Muth und freiem Sinn;
Und treulich gab dir das Geleite
Die Kunst, die edle Helferin.


Viel fremde Länder, fremde Sitten
Hast Du gesehn auf langer Fahrt.
Oft wandelte dein Fuß inmitten
Von Heidenzeit und Gegenwart.


Nun blickst du von erhab’ner Warte
Weit über Welt und Jahre hin,
Und über Deines Glücks Standarte
Siehst du die ewgen Sterne ziehn.


Verklärt erscheinet dir das Leben,
Das du ergriffen kühn und t jung;
Und längst entschwund’ne Bilder schweben
In traulicher ErinnerungWedekind dürfte die Vita des Vaters aus dessen Erzählungen gekannt haben und rekonstruierte sie hier für das Briefgedicht aus dem Gedächtnis, wie er später schrieb [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.2.1886].. |


Die naht sich nun auf leichten Schwingen
Mit zaubervollem Lautenklang
Und hebt begeistert an zu singen
Von deinem ganzen Lebensgang:


Viel freie Geister hatten schon gesprochen,
Als ein Jahrhundert in die Grube sank,
Als noch der Despotismus nicht gebrochen,
Der siech das Blut aus tausend Herzen trank.
Schwer lagen noch die Ketten auf dem Volke,
Groll und Entrüstung wälzten sich zu Hauf,
Am Horizont stieg die GewitterwolkeSinnbild der Französischen Revolution.,
Ein Blitz – und alles ging in Flammen auf.


Da scholl von Westen her durch alle Lande
Der Weckruf, der in jede Seele drang:
Zerbrich, o Menschheit, die verhaßten Bande!
Zertritt den alten morsch geword’nen Zwang!
Dies Flammenwort befeuerte Millionen
Verzweifelter zu wilder Kampfbegier,
Und auf den Trümmern von zerschellten Thronen
Hob sich der Freiheit leuchtendes PanierBanner, Fahne..


Umstrahlt vom Glanze seines hehren Lichts,
Ein Bringergemeint ist Napoleon Bonaparte, der die Ideen der Französischen Revolution in Europa verbreitete. längstvergeßner MenschenrechteDie Französische Nationalversammlung verabschiedete am 26.8.1789 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.,
So zog der Racheengel des Gerichts
Im Siegeslauf durch Schlachten und Gefechte. |
Und Jung und Alt, durchglüht von Dankbarkeit,
Folgt dem Erob’rer durch Europas Grenzen,
Das neue Schwert dem neuen Kampf geweiht,
Die Stirn’ des großen Völkerherrn zu kränzen. ––


Weh ihm, daß auf dem Gipfel seines Glückes
Der Siegestaumel seinen Geist berauscht,
Daß er das Amt als Rächer des Geschickes
Mit des Tyrannen Scepterstab vertauscht;
Daß er, vergessend seiner ed’len Sendung,
Erneute Fesseln um die Völker wand. ––
Er ward gestürzt vor seines Werks Vollendung,
Gebrochen, in die Einsamkeit gebanntNapoleon verbrachte vom 3.5.1814 bis zum 1.3.1815 im Exil auf der Insel Elba..


Noch einmalgemeint ist die Herrschaft der Hundert Tage (vom 1.3. bis 22.6.1815) nach Napoleons Rückkehr aus dem Exil bis zur Schlacht von Waterloo. zwar erhob der stolze AarAdler [vgl. DWB 1, Sp. 5].
Zum Siegesfluge die gestärkten Schwingen.
Noch einmal zog die kampfbewährte Schaar
Durch Meer und Land zu n/he/ißem Todesringen;
Bei WaterlooDorf 15 Kilometer südlich von Brüssel, bei dem am 18.6.1815 Napoleons Armee von den Briten und Preußen vernichtend geschlagen wurde., bei TolentinoIn der Nähe der italienischen Stadt Tolentino fand am 2. und 3.5.1815 die entscheidende Schlacht zwischen Österreich und dem napoleonischen Königreich Neapel statt, die von Österreich gewonnen wurde. klang
Das Schwanenlied der wilden Kriegstrompeten;
Und, heldenmüthig noch im Untergang,
Ward seine Weltmacht in den Staub getreten.


Auf einem Felsen weit im Oceandie Insel St. Helena im Südatlantik, auf die Napoleon verbannt wurde.,
Ringsum vom kalten Wellengrab umfriedet,
Ward der PrometeusIn der griechischen Mythologie wurde Prometheus zur Strafe dafür, dass er den Menschen das Feuer brachte, an den Kaukasus geschmiedet. auf der Feinde Plan
In feiger Furcht auf ewig festgeschmiedet.
Am Horizont manch weißes Segel blinkt
Und zieht gen Osten durch die blauen Fluthen; |
Doch keines naht, das ihm Erlösung bringt,
Und qualvoll muß das stolze Herz verbluten. ––


Neun MondeNapoleons Deportation begann am 15.7.1815, am 15.10.1815 traf er in St. Helena ein. Wedekinds Vater wurde gut vier Monate später, am 21.2.1816 geboren. waren noch nicht hingegangen,
Seitdem Napoleon, auf britt/s/chem Schiff gefangen,
Die nackten Felsen von St. Helena
Drohend empor aus dem Meere steigen sah,
Als Du, o Vater die schöne Welt begrüßt.
Froh wuchsest Du heran und kamst zu Jahren;
Die gold’nen Tage Deiner Kindheit waren
Durch sorgende Mutterliebe reich versüßt. ––


Kommt ein dunkler Mannnicht identifiziert. in’s Städtchen,
In den Ohren trägt er Ringe.
Neubegierig Knaben, Mädchen
Forschen, was er ihnen bringe.


Mit der regungslosen Würde
Schwerbelasteter Naturen
Trägt er auf dem Haupt die Bürde
Vieler blanker Gypsfiguren.


Da war Schiller, da war Göthe,
Waren Byrons edle z/Z/üge;
Seine Halscravatte wehte
Gleich als ob die Luft sie trüge.


Da war BlücherGebhard Leberecht Fürst Blücher von Wahlstatt war ein preußischer Generalfeldmarschall, der durch den Sieg über Napoleon in der Schlacht bei Waterloo berühmt wurde., war auch ZiethenHans Ernst Karl von Zieten war ein preußischer Generalfeldmarschall, der in der Schlacht bei Waterloo dem Herzog von Wellington zu Hilfe kam.;
Alle schauten unterthänig |
Auf den CzaarZar Alexander I., von 1801 bis 1825 Kaiser von Russland. der MoscowitenEinwohner Moskaus, hier stellvertretend für Russen.,
Auf den stolzen PreußenkönigFriedrich Wilhelm III., von 1797 bis 1840 König von Preußen..

„Kaufet, kaufet Gypsfiguren!“
Ruft der dunkle Träger heiser.
„Kauft die herrlichsten Sculpturen,
„Kaufet Könige und Kaiser!“


Mitten auf dem Traggerüste,
Ach, auf einem schwachen Thron,
Steht die lebensgroße Büste
Von dem Held Napoleon;


Stand die lebensgroße Büste
Von Napoleon, der eben,
Fern der heimatlichen Küste,
Sterbend sich dem Tod ergebenNapoleon starb am 5.5.1821 auf St. Helena.;


Stand des großen Kaisers Büste
Der noch jüngst Europa schreckte
Und vom BeltMeerenge in Dänemark zwischen Jütland und Fünen, die zugleich die Seegrenze des Herzogtums Schleswig markierte. bis in die Wüste
Lybiens seine Macht erstreckte.


„Kaufet, kaufet Gypsfiguren!“
Rief der dunkle Träger heiser.
„Kauft die herrlichsten Sculpturen!
„Kaufet Kön’ge, kauft den Kaiser!“


„Ha der Kaiser, der Dictator!“
Ruft nun einer von den Knaben. |
„Laßt den todten Imperator,
Laßt ihn würdig uns begraben!


„Auf St. Helena, dem Felsen,
Wo die Britten ihn bewachten;
Wird er sich im Grabe wälzen
Und umsonst nach Ruhe schmachten.


„Lasset uns den großen Todten,
Der so schwer gebüßt die Sünden,
Laßt ihn uns in würd’gem Boden
Ehrenvolle Ruhe finden. –


„Hier sind dreißig Silberlingeder Lohn, den Judas im Neuen Testament der Bibel für den Verrat Jesu erhielt [vgl. Matthäus 26,15].,
Den Verrathnen zu erlösen.
Was man auch für Gründe bringe,
Er ist doch ein Held gewesen.


„Er ein Held, emporgetragen
Durch der Götter Huld und Gunst
Leitete den Sonnenwagen
In entflammter Kriegesbrunst.


„Jäh vom wilden Sonnenwagen
Stürzt’ der stolze Phaeton.
So, von eig’ner Wucht erschlagen,
Stürzt’ und fiel Napoleon. –“


Und der Träger nimmt vom Scheitel
Drauf den weißen Held herunter;
Streicht die Groschen in den Beutel.
Weiterwandernd ruft er munter: |


„Gypsfiguren, Gypsfiguren!
Kaufet Feldherrn, kaufet Dichter!
Nach den herrlichsten Sculpturen
Sind gebildet die Gesichter!“


Aber tief im stillen Garten,
Wo des Lenzes erste Gaben
Sich in lausch’gem Frieden schaarten,
Ward indeß ein Grab gegraben.


Fest mit Steinen ausgemauert,
Wurden Seiten, ward der Boden,
Und die junge Schaar betrauert
Emsig ihren großen Todten.


Frische Blumen, Rosen, Flieder
Himmelsschlüssel, Veilchen senken
In das kalte Grab sich nieder,
Es mit süßem Duft zu tränken.


Und die Knaben Paar um Paare
Bilden eine Procession;
Eine schwarzbehengte BaareSchreibversehen, statt: schwarzbehängte Bahre.
Trägt den Held Napoleon.


Seine stolze Stirne krönte
Jetzt ein LorberSchreibversehen, statt: Lorbeer. frisch und grün;
Seines Ruhmes Preis ertönte
Dumpf in Trauermelodien. |


Und wie nun am stillen Orte
Alle um die Baare traten,
Priesen eines Knaben Worte
Des Gekrönten Heldenthaten.


Seine Züge, seine Kriege,
Die den Menschen Freiheit brachten,
Seine heißerkämpften Siege
In den wilden Völkerschlachten.


Als dann senkten sie ihn nieder
In die blumenreiche Gruft,
Und die leisen Klagelieder
Wehten durch die Abendluft.


Eine schwere Steinplatt deckte
Die geweihte Kammer zu,
Daß kein Feind den Todten weckte
Aus der langersehnten Ruh.


Und den Stein deckt frische Erde,
Deckt des alten Rasens Flor;
Und die Sonne sprach: „Es werde!“
Blumen sproßten draus hervor.


Als der Sommer hingegangen,
Welkten auch die Blumen ab;
Als die Lerchen wieder sangen,
Schmückten sie erneut das Grab. |


So vergingen viele Jahre.
O wie längst zogst du vorbei,
Engelskind im Lockenhaare,
Goldne Jugendschwärmerei!


Deine Sonnen, Deine Wonnen,
Alles, alles floh dahin.
Nur Dein Bild ist nicht zerronnen,
Traumhaft lebt es noch im Sinn.


Sein gedenken meine Thränen,
Und mein Aug’ blickt heimatwärts,
Und ein heißes, heißes Sehnen
Füllt das kampfbewährte Herz. ––


Und Zeiten kommen, Zeiten fliehn
An dir vorbei mit leichtem Schritt,
Und drüber her die Wolken ziehn
Und bringen Glück und Unheil mit.
Ein harter Winter geht zu Rande,
Der Frühling sprengt des Eises Bande.


Und überall, auf Berg und Flur,
Im Hain und auf dem Wiesenplan
Erwacht die schlummernde Natur,
Mit Brautgewändern angethan
Vom warmen Sonnenstrahl getroffen
Lebt auf das Herz in neuem Hoffen. |


Da regt sichAnspielung auf die schwere Sturmflut an der gesamten Nordseeküste am 3. und 4.2.1825 mit rund 800 Todesopfern, von der auch der Wohnort von Wedekinds Vater, das ostfriesische Esens, betroffen war. weit im wilden Meer
Des Unglücks schadenfrohe Hand.
Sie wälzt gethürmte Wogen her
Und wirft sie höhnend an den Strand. ––
Weh, wenn die Küsten, trotz den Dämmen,
Die wachsende Gewalt nicht hemmen.


Und Angst ergreift ein jedes Herz,
Es schwillt die Angst, es schwillt die Fluth;
Sie bäumt sich heulend himmelwärts.
Umsonst, umsonst ist ihre Wuth:
Land auf, Land ab, an allen Orten
Tobt sie vor festverschloß’nen Pforten. ––


Doch schwächlich Menschenhandwerk! – Wer
Könnt hinter Dir geborgen sein!
Der Damm zerreißt, da stürzt das Meer
Verschlingend übers Land herein;
Und über Noth und Jammer nieder
Senkt sich der tiefsten Nacht Gefieder.


Es saust und brauset nah und fern;
Des Mondes Scheibe leuchtet nicht,
Am ganzen Himmel blinkt kein Stern,
In Haus und Hütte brennt kein Licht.
Und furchtbar hört der Mensch mit Zagen
Die Fluth an Thür und Fenster schlagen.


Da stürzt das Thor mit Schlag und Krach,
Im Hause wogt ein wildes Meer; |
Die Menschen flüchten sich aufs Dach,
Die Wasser steigen hinter her;
Und dumpf verschlingt ihr lautes Tosen
Das Wehgeschrei der Rettungslosen.


Kein Land, soweit das Auge dringt;
Kein Licht in grauser Dunkelheit;
Kein Nachen, der Erlösung bringt,
So laut die Stimm’ um Hülfe schreit. –
Schon gierig leckend auf und nieder
Umspült die Fluth die starren Glieder.


Da wurde wol zum schönsten Fest
Dem Sensenmann das Wellengrab.
Der Sturmwind die Posaune bläßt
Und peitscht die Zagenden hinab.
Und Noth und Tod und Sterbgewimmer,
Sie dauern bis zum Morgenschimmer. –


Und als der Morgen brach heran,
Stellt sich das ganze Elend dar.
Da zog man aus mit Schiff und Kahn,
Zu retten was noch übrig war.
Auch du, o Vater, noch ein KnabeFriedrich Wilhelm Wedekind war zu Zeitpunkt der Sturmflut noch keine neun Jahre alt. ,
Standst schaudernd an dem Wellengrabe.


Das Wasser sank. Der heiße Lauf
Des Sommers brachte neue Noth;
Denn aus dem feuchten Boden auf
Stieg gifterSchreibversehen, statt: gift’ger. Dunst und Fiebertod. |
Die Zeiten kommen und enteilen;
So laßt uns hier nicht länger weilen! ––


Herangereift an Leib und Geist
In heimischen Gefilden,
Bist, Vater, Du dann abgereist,
Dich weiter auszubilden.


Ein Tag und eine Nacht ging um,
Da warst du schon zur Stelle.
Ein treffliches GymnasiumFriedrich Wilhelm Wedekind besuchte von 1830 bis 1835 das Gymnasium in Celle.
Zog damals dich nach Celle.


Da wurde mensa(lat.) Tisch. declinirt
Und ihm kein Fleiß verweigert.
Amare(lat.) lieben. wurde conjugirt
Und bonus(lat.) gut. ward gesteigert.


Die Lehrer sprachen: „Optime!(lat.) bestens, großartig.
Es ist dir gut gelungen.“
Verdeutschtest du die Lalage„Geliebte des Horaz“ [Meyers Konversations-Lexikon, 4. Aufl. Bd. 10, Leipzig, Wien 1890, S. 417], die mehrfach in seinen Oden (Carmina) vorkommt, so zum Beispiel in der 22. Ode des 1. Buches.
Die einst Horaz besungen.


Doch auch der wackre Cizero,
Mit seinen schönen Sätzen,
Er konnte Dich fast ebenso
Begeistern und ergötzen. |


Man las den Kampf um IliumDa Wedekind hier den Schulstoff im Lateinunterricht seines Vaters abhandelt, dürfte nicht Homers „Ilias“, sondern die „Ephemeris belli Troiani“ gemeint sein, eine lateinischer Roman über den Trojanischen Krieg, der im 4. Jahrhundert unter dem Pseudonym Dictyis Cretensis erschienen war.
Von Paris bis Eumäusstellvertretend für Anfang und Ende des Trojanischen Krieges. Paris, der Sohn Hekabes und des trojanischen Königs Priamos löste mit der Entführung Helenas den Trojanischen Krieg aus. Der Schweinhirte Eumaios war der erste, den Odysseus nach seinen Irrfahrten nach dem Krieg auf Ithaka aufsuchte.,
Zuvor das Evangelium
Des heiligen Mathäus.


Nun kam das Griechisch an die Reih,
Das war schon etwas schwerer.
Von παις(griech.) Kind, Sklave, Diener. und δοςακιζομαιunklar; vermutlich Schreibversehen, statt: θωρακίζομαι = (griech.) ich panzere mich. Wilhelm Papes „Griechisch-Deutsches Handwörterbuch“ (Braunschweig 1849) gibt für das Wort eine Belegstelle in Xenophons „Cyropaedie“ an [vgl. Bd. 1, S. 838], ein Text der zur Schullektüre zählte [vgl. Moritz Dürr an Wedekind, 31.12.1880].
Erzählten da die Lehrer.


Und was auf Erden war geschehn,
Ward von den ersten Sagen
Bis zu der Völker Untergehn
Getreulich vorgetragen.


Allein auch die Realiahier die naturwissenschaftlichen Schulfächer.,
Sie fanden guten Boden:
Der strengen Mathematika
Exempel und Methoden.


So mußte man ohn’ Unterlaß
Gar viele Stunden widmen
Dem Lehrsatz des Pytagorasmathematischer Grundsatz der euklydischen Geometrie, der die Seitenlängenverhältnisse in rechtwinkligen Dreiecken beschreibt (a2 + b2 = c2).
Und Vega’s Logarithmendie von dem Krainer Mathematiker Georg von Vega herausgegebenen Logarithmentafeln: „Logarithmische, trigonometrische, und andere zum Gebrauche der Mathematik eingerichtete Tafeln und Formeln“ (Wien 1783).. ––


Die Luft indeß war schwer und schwül,
Schon regt es sich im OstenAnspielung auf den polnischen Novemberaufstand von 1830/31, der die Unabhängigkeit vom zaristischen Russland zum Ziel hatte.
Wie Rebellion und Kampfgewühl
Und ferne Donner tosten. |


Die Luft war schwül, die Luft war schwer;
Es zitterte fern im WestenAnspielung auf die französische Julirevolution 1830.
Ein junger Thron von Ungefähr
In seinen tiefsten Vesten.


Und ach, im großen deutschen Reich,
Von Trug und Haß umlagert,
Wie war die Freiheit blaß und bleich
Und gänzlich abgemagert.


Die heiße Julisonne läßt
Die Gluth zum höchsten steigen;
Da lodert’s auf in Ost und West
In wildem Todesreigen.


Es lodert auf und kracht und fällt
Ein stolzer ThronMit der Julirevolution endetet die Herrschaft der Bourbonen in Frankreich. zusammen.
Drauf steht die ganze weite Welt
In lichterlohen Flammen.


Werft ab, werft ab das alte Joch,
Das euch so lang gekettet!
So habt ein Vaterland ihr noch
Und Polen ist gerettet.


Da gab es heißen Todeskampf;
Es schmettern die Trompeten
Durch Mordgewühl und Pulverdampf
Und frommer Streiter Beten. –


Triumph, Triumph! Das Land ist freiAm 25.1.1831 wurde in Polen der russische Zar Nikolaus I. für abgesetzt erklärt, im Herbst jedoch unterlagen die Aufständischen den russischen Truppen.,
Brennt auch die Todeswunde. |
Laut stimmten in das Siegsgeschrei
Die Völker in der Runde.


Und freudig opfertAnspielung auf die in Deutschland verbreiteten Unterstützungsvereine für den polnischen Freiheitskampf und die geflüchteten Aufständischen. Alt und Jung
Zur Linderung der Schmerzen.
Da zog auch die Begeisterung
In eure junge Herzen.


Und wenn der Tag vollendet war,
Der Abend sank hernieder, –
Durch’s Städtchen tönten hell und klar
Die stolzen PolenliederNeben den Liedern, die die geflüchteten polnischen Aufständischen Ende 1831 mit nach Deutschland brachten, dichtete auch eine Vielzahl deutschsprachiger Autoren Polenlieder, darunter Adelbert von Chamisso, Emanuel Geibel, Franz Grillparzer, Anastasius Grün, Friedrich Hebbel, Georg Herwegh, Karl von Holtei, Justinus Kerner, Nikolaus Lenau, Ernst Ortlepp, August von Platen, Gustav Schwab, Karl Simrock, Ludwig Uhland oder Karl Heinrich Wilhelm Wackernagel..


Da ward wol in der jungen Brust
Erweckt ein süßes Ahnen:
Wann werden wir mit Lieb und Lust
Erheben unsre Fahnen?


Geduld, Geduld! Es bringt die Zeit
Uns Kraft und Männerstärke.
Dann bin auch ich zum Kampf bereit
Und zum Erlösungswerke. ––


O, armes Polen! Fürchterlich
Naht dir DieSchreibversehen, statt: Naht Dir die. Todesstunde.
Der Feind fällt würgend über dich
Und blutend klafft die Wunde.
Dein letzter Lebenssaft entquillt;
Zerbrochen ward Dein Wappenschild,
Um noch im Sterbestöhnen
Dein brechend Aug’ zu höhnen. –– |


Nun ging’s zur UniversitätWedekinds Vater studierte von 1835 bis 1839 in Göttingen und Würzburg Medizin.
Mit frischem Muth und leichtem Sinn,
Und hoch an deinem Himmel steht
Der lichte Stern der Medicin;
Ihr willst du dich ergeben
Mit Fleiß und ernstem Streben;
Sie soll dich über Stürme hin
Und Menschenschicksal heben.


Des Menschenleibes Schwächlichkeit,
Das ewig alte Weh und Ach,
Verletzung und Gebrechlichkeit,
Dem allem forscht das Auge nach.
Docirt auch vom Katheder
Dasselbe nicht ein Jeder,
So sucht man eben selbst die Sach
Mit Messer und mit Feder.


Da sproßt denn auch die Fröhlichkeit
Zur allerhöchsten Blüthe.
Das Herz ist kühn, die Brust ist weit,
Das stolze Auge glühte.
Weh jedem, der den BurschenFriedrich Wilhelm Wedekind war in Göttingen in der Studentenverbindung „Corps der Ostfriesen aktiv und holte sich auf der Mensur die nötigen Schmisse“ [Kutscher 1, S. 3]. Zwei Tage nach seiner Ankunft in Göttingen notierte er am 29.8.1835: „Aufnahme als Fuchs in das Corps der Ostfriesen.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] reizt!
Ihm wird gehörig eingeheitzt;
Auf seiner Wange schmerzen
Die Quarten und die TerzenHiebe beim Säbelfechten..


Auf Brüder! Auf! die Ehre ruft.
Vertheidigt eure Farben!
Die Schläger sausen durch die Luft
Wol auf die alten Narben. |
Und als vorüber die Mensur,
Schallt Gaudeamus igitur!(lat.) Lasst uns also fröhlich sein! Anfang eines weit verbreiteten lateinischen Studentenliedes.
Es klingen die Pokale
Im lichterhellten Saale. ––


Mit s/S/iebenmeilenstiefeln trabt
Die gold’ne Zeit hinunter.
Ihr Lieben, nun ade! Begrabt
Den ganzen schönen Plunder
Nur diese Mütze, dieses Band,
Das einst so stolz die Brust umwand,
Sie will ich treu bewahren
In Freuden und Gefahren.


Am Horizont, sieh da, sieh da!
Schon steigen auf und walten
Der nahenden Examina
Gespenstische Gestalten.
Da zogst du aus voll Muth und Kraft,
Gepanzert durch die Wissenschaft,
Mit chapeau claque(frz.) Klappzylinder. und Degen
Dem Teufelsspukgemeint ist die Abschlussprüfung; am 22.3.1839 notierte Friedrich Wilhelm Wedekind: „Mein mündliches Doctorexamen gemacht.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] entgegen.


Vertrauend auf des Wissens Hort
Trittst frank du in die Schranken
Und fochtest kühn mit klugem Wort
Für Thesen und Gedanken.
Und als zu End’ des Kampfes Wuth,
Da krönte Dich ein DoctorhutFriedrich Wilhelm Wedekind wurde am 10.8.1839 mit der Dissertation „Die Schnellgeburt“ an der Universität Würzburg zum Doktor der Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe promoviert [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].,
Da führten seine Sterne
Den Sieger in die Ferne. –– |


Die Kaiserstadt, das lust’ge Wien
Mit seinem schönen Prater,
Es ward, eh’ zwei JahrzehnteIrrtum Wedekinds, gemeint sind die neun Jahre zwischen 1839 und 1848 (s. u.). fliehn,
Des Aufstands FeuerkraterAm 13.3.1848 kam es in Wien zu Demonstrationen und Tumulten, die zur Abdankung des Staatskanzlers Clemens Fürst von Metternich führten, wenige Tage später kam es auch in Berlin zu revolutionären Unruhen. Die Metapher eines Vulkanausbruchs für die Revolution war ein verbreiteter Topos..


JetztFriedrich Wilhelm Wedekind traf am 27.8.1839 in Wien ein [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301], „wo er vom September 39 bis April 40 Kliniken besuchte, italienischen Unterricht nahm und eifrig ins Theater ging.“ [Kutscher 1, S. 3] aber nahm es liebevoll
Dich auf in seinen Mauern;
Sein lebensfrohes Herze schwoll
Noch nicht von Todesschauern.


Und ungestört in Deiner Ruh’,
Zumeist in den Spitälern,
Erforschtest und studirtest du
Den Mensch mit seinen Fehlern.


Dann zog’s Dich weiter nach ByzanzAm 21.7.1843 startete Friedrich Wilhelm Wedekind in Triest per Segelschiff nach Konstantinopel, wo er am 3.9.1843 eintraf [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].
Entlang dem Donaustrome;
Bald strahlte Dir der Kuppelglanz
Von St. Sophiens Domedie im 6. Jahrhundert erbaute Kuppelkirche Hagia Sophia, die seit 1453 als Moschee genutzt wurde..


Seit einstDie Truppen von Sultan Mehmed II. eroberten am 29.5.1453 Konstantinopel. dem Volk des Muhamet
Die schöne Stadt verfallen,
Spricht nun der Türke sein Gebet
Durch die geweihten Hallen.


Constantinopel, wie bewegt
Sahst du die Zeiten schwinden!
Wer hat den Grundstein Dir gelegt?
Wer will die Namen künden? –
Den Jammer und den Klageton,
Der einst erscholl in Ilion,
Wie oft hat ihn beklommen
Seither Dein Ohr vernommen! |


Du wohntest, Vater, im Quartier
Der vielverhaßten Franken„Zwischen Top-Hane, Galata und Kassim-Pascha, über diesen Vorstädten auf der Höhe des Hügels liegt Pera, das eigentliche Franken- und Fremdenquartier.“ [Brockhaus’ Konversations-Lexikon. 14. Aufl. Bd. 10. Berlin, Wien 1894, S. 587] Dass er dort Quartier nahm, schrieb Friedrich Wilhelm Wedekind auch seiner Mutter [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Friederike Dorothee Wedekind. Diarbekir, 20.5. bis 7.6.1844; AfM Zürich, PN 169.1: 266]..
Da trat einmal ein MannIn Konstantinopel lernte Wedekinds Vater, wie er in einem Brief an seine Mutter berichtete, am 4.8.1843 den „Bergverwalter Braun aus Brixlegg in Tyrol“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Friederike Dorothee Wedekind. Diarbekir, 20.5. bis 7.6.1844; AfM Zürich, PN 169.1: 266] kennen, der sich dort aufhielt, um für den Sultan „die türkischen Bergwerke zu inspiciren und einen Bericht darüber abzustatten, in welcher Weise zweckdienliche Veränderungen mit denselben vorgenommen werden könnten“ und aktuell die Aufgabe hatte, „in Kiebar- und Argana-Maden, jenes am Euphrat, dieses am Tigris, dort eine Silberhütte, hier eine Kupferhütte nach europäischer Weise zu erbauen“. Er soll Friedrich Wilhelm Wedekind den „Vorschlag, mit ihm nach Kiebar-Maden zu reisen um dort die Stelle eines Bergwerks-Arztes zu übernehmen“, gemacht haben. Im Tagebuch notierte er am 11.8.1843 hingegen: „Bergrath Pauliny macht mir den Vorschlag, als Arzt eine Expedition ins Innere Kleinasien mitzumachen.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] zu dir,
Versunken in Gedanken.
Der sprach: „Die Jugendzeit ist schön.
Verlangen Sie die Welt zu sehn,
So können ohne Weilen
Sie unsre Reise theilen.


„Es führet nämlich uns der Plan
Der/s/ z/Z/uges tief in’s Inn’re,
Durch Turkistan, Beludschistan,
So viel ich mich erinn’re.
Der SultanSeit dem 1.7.1839 war Abdülmecid I. Sultan des Osmanischen Reichs und führte die von seinem Vater Mahmud II. begonnen Bemühungen zur Verbesserung der türkischen Bergwerke fort. zahlt die ganze Reis’
Und bietet jedem MonatweisSchreibversehen, statt: monatweis.
Vierhundert StaatspiasterSeiner Mutter schrieb Friedrich Wilhelm Wedekind: „Die von der türkischen Regierung bewilligten Bedingungen seien ein monatlicher Gehalt von 600 P. (40 rh. Pr.) freier Wohnung, Feuerung und Licht, und freier Hin- und Rückreise.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Friederike Dorothee Wedekind. Diarbekir, 20.5. bis 7.6.1844; AfM Zürich, PN 169.1: 266],
PilavReisgericht. und Pfeifenknaster.“ –


Du sprachst: „Wolan, mein Genius
Ermahnt mich, einzuschlagen;
Und Ihrem Freund, dem Sultanus,
Dem mögen Sie das sagen!“. ––
Den Pact schrieb man mit einem RohrSchreibrohr oder Rohrfeder; im Nahen Osten verbreitetes Schreibgerät.
Und legt’ ihn dem Beherrscher vor;
Der stieg zur Toilette
Soeben aus dem Bette.


In Schlafrock und Pantoffeln fand
Der Sultan es nicht übel
Und langte mit der ganzen Hand
In einen Tintenkübel, |
Drückt sie dann aufs Papier recht breit,
Nun wurde Goldsand drauf gestreut.
Die Hand wusch ihm dann eine
Der Dienerinnen reine. ––


Hin durchs Gebirg, durch Flur und Hain,
Von Ort zu OrtWedekinds Vater reiste von Konstantinopel über Samsun, Tokat und Sivas nach Kjebar Maden in Anatolien, wo er am 18.10.1843 eintraf und bis zum 1.5.1844 blieb. Anschließend reiste er in zwei Tagen über „die westliche Tigrisquelle nach Argana Maden“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] und hielt sich dann ab dem 9.5.1844 in Diyarbakir auf. Am 10.6.1844 reiste er von dort zurück über Argana Maden nach Torkat, wo er bis zum 9.8.1844 blieb, ab dem 22.8.1844 war er wieder in Konstantinopel. und einsam durch die Wüsten,
Vom Morgengraun im hellsten Sonnenschein
Bis AbensSchreibversehen, statt: Abends. mild die lieben Sterne grüßten,
Zog eine Carawane durch das Land;
Und wo sich irgend wo ein Bergwerk fand,
Da ward besichtigt, inspiciert,
Ob alles auch im Sinn des Sultans gehe,
Bis daß das Ziel die Carawane weiter führt,
Daß sie wo anders nach demselben sähe.


Den ganzen Tag, von Morgen bis zur Nacht,
Ward fortgeritten und kein Halt gemacht.
Doch wenn der milde Abend kam heran,
Da schickt man einen Dragoman(arab.) Dolmetscher.
In’s nächste Städtchen stracks zum Bürgermeister;
Der fragt: „Des Ortes reichster Herr, wie heißt er?
Er muß sofort mit Weib und Kind,
Mit seinem ganzen IngesindDienerschaft, Dienstboten.
Sein Haus verlassen. Nur er selbst bleibt drin,
Um gastlich zu bewirthen unsre Leute,
Bis daß wir aus dem Städtchen ziehn
Durch Wald und Steppen in die Weite. –
Von Widerrede nichts! Er muß sich fügen.
Der Sultan will’s. Das soll dem Herrn genügen!“


So ging’s zwei JahreFriedrich Wilhelm Wedekind war am 29.9.1843 mit dem Schiff zu der „Bergwerks-Expedition“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] aufgebrochen und kehrte am 22.8.1844 nach Konstantinopel zurück. Dort brach er am 30.9.1845 Richtung Griechenland und Sizilien auf. und noch mehr |
Durch ganz Kleinasien hin und her,
Wo Cyrus einstWedekind referiert mit seiner Namensreihung gängigen Schulstoff über die antiken Herrscher und Eroberer in Kleinasien zwischen dem 7. und 4. Jahrhundert v. Chr., vom athenischen Gesetzgeber Solon, der größere Reisen durch Ägypten und Kleinasien unternommen hatte und dem lydischen König Krösus bis zu den Perserkönigen Kyros und Dareius, der von Alexander dem Großen 333 v. Chr. bei Issos besiegt wurde., wo Alexander stritt,
Wo Krösus häufte seine Schätze,
Solon studirte die Gesetze,
Und wo Dareios Codomannos litt.
Manch’ schöner Stein und manche MünzeFriedrich Wilhelm Wedekind „legte eine bedeutende Sammlung von Münzen und Waffen“ [Kutscher I, S. 4] auf seiner Reise durch Anatolien an. zeugen
Von der dahingeschwund’nen Heidenzeit;
Und aus dem Schutt gefallner Tempel steigen
Die Schattengeister alter Herrlichkeit.


Durch SyrienDass Wedekinds Vater die genannten Stationen, namentlich die Landschaft des antiken Babyloniens (heute: Irak), besucht hat, ist unwahrscheinlich. Im Brief an seine Mutter schrieb er am 7.6.1844, er wisse nicht, „ob wir noch weiter nach Mossul, zu den Ruinen von Ninive gehen“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Friederike Dorothee Wedekind. Diarbekir, 20.5. bis 7.6.1844; AfM Zürich, PN 169.1: 266]. Drei Tage später verließ er Diyarbakir Richtung Norden, wäre demnach über Anatolien nicht hinausgekommen. ging’s in’s stromumfloßne Land,
Wo ehedem das stolze Babel stand,
Und wo man, um den Himmel zu erstürmen,
Ohn’ Unterlaß durch manches Jahr
Ließ Steine sich auf SteineAnspielung auf die Erzählung des Turmbaus zu Babel im Alten Testament der Bibel [vgl. Genesis 11,1–9]. thürmen,
Bis man den Wolken nahe war.
Weh, da verwirrten sich die Sprachen,
Daß keiner mehr des andern Wort verstand;
Umsonst, daß sie die Köpfe sich zerbrachen;
Der Geist war stumm, unthätig blieb die Hand. ––
So ist es allen noch ergangen,
Sei’s Philosoph, Titanin der griechischen Mythologie Riesen in Menschengestalt., AëronautLuftschiffer.,
Die ihrer eignen Kraft zu viel vertraut
Und sich des Himmelstürmens unterfangen:
Die große Sphinx will nicht enträthselt sein. ––


Der Euphrat und der Tigris schließen
Das schöne Land von beiden Seiten ein,
Und ihre majestät’schen Wogen fließen
In stolzer, ewig gleicher Ruh
Dem fernen Golf an Persiens Küsten zu. |
Einst hörten sie, in längstvergangnen Tagen
Den tiefen Jammer und die KlagenAnspielung auf das in Psalm 137 des Alten Testaments der Bibel thematisierte babylonische Exil der Juden: „An den Strömen von Babel, da saßen wir und wir weinten, wenn wir Zions gedachten. An die Weiden in seiner Mitte hängten wir unsere Leiern. Denn dort verlangten, die uns gefangen hielten, Lieder von uns, unsere Peiniger forderten Jubel: Singt für uns eines der Lieder Zions!“ [Psalm 137,1-3]
Gefang’ner Kinder Israel.
Sie sangen trauernd ihre Leiden,
Die Harfen hängend an die Trauerweiden,
Bis daß der Herr durch DanielAnspielung auf Kapitel 9 des Buchs Daniel im Alten Testament der Bibel: „Während ich noch redete und betete, meine Sünden und die Sünden meines Volkes Israel bekannte und meine Bitte für den heiligen Berg meines Gottes vor den HERRN, meinen Gott, brachte, während ich also noch mein Gebet sprach, da kam im Flug der Mann Gabriel, den ich früher in der Vision gesehen hatte; er kam um die Zeit des Abendopfers zu mir, redete mit mir und sagte: Daniel, ich bin ausgezogen, um dir klare Einsicht zu geben. Schon zu Beginn deines Gebetes erging ein Gotteswort und ich bin gekommen, um es dir zu verkünden; denn du bist geliebt. Achte also auf das Wort und begreife die Vision! Siebzig Wochen sind für dein Volk und für deine heilige Stadt bestimmt, bis der Frevel beendet ist, bis die Sünde versiegelt und für die Schuld Versöhnung erwirkt ist, bis ewige Gerechtigkeit gebracht wird, bis Visionen und Weissagungen besiegelt werden und das Allerheiligste gesalbt wird.“ [Daniel 9,20-24],
Nachdem gebüßt die aufgehäuften Sünden,
Die Stunde der Erlösung ließ verkünden. ––


Auch, Vater, du, zogst aus dem schönen Land,
Wo CyrusDie Truppen des Perserkönigs Kyros II. eroberten am 6.10.539 v. Chr. Babylon und besiegten damit den babylonischen König Nabonid, den Vater des Kronprinzen Belsazars. den Belsazar überwunden,
Wo Alexander einst sein CapuaDas antike Capua galt als „die üppige Hauptstadt Kampaniens, die an Größe und Pracht mit Karthago und Rom wetteiferte“ [Meyers Konversations-Lexikon. 3. Aufl. Bd. 4. Leipzig 1875, S. 150]; es diente Wedekind hier als Vergleichsgröße für das reiche Babylon, das Alexander der Große 331 v. Chr. mit dem Sieg über Dareios eroberte. gefunden,
Und der verlor’ne SohnAnspielung auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn im Neuen Testament der Bibel [vgl. Lukas 15,11-32]; dort heißt es allerdings lediglich, der Sohn sei in „ein fernes Land“ gezogen und dort „aufs Feld zum Schweinehüten“ gegangen. in niedern Diensten stand.
An Seltenheiten reich und Schätzen,
Die sonderlich des Forschers Aug’ ergötzen,
Warst du gesund auf deinem treuen PferdWedekinds Vater erreichte Konstantinopel am 22.8.1844 nicht auf dem Pferd, sondern mit dem Dampfschiff, das er am 13.8.1844 in Trabzon am Schwarzen Meer bestiegen hatte [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].
Nach Constantinopel kaum zurückgekehrt,
So traf s/d/ich dort der Zorn des Muhamet:
Es faßte Dich ein wildes FieberAm 30.8.1844 notierte Friedrich Wilhelm Wedekind erstmals: „Verfalle in eine langwierige Krankheit (typhoises Fieber). Falle auf der Straße nieder; Erbrechen; Fieber.“ Am 26.10.1844 heißt es: „Das Fieber bricht wieder aus, daneben Erbrechen und Diarroe.“ Am 6.1.1845 erneut: „In den folgenden Tagen entwickelt sich ein typhoises Fieber“ und am 19.1.1845: „Es stellen sich Delirien ein und halten mehrere Tage an“. Am 18. und 19.2.1845 notierte er: „Der fatale Husten fängt an nachzulassen, auch stellt sich der Appetit ein wenig wieder ein, nachdem ich gut 5 Wochen nur von warmer Milch gelebt.“ Erst am 25.3.1845 der Eintrag: „Zum ersten Male wieder an die freie Luft gegangenen [...], nachdem ich seit dem 4ten Jan. also 82 Tage das Zimmer gehütet.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301],
Die Tage wurden trüb und trüber;
Lang lagst Du einsam auf dem Krankenbett.
In fremdem Land, verlassen und allein,
Trat keine Menschenseele bei Dir ein,
Als Morgens früh, sobald der Tag erwachte,
Ein Muselmann, der Dir den Frühtrunk brachte. –
Und als du so gelitten lange Wochen
Und endlich die Gesundheit kehrte zurück,
Hat der Genuß von einem Melonenstück
Zum zweiten Mal die Kräfte dir gebrochen.


Wohl jedem, dem in schweren Stunden
Ein reicher Geist das Herz erhebt,
Und über Schmerzen, über Wunden
Erhabene Gedanken webt.


Der einsam Kranke muß verzagen,
Wenn ihn nicht inn’re Stärke hält,
Wenn ihn nicht Geistesschwingen tragen
In eine schmerzenlose Welt.


So träumt er unter Qual und Leiden
Von hohem, längstersehntem Glück,
Indeß die finstern Mächte scheiden,
Und die Gesundheit kehrt zurück. ––


Ein schnelles Schiff mit günst’gem Wind
Trug dich entlang an Ioniens Küstendie Westküste Kleinasiens (Türkei). Hier hatte Friedrich Wilhelm Wedekind vom 2.10.1845 bis 29.11.1845 einen längeren Aufenthalt in Smyrna (heute: Izmir) [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].,
Wo Städte dich und Inseln grüßten,
Vertraut, wie Jugendfreunde sind.
Hier hatte ja dein Geist gewandelt,
Als er im Dienst der Schule war;
Und was er fleißig sich erhandelt,
Nun wird es erst lebendig klar:
Hier lebten Perser, lebten Griechen,
Der Römerherrschaft Glanz und Ruhm,
Das Christenvolk mit seinen Flüchen
Aufs alte schöne Heidenthum.
Und wie die Tage schnell enteilen,
So liegt die schönste Perle nah, |
Dort glänzt mit den gebroch’nen Säulen
AthenFriedrich Wilhelm Wedekind notierte am 30.11.1845, nachdem sein Schiff in Piräus angelegt hatte: „Ausflug nach Athen.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] im freundlichen Attika.


Empor, empor zur lichten Höhe,
Zur herrlichen Akropolis,
Daß ich die heil’gen Trümmer sehe! –
O Wonneblick voll Bitterniß!


Ihr Leichensteine ew’ger Geister,
Zu stummer Trauer nun verdammt,
Warum zerschlug der hohe Meisterunklar; Wedekind beklagt hier wohl die Ikonoklasmen an der Athener Akropolis seit der byzantinischen Christianisierung im 6. Jahrhundert und der muslimischen Vereinnahmung durch die Türken 1456.
Die stolze Pracht, der ihr entstammt?


Warum, warum seid ihr gefallen
Von teuflischer Barbarenhand,
Ihr Menschenbilder, Säulenhallen,
Darin die Gottheit selberIm Parthenon der Akropolis befand sich bis ins 5. Jahrhundert ein rund 12 Meter großes Standbild der Athena Parthenos. stand?


Noch lacht euch ja der gleiche Himmel,
Noch glänzet euch das gleiche Meer.
Der Schiffe liebliches Gewimmel,
Noch spielt es um die Küsten her.


Noch hegt das Menschenherz das gleiche
Verlangen nach Erhabenheit. –
Warum verlor es jene reiche
Unwiederbringlich gold’ne Zeit?


Wie würde sie die Welt jetzt trösten,
Die Welt, die so gelähmt und krank, |
Die die Propheten nicht erlösten
Durch Dogmentrug und blut’gen TrankAnspielung auf das Neue Testament der Bibel: „Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm.“ [Johannes 6,53-56]. ––


Du große Gottheit, Gott des Schönen,
Verlaß mich nicht, ich bin dir treu.
Laß mir dein Zauberlied ertönen,
Wie auch die Welt gealtert sei!


Laß mich im wüsten Weltgewimmel
Nicht stürzen von der lichten Höh!
Thu auf dich, blauer Griechenhimmel,
Daß ich dein strahlend Auge seh’! ––


So scholl aus Deinem Herz vereinet,
Was still darin geborgen war.
Sieh da! Vor Deinem Blick erscheinet
Ein Jüngling schön und wunderbar.


Wie? Ist es Wahrheit, ist es Lüge? –
Du fragst, und seine Lippe spricht!
Erkennst Du diese reinen Züge?
Kennst Du den Götterboten nicht?


Blickst so freundlich forschend hernieder, Hermes,
Schöner Gott; bin ich des bewegten Auges
Sehnsucht? – Mir dem Sterblichen bringst Du Botschaft
Hoch vom Olymp her? – |


Manches Liebeswörtchen hat unter Göttern
Deines Fußes Fittig dahingetragen.
Gerne sahn dich alle. – Wardst darum, Hermes,
Schön wie der Tag du? –


Herrlich ging das Weib aus Prometeus HändenIn Ovids „Metamorphosen“ (1,76-88) formt Prometheus die Menschen nach dem Bild der Götter aus Erde und Regenwasser.,
Aber Deiner Schönheit erhabne Züge
Trägt es nicht. – Was haben die ewgen Götter
Mir zu verkünden? –


„Ew’ge Jugend aus des Olympos Höhen
Sollte dir, dem Sterblichen HermesSchreibversehen, statt: dem Sterblichen, Hermes. bringen,
Als Geschenk unsterblicher Griechengötter
Goldene Jugend.


„Aber Deines Geistes gewalt’ge Schwingen
Leih’n Dir höh’res Gut: Statt in leichtem Tändeln
Wirst im Kampf und Sieg über Jahre stets du
Stark Dich erhalten.


„Bunt mit Blumen schmückt sich die munt’re Jugend.
Aber wer als Mann sich die Welt erobert,
Dem kränzt Hermes preisend mit ewig grünem
LorberSchreibversehen, statt: Lorbeer. die Schläfen.“ –– |


In Malta eine lange Quarantaine
Hielt Deinen raschen Wanderflug zurück.
Da schlug die lange Weile die scharfen Zähne
Tief in das angefesselte Lebensglück.
Heiß war der Tag in jenen kahlen Räumen,
Ganz angethan zum Schlafen und zum Träumen.
Allein die Nächte waren erquickend frisch;
Da saß’st du dann, dein Sattel war dir Tisch,
Und schriebest Briefe an die fernen Lieben,
An Freunde und Verwandte Brief um Brief,
Bis daß der Hahn die Morgenstunde rief,
Und andere Leute sich die Augen rieben.


Wie jauchztest du, als wieder freie Luft
Auf schwankem Schiffe kühlend Dich umwehte,
Als drauf, erwacht im Strahl der Morgenröthe
Phaeton Dich in seine Mauern ruft.
Ehrwürdgen Alters ist die Stadt und prächtig
Mit Kirchen und Capellen wol beschert,
Und über alles hebt sich drohend mächtig
Des Ätnas himmelhoher Feuerheerd.
Ein schöner Tag„Auf den Aetna (monti rossi)“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] notierte Friedrich Wilhelm Wedekind in einem ergänzenden Nachtrag in seinem Tagebuch. Den Ausflug zu den „Monti rossi“ datierte er auf den 14.3.1846. bringt seine schönen Freuden,
Und Herrn und Damen schwingen sich zu Roß,
Und auf zum Krater klimmt der ganze Troß,
Das Aug’ am Wunder der Natur zu weiden.


Im Rücken raucht der finstre Höllenschlund,
Doch vor Dir liegt Sicilien ausgebreitet, |
Glänzt Meer und Land so sonnig warm, so bunt,
Und hoch sich drüber her der Äther weitet.
Und wie Dein Aug’ jetzt durch die Ferne schweift,
Unstet umher, in freudigem Erwarten,
So hast gar bald Du hoch zu Roß durchstreift
Den ganzen reichen Paradiesesgarten.


Die Monde fliehn. Mit Klang und Jubelschall
Im Schellenkleide naht Prinz CarnevalDer Rosenmontag fiel auf den 23.2.1846, also noch in die Zeit von Friedrich Wilhelm Wedekinds Aufenthalt in Palermo..
Da faßt der Dämon der Verneinung
Das ganze Volk und stellt es auf den Kopf;
Was man nicht ist, bringt jeder zur Erscheinung,
Vernunft und Thorheit sind der gleichen Meinung
Und alles tanzt um seinen eignen Zopf.
Der Geist der Ausgelassenheit
Wälzt sich bacchantisch durch die bunten Mengen,
Und unter Pracht und jubelnden Gesängen
Rast schnell vorbei die wilde Zeit. ––
Ein junger Türke, heißt’s, sei auch dabei gewesen,
Das goldgestickte Fez im Lockenhaar,
In silberschwerem Kleid. – Doch wer der Türke war,
Steht leider nicht in diesem Buch zu lesen.


Wie bald starbst du dahin, Du leichtes Ding,
Du Carneval, Du schillernder Schmetterling.
Es blüht der Lust kein dauerndes Verweilen,
Und ihren Grabstein schmücken diese Zeilen: |


Wärmender Wonne wiegende Welle
Weilt nicht gewärtig der wohligen Ruh.
Fern den Gestaden in wogender Schnelle
Wallt sie den tosenden Tiefen zu,
Stürzt über Felsen mit jauchzendem Jagen
Jählings hinab in den schäumenden Schlund:
Glizernde Perlen, in Lüften getragen,
Geben ihr seliges Sterben uns kund. ––


Über NeapelAm 19.3.1846 notierte Friedrich Wilhelm Wedekind: „Gegen Mittag Ankunft im Hafen von Neapel.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] Am 29.3.1846 verließ er Neapel mit „Extrapost […] über Capua und Gaeta nach Terracina“ [ebd.]. an dunkelblauer Bucht,
Gekrönt von des Vesuves rauchendem Kegel,
Trägt Dich das schnelle Schiff mit blinkendem Segel.
Und Deines Wagens vielverzögerte Flucht
Führt dich durch der Campagna dunstige Haide
In schnellem Trab. Da schwillt Dein Herz vor Freude
Denn vor dir steigt empor mit dem Petersdom
Das ewige RomFriedrich Wilhelm Wedekind kam am 30.3.1846 in Rom an: „Weiter über Velletri und Albano nach Rom. Herrliche Aussicht von der Höhe von Albero auf die Stadt.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].
Die Stadt die zweimalzur Zeit des Römischen Reiches und zur Zeit der Renaissance. sich die Welt gewann,
Die zweimal Fesseln schlug um alle Lande,
Einst durch des Schwertes EisengefügteSchreibversehen, statt: eisengefügte. Bande
Jetzt durch des Geistes fester geschlung’nen Bann;
Die Stadt die selber zweimal zu stolzer Pracht,
Gleich wie der Phönix aus den Flammen,
Aus Brand und Schutt und Trümmern ist erwacht
Und zwei Jahrtausende hält in sich zusammen.


Doch hängt Dein Blick nicht einzig an den Trümmern
Aus glänzender Cäsarenzeit, |
Die düster jetzt im Abendgolde schimmern,
Obwohl sie blinkend einst das Aug’ erfreut.
Die stolzen Bauten sind gebrochen,
Den lichten Tempeln hoch und hehr
Hat man die Augen ausgestochen:
Sie hegen keine Götter mehr.


Allein das Göttliche stirbt nie;
Aus Plünderung und Feuersbrünsten
Hebt sich unsterblich Poesie,
Hebt sich der Geist in edlen Künsten.


Und eine neue Ära bricht heran
Im späten Morgenroth in ros’ger Ferne:
Die Sonne zieht verjüngt die hohe Bahn
Und durch das Dunkel blinken neue Sterne.


Und Kirchen und Paläste füllen sich
Mit Lieblichkeit und Pracht durch neue Meister,
Und über alles hebt sich königlich
Der weite Dom, der Glaubenshort der Geister.


Da malt ein Raphael auf blasse Wanddie von Raffael gemalten Fresken (1509 bis 1517) in den Wohnräumen (Stanzen) von Papst Julius II. im Apostolischen Palast des Vatikans. In der Auflistung seines Besichtigungsprogramms im April 1846 notierte Friedrich Wilhelm Wedekind lediglich: „Besichtigung der Sammlungen des Vaticans“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].
Des Menschenherzens tiefste Regung,
Und Harmonie schließt jegliche Bewegung
Der Form in ein erquickend süßes Band.


Aus Marmor, ungestalt und stumpf
Hebt Michel Angelo des Gottes Stärke; |
So ward sein MosesbildnißMichelangelos monumentale Moses-Statue (1512 bis 1515) steht in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom auf dem Grab von Papst Julius II. In der Auflistung seines Besichtigungsprogramms im April 1846 nennt Friedrich Wilhelm Wedekind die Statue nicht. Frank Wedekind hatte kurz zuvor ein Bild der Statue erworben [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 25.1.1886]. zum Triumph
Der Phantasie, zur Krone seiner Werke.


Sind es der Blicke tiefe Feuerflammen? –
Sind es die Linien, die den Körper weben? –
Dein Aug’ sieht furchtsam und mit leisem Beben
Macht, Größe, Herrlichkeit so eng beisammen.


Das sind nicht Formen, die vom Menschen stammen;
Es ist des Höchsten allgewalt’ges Leben,
Das schaffend sich dem todten Stein ergeben,
Im Richten streng und furchtbar im Verdammen.


Und ewig waltet in Bestehn und Werden
Sein eisernes Gesetz mit Lohn und Strafen.
Weh solchen, die des Himmels Blitze trafen!


Sie sehn erwacht mit teuflischen Gebärden
Die Furien, die im stillsten Frevel schlafen,
Und athmen keinen Frieden mehr auf Erden. ––


Der schöne Frühling kam heran. Da ließ
Dein Wandertrieb dich länger nicht im Süden.
Der nächste Winter fand dich in ParisFriedrich Wilhelm Wedekind traf am 17.5.1846 in Paris ein [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].,
Noch immer von der Heimat weit geschieden. |
Und was in der Türkei, in Griechenland,
Und in Italien Interessantes Du gefunden,
Das wurde nun in fleißigen Mußestunden
Erforscht, ergründet und erkannt.
Da saßest du geschäftig in den Sälen
Der BibliotekSchreibversehen, statt: Bibliothek. in der Gelehrtenschaar,
Die Herrscher, die Jahrhunderte zu zählen,
Darunter einst das Silber geschlagenAnspielung auf die umfangreiche Münzsammlung, die Wedekinds Vater während seiner Reisen im Osmanischen Reich angelegt hatte (s. o.). war.


Doch auch die vielen Wunderdinge der Kunst,
Die in Paris in den Museen,
In Galerien und Palästen sind zu sehen,
Erwarben bald sich deine Gunst.
Wer kennt es nicht, das unvergleichliche Weibdie 1820 auf der Kykladeninsel Milos gefundene und im Pariser Louvre ausgestellte Skulptur der Venus von Milo aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.,
Das armberaubt auf Melos man gefunden!
Wer kennt nicht diesen marmorkalten Leib,
Dem dennoch sich das wärmste Leben verbunden!
Wer kennt Frau Venus nicht, die schon im Alterthum
So manches stolze Männerherz berückt,
Und die im Mittelalter noch die Blume
Der deutschen Ritterschaft beglückt! –
TannhäuserWedekind kannte den mittelalterlichen Stoff aus Richard Wagners Verarbeitung in der Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Große romantische Oper in drei Akten“ (Dresden 1845), deren Textbuch er gelesen hatte [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 20.1.1884]., der geprüfte Held, vertraute
Mir seine ganze Liebesgeschichte an
Und sang zum Saitenspiele seiner Laute
Ein LiedWedekind hatte für Blanche Zweifel ein Gedicht mit dem Titel „Frau Venus“ verfasst und mit „Tannhäuser“ unterzeichnet [vgl. KSA 1/I, S. 111 und S. 934-938]., das ihm die Holde einst abgewann;
Damals trug sie den Schleier um die Lenden,
In griechischem Knoten trug sie ihr reiches Haar,
Und wußte sich nicht d/z/u drehen, nicht zu wenden,
Daß sie nicht immer wieder noch schöner war: |


O Du liebes, schönes Frauenbild,
Cypriarömischer Alternativname der Venus. Ob sich Wedekind hier auf ein reales Bild bezieht, ist unklar, die geschilderte Szene ist ein häufig vorkommendes Bildmotiv., dem leichten Schaum entstiegen!
Tändelnd Dir um Brust und Wangen schwingen
Amoretten sich, gewaffnet, wild. –
Vor den Kleinen wahret dich kein Schild;
Ihre giftgetränkten Pfeile siegen,
Endlich muß der Stärkste unterliegen. ––


Doch fort vom süßen Minnespiele,
Von leichter Liebeständelei! –
Den Mann begeistern andre Ziele:
Das Volk steht aufAnfangsworte von Theodor Körners Gedicht: „Männer und Buben“: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los;“ [Theodor Körner, Leyer und Schwert. 2. Aufl. Berlin 1814, S. 78]; hier in Anspielung auf die 1848er Revolution., das Land wird frei.


So ist denn doch die Zeit gekommen,
Da sich der deutsche Geist erhebt,
Und da die alte Gluth entglommen,
Die längst in a/A/ller Adern lebt.


Nun redet offen, ihr Gewissen!
Nun wall empor Du starke Fluth! ––
Die engen Bande sind zerrissen,
In denen ihr so lang geruht.


In Wort und blutgen Kämpfen streben
Die Völker nach entbehrtem Glück.
Die Throne zittern und erbeben,
Die Söldner weichen scheu zurück. |


Die alte Größe will man wieder,
Die einst so stolz das Volk umwand;
Für freigeborne, deutsche Brüder
Ein ein’ges, freies Vaterland.


Nicht mehr in sechs und dreißig Staatendie Mitgliedstaaten des 1815 begründeten Deutschen Bundes. Die tatsächliche Anzahl der beteiligten Staaten und freien Städte schwankte bis zu seiner Auflösung 1866 zwischen 35 und 39.
Die leidige Zersplitterung,
Und sechs und dreißig Potentaten
Anbeten in Erniedrigung. –


Es will das Volk sich selbst regiren,
Und die, so es dazu ernannt,
Sie sollen die Gesetze führen
Mit klugen SinnSchreibversehen, statt: Mit klugem Sinn. und starker Hand.


Drum werden Männer ausgesendet,
Soweit die deutsche Sprache klingt,
Daß das Erlösungswerk, vollendet,
Den Völkern Glück und Friede bringt.


Am Main, dem stolzen deutschen Strome,
Da steht die alte KrönungsstadtFrankfurt am Main war seit 1562 der Ort der Kaiserkrönungen im Heiligen Römischen Reich..
Da traten in St. Paulus Dome
Zusammen sie zu Rath und That.


Da klingen würd’ger Männer Namen,
In allen Gauen hochverehrt.
Aus Süden wie aus Norden kamen
Sie zu der Freiheit Feuerherd. |


Auch duFriedrich Wilhelm Wedekind begleitete Ende Mai 1848 seinen Vetter Eduard Wedekind, „der als Abgeordneter an der ersten deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche teilnahm“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 98], nach Frankfurt, „wo er als Korrespondent verschiedener Zeitungen (Reichzeitung u. a.) an den Verhandlungen teilnahm“ [Kutscher 1, S. 5]. standst, Vater, in den Reihen,
Das Herz erfüllt von reiner Gluth
Dem heil’gen Kampfe dich zu weihen
Für Menschenrecht und höchstes Gut.


Und dieses Gut, das jedem theuer,
Das jedem in der Seele brennt,
Vertei/fo/chtest du mit heil’gem Feuer
Im ersten Deutschen Parlament.


Doch wenn verrauscht, des Kampfes Wogen,
So tönen Sang und BeckerklangSchreibversehen, statt: Becherklang.;
Da ist man wol hinausgezogen
Dem schönen, blauen Rhein entlang.


Von Ort zu Ort, von Stadt zu Städtchen
Fuhrt ihr in lustgem Zuge hin,
Da kamen Frauen, kamen Mädchen,
Voran die Bürgermeisterinnicht identifiziert.;


Sie haben ihre Freiheitsboten
Ins traute Städtchen eingeführt
Und ihnen Speis und Trank geboten.
Drauf ward gejubelt, banquettirt. –


Der Morgen führt die Freunde weiter,
Und über Beg/r/g und Thal umher
Lacht Sonn’ und Himmel freundlich heiter;
Allein das Herz ist trüb und schwer. |


„O könnt’ ich ewig bei Dir weilen,
Du blonde Maid am blauen Rhein!
So aber müssen diese Zeilen
Dir einzig Angedenken sein.


„Und was uns beide stolz belebet,
Die hohe Gluth fürs Vaterland,
Ihr bleibe treu, die dich umschwebet,
In der sich Herz zum Herzen fand.“ –


Ein letzter Blick. Da rollt der Wagen,
Es wehen Tücher hier und dort.
Im Morgenwind hinaus getragen,
Verhallt das letzte Abschiedswort. ––


Als glorreich manDiese und die beiden folgenden Strophen hat Wedekind später in überarbeiteter Form in sein Gedicht „Ein politisch Lied. Von Germanias Ehestand“ (1897) übernommen [vgl. KSA 1/I, S. 469-472]. das große Werk begonnen,
Da hoffeSchreibversehen, statt: hoffte. jeder auf ein glücklich End’. ––
Wie schaarten sich des Vaterlandes Sonnen
Zum Strahlenkranz im ersten Parlament!
Die Furcht entfloh, Muth und Betheurung blieben,
Nicht ferner mehr zu beugen das Genick. –
Wie herrlich schoß empor in jungen Trieben
Der starke Keim der deutschen Republik!


Doch als nunmehr vom Kampfe der Gedanken
Des stolzen Domes Wölbung wiederklang, |
Als Aller Herzensgluth in heil’gen Schranken
Nach des Gesetzes weiser Fassung rang,
Da fiel ergrimmter Feinde kaltes Wüthen,
Fiel nah und fern der Freunde Mißgeschick,
Wie Reif im Frühling, auf die ersten Blüthen
Am Lebensbaum der deutschen Republik. –


Und als ein volles Jahr dahingegangen,
Da sank die letzte Hoffnung in den Sand:
Das Volk erdrückt, verzagt in Angst und Bangen!
Und all’ die Besten aus dem Vaterland,
Sie legten trauernd im erwachten Lenze
Den welken Traum, mit thränenvollem Blick,
Und der Verbannung düstre Dornenkränze
Auf’s junge Grab der Deutschen Republik. ––


Nächtlich durch die stillen Fluthen
Zieht ein Dunkles Schiff daher.
Spiegelnd der Gestirne Gluthen
Sprüht und glüht das weite Meer.


Während Wind und Wellen schliefen,
Lehnt ein Mann sich über Bord; |
Mit dem Murmeln in den Tiefen
Tauscht er sinnend Wort um Wort.


„Geister, euer leises Künden
Trifft in Räthseln nur mein Ohr. –
Werde je ich wiederfinden,
Was ich, ach, so früh verlor?


„Finsterniß ließ ich im Rücken;
Und entflohn der düstern Zeit,
Dehnt sich neu vor meinen Blicken
Ungewisse Dunkelheit.“ –


Aus den Tiefen murmelnd rauschet
Auf und nieder süßer Klang;
Und der müde Pilger lauschet
Und vernimmt den Geistersang:


„Hast die Heimat auch verloren,
Zittre nicht, du starker Held!
Aus den Stürmen neugeboren,
Nimmt dich auf die neue Welt.


„Neue Freuden, neue Leiden
Bringt die künft’ge Zeit daher.
Und dereinst wird auch das Scheiden
Von der neuen Welt dir schwer.


„Doch Du siehst die Heimat wieder,
Und der herbe Schmerz entwich;
Und die alten Kampfesbrüder
Segnen und umarmen Dich.“ –– |


In leichtem Kahne geht die lust’ge Fahrt
Den Fluß hinauf durch Urwald„Nach dem Scheitern der 1848-Revolution wanderte Wilhelm Wedekind 1849 wie viele andere enttäuschte Republikaner nach Amerika aus. Er trat seine erste Amerikareise von Paris aus am 12.3.1849 an. Abfahrt von Southhampton am 17.3.1849 nach Aspinwall (Panama). An der Ostküste Panamas angelangt, durchquerte er, eine Eisenbahnlinie zum Pazifik war noch nicht gebaut, die Urwälder des Isthmus von Panama per Fluss- und Landreise, um nach längerem Aufenthalt in Panama-Stadt von dort aus per Schiff nach San Francisco weiterzureisen, wo er am 5.9.1849 ankam“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 98; vgl. Kieser 1990, S. 31, Bertschinger 2001, S. 91 f., Parker 2020, S. 25, Anm. 25]. viele Tage.
Zwei Neger, unbekleidet und krausbehaart,
Bewegen Das Ruderpaar in gleichem Schlage.
Auf beiden Ufern niedere Dörfer stehn,
Und Indianermädchen, schlank und schön,
Ruhn unten am Fluß, die bunten Gewänder zu waschen.
Allein sobald die Kähne sie überraschen,
Fliehn sie leichtfüßig hinauf mit ängstlichen Schritten
Und bergen sich in den traulichen Bambushütten. ––


Zu Land und wieder in Kähnen gelangtet ihr dann
Nach langer Fahrt an den stillen Ocean,
Worauf ein starkes Schiff in schnellem Flug
Dich durch das goldene Thordas „Golden Gate“, die Meerenge, zwischen der Bucht von San Francisco und dem Pazifik. in’s neuentdeckte,
In’s glückverheißende Californien trug,
Das manchem schon vergoldete Hoffnung weckte.


Dort in der neuen Heimat fing
Für dich ein neues Dasein an.
In Fleiß und steter Arbeit ging
Das Leben langsam seine Bahn.


Da ward gar manchen Trost und Heil,
In kluger Menschenfreundlichkeit,
Durch deine sich’re Kunst zu Theil,
Die gern zum Helfen stets bereit. |


Die Stadt vor frecher Mordbegier
Zu retten, schwangst du dich zu Pferd,
Hieltst Wachegemeint ist vermutlich das San Francisco Committee of Vigilance, eine 1851 und 1856 für jeweils drei Monate ins Leben gerufene Bürgermiliz zur Bekämpfung der wachsenden Kriminalität. Das Komitee war für mehrere Hinrichtungen und Deportationen verantwortlich. Eine Mitgliedschaft Friedrich Wilhelm Wedekinds „hat sich bisher nicht nachweisen lassen“ [Parker 2020, S. 32]. vor der Kerkerthür,
In starker Faust das blanke Schwert.

Am Abend wurden sie gebracht,
Die Geisterstunde sprach Gericht.
Und als der junge Tag erwacht,
Da hingen sie im Morgenlicht. –

Drauf wieder froh und ungetrübt,
Gemessen Jahr um Jahr verstrich.
Geehrt von Allen und geliebt,
Belasten stolze Würden Dich.

Am hohen Schillerfeste„Wilhelm Wedekind gehörte zu den Mitorganisatoren der Feier zum 100. Geburtstag Friedrich Schillers in San Francisco am 10. November 1859, zu der er einen ‚Californischen Festgesang zu Schiller’s Jubelfeier‘ beisteuerte“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 99; der Text ist abgedruckt ebd. S. 270-272]. sang
Die Muse dir ein rauschend Lied,
Das hell in tausend Stimmen klang
Und tausend Herzen wild durchglüht.

Es glüht das Herz, es schallt das Lied
Wol durch der Freunde traute Reih’n,
Und in des Dichters Seele zieht
Ein niegeahntes Sehnen ein.

Und mächtig, mächtig schwillt sein Herz,
Umsonst sucht es das Losungswort.
Das Aug’ blickt fragend himmelwärts
Und findet keine Tröstung dort.

Da flammt es auf in wilder Pracht,
Da plötzlich wird ihm sonnenklar,
Daß es der Liebe Zaubermacht,
Daß es der Liebe Leiden war.

So sank der Flor, da sprach der Mund;
Da war ein liebend Jadie Zustimmung von Wedekinds Mutter, seinen Vater zu heiraten. Friedrich Wilhelm Wedekind notierte am 13.5.1862 in seinem Kalifornischen Tagebuch: „Das Wort ist ausgesprochen. [...] Wir sind einig. [...] Wir werden uns niemals trennen, wir werden immer beisammen bleiben, um ganz Eines für das Andere zu leben.“ [Parker 2020, S. 211] Die Eheschließung fand am 28.3.1863 in Oakland statt. bereit,
Da ward ein fester Seelenbund
Geschlossen für die Ewigkeit. |

Und wurden später dir auch zu theil
Im Glück noch leidige Schmerzen,
So wünschen heute dir Freud und Heil
Sechs frohe Kinderherzen.

Und beten, daß sie noch manches Jahr
Dies schöne Fest erleben,
Und daß der Friede mög’ immerdar
Ob deinem Haupte schweben.

Und daß am Himmel, ob deinem Haupt
Des Glückes Sonne glänze;

Daß Dich, mit heiterem Grün belaubt,
Noch mancher Frühling kränze.

Uns aber laßt streben im Verein,
Getreu Ge und ohne Wanken,
Des edlen Vaters werth zu sein,
Dem wir die Welt verdanken.

Und laßt uns wallen durch die Welt
Am starken Wanderstabe
Der Freiheit, den er uns gesellt
Als höchste Gottesgabe.

Mit freiem, unbefangnem Sinn
Geweiht dem Großen, Hohen,
So gingst du durch die Jahre hin;
Die Dir vorüberflohen.

Vorüber flohen siebzig Jahr
In Freud’ und redlichem Ringen.
So laß dir, Vater, Du Jubilar,
Durch Deiner Kinder beglückte Schaar
Ein dreifaches Vivat! bringen! –– |


II. Mos. 20. 12. Hinweis auf das 2. Buch Moses im Alten Testament der Bibel: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt!“ Der Vermerk befindet sich am unteren Rand von S. 47.––

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 24 Blatt, davon 44 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 28 x 35 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Blätter sind gebunden, die Seiten in der rechten bzw. linken oberen Ecke von Wedekind ab S. 4 nummeriert (hier nicht wiedergegeben; Nummerierung fehlt auf S. 5, 7, 34, 44). Auf der Titelseite befindet sich eine Skizze von Schloss Lenzburg. Das Gedicht endet mit einem Ornamentschnörkel und einem daruntergesetzten Pentagramm. Auf Seite 45 ist ein Bild der Venus von Milo eingeklebt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 20.2.1886 ist als Ankerdatum gesetzt – das späteste mögliche Datum der Fertigstellung des Briefgedichts, das am Nachmittag des 21.2.1886 in Lenzburg eintraf [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 25.2.1886]. Als Schreibort darf der Wohnort Wedekinds gelten.

Das nach Lenzburg geschickte Briefgedicht dürfte an Armin Wedekind adressiert gewesen sein, der angekündigt hatte, es vortragen und überreichen zu wollen [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 12.2.1886].

  • Schreibort

    München
    20. Februar 1886 (Samstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Werke. Kritische Studienausgabe. Band 1/I. Gedichte. Lyrische Fragmente und Entwürfe

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Elke Austermühl
Verlag:
Darmstadt: Häusser.media Verlag
Jahrgang:
2007
Seitenangabe:
205-235
Kommentar:
Neuedition in leicht abweichender Transkription: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 130-162 (Nr. 62).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
B, Nr. 64
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 20.2.1886. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
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Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

13.09.2024 13:39
Kennung: 5462

München, 20. Februar 1886 (Samstag), Briefgedicht

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm
 
 

Inhalt

UNSERM LIEBEN VATER

DR.. F. W. WEDEKIND


zum siebzigsten Geburtstage
DEN 21. FEBR. 1886.


seine SöhneWie aus dem Briefwechsel mit seinen Brüdern Armin und William hervorgeht, war Frank Wedekind der alleinige Verfasser des Briefgedichts, an dem er seit Anfang Februar arbeitete [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 1.2.1886]. Am Geburtstag des Vaters trug Armin Wedekind das Gedicht auf Schloss Lenzburg vor [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 25.2.1886].:
A. Wedekind.
B. Franklin
William. L. |


Innig geliebter Vater!


Heut schlug ein Ehrentag, ein Tag der Freude,
Die dunkeln Wimpern auf zum Sonnenlicht;
Er steht geschmückt im festlichen Sonntagskleide,
Lieb’ und Verehrung im leuchtenden Angesicht.
Und wir begrüßen ihn mit herzlichem Frohlocken,
Von unsern Lippen tönt der Weihgesang;
Und tief im Städtchen unten die Kirchenglockender 21.2.1886 war ein Sonntag.
Begleiten uns mit mächtigem Feierklang.


Denn siebzig Mal erneute sich der Lauf
Des vollen Jahr’s mit seinen bunten Gaben,
Denn siebzig holde Lenze blühten auf,
Und siebzig Herbste hat der Schnee begraben,
Seit sich dein Aug’, o Vater, dem Licht erschloß,
Seit Du begonnen hast in edlem Streben.
Heut’ blickst als Sieger Du auf ein reiches Leben,
Das stürmisch wogend an Dir vorüber floß. |


Und aufrecht in der Würde Deiner Jahre,
Noch immer kraftvoll thätig ohne Rast,
Trägst Du den heil’gen Schmuck der weißen Haare
Und der DecennienJahrzehnte. hochgethürmte Last.
Und Deine Kinder blicken mit frommen Gebärden
Empor an ihres Vaters hehrem Bild;
In Thun und Wandel einst ihm gleich zu werden,
Das ist der Stolz, der ihre Brust erfüllt. ––


Früh zogst hinaus du in die Weite
Mit frischem Muth und freiem Sinn;
Und treulich gab dir das Geleite
Die Kunst, die edle Helferin.


Viel fremde Länder, fremde Sitten
Hast Du gesehn auf langer Fahrt.
Oft wandelte dein Fuß inmitten
Von Heidenzeit und Gegenwart.


Nun blickst du von erhab’ner Warte
Weit über Welt und Jahre hin,
Und über Deines Glücks Standarte
Siehst du die ewgen Sterne ziehn.


Verklärt erscheinet dir das Leben,
Das du ergriffen kühn und t jung;
Und längst entschwund’ne Bilder schweben
In traulicher ErinnerungWedekind dürfte die Vita des Vaters aus dessen Erzählungen gekannt haben und rekonstruierte sie hier für das Briefgedicht aus dem Gedächtnis, wie er später schrieb [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.2.1886].. |


Die naht sich nun auf leichten Schwingen
Mit zaubervollem Lautenklang
Und hebt begeistert an zu singen
Von deinem ganzen Lebensgang:


Viel freie Geister hatten schon gesprochen,
Als ein Jahrhundert in die Grube sank,
Als noch der Despotismus nicht gebrochen,
Der siech das Blut aus tausend Herzen trank.
Schwer lagen noch die Ketten auf dem Volke,
Groll und Entrüstung wälzten sich zu Hauf,
Am Horizont stieg die GewitterwolkeSinnbild der Französischen Revolution.,
Ein Blitz – und alles ging in Flammen auf.


Da scholl von Westen her durch alle Lande
Der Weckruf, der in jede Seele drang:
Zerbrich, o Menschheit, die verhaßten Bande!
Zertritt den alten morsch geword’nen Zwang!
Dies Flammenwort befeuerte Millionen
Verzweifelter zu wilder Kampfbegier,
Und auf den Trümmern von zerschellten Thronen
Hob sich der Freiheit leuchtendes PanierBanner, Fahne..


Umstrahlt vom Glanze seines hehren Lichts,
Ein Bringergemeint ist Napoleon Bonaparte, der die Ideen der Französischen Revolution in Europa verbreitete. längstvergeßner MenschenrechteDie Französische Nationalversammlung verabschiedete am 26.8.1789 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.,
So zog der Racheengel des Gerichts
Im Siegeslauf durch Schlachten und Gefechte. |
Und Jung und Alt, durchglüht von Dankbarkeit,
Folgt dem Erob’rer durch Europas Grenzen,
Das neue Schwert dem neuen Kampf geweiht,
Die Stirn’ des großen Völkerherrn zu kränzen. ––


Weh ihm, daß auf dem Gipfel seines Glückes
Der Siegestaumel seinen Geist berauscht,
Daß er das Amt als Rächer des Geschickes
Mit des Tyrannen Scepterstab vertauscht;
Daß er, vergessend seiner ed’len Sendung,
Erneute Fesseln um die Völker wand. ––
Er ward gestürzt vor seines Werks Vollendung,
Gebrochen, in die Einsamkeit gebanntNapoleon verbrachte vom 3.5.1814 bis zum 1.3.1815 im Exil auf der Insel Elba..


Noch einmalgemeint ist die Herrschaft der Hundert Tage (vom 1.3. bis 22.6.1815) nach Napoleons Rückkehr aus dem Exil bis zur Schlacht von Waterloo. zwar erhob der stolze AarAdler [vgl. DWB 1, Sp. 5].
Zum Siegesfluge die gestärkten Schwingen.
Noch einmal zog die kampfbewährte Schaar
Durch Meer und Land zu n/he/ißem Todesringen;
Bei WaterlooDorf 15 Kilometer südlich von Brüssel, bei dem am 18.6.1815 Napoleons Armee von den Briten und Preußen vernichtend geschlagen wurde., bei TolentinoIn der Nähe der italienischen Stadt Tolentino fand am 2. und 3.5.1815 die entscheidende Schlacht zwischen Österreich und dem napoleonischen Königreich Neapel statt, die von Österreich gewonnen wurde. klang
Das Schwanenlied der wilden Kriegstrompeten;
Und, heldenmüthig noch im Untergang,
Ward seine Weltmacht in den Staub getreten.


Auf einem Felsen weit im Oceandie Insel St. Helena im Südatlantik, auf die Napoleon verbannt wurde.,
Ringsum vom kalten Wellengrab umfriedet,
Ward der PrometeusIn der griechischen Mythologie wurde Prometheus zur Strafe dafür, dass er den Menschen das Feuer brachte, an den Kaukasus geschmiedet. auf der Feinde Plan
In feiger Furcht auf ewig festgeschmiedet.
Am Horizont manch weißes Segel blinkt
Und zieht gen Osten durch die blauen Fluthen; |
Doch keines naht, das ihm Erlösung bringt,
Und qualvoll muß das stolze Herz verbluten. ––


Neun MondeNapoleons Deportation begann am 15.7.1815, am 15.10.1815 traf er in St. Helena ein. Wedekinds Vater wurde gut vier Monate später, am 21.2.1816 geboren. waren noch nicht hingegangen,
Seitdem Napoleon, auf britt/s/chem Schiff gefangen,
Die nackten Felsen von St. Helena
Drohend empor aus dem Meere steigen sah,
Als Du, o Vater die schöne Welt begrüßt.
Froh wuchsest Du heran und kamst zu Jahren;
Die gold’nen Tage Deiner Kindheit waren
Durch sorgende Mutterliebe reich versüßt. ––


Kommt ein dunkler Mannnicht identifiziert. in’s Städtchen,
In den Ohren trägt er Ringe.
Neubegierig Knaben, Mädchen
Forschen, was er ihnen bringe.


Mit der regungslosen Würde
Schwerbelasteter Naturen
Trägt er auf dem Haupt die Bürde
Vieler blanker Gypsfiguren.


Da war Schiller, da war Göthe,
Waren Byrons edle z/Z/üge;
Seine Halscravatte wehte
Gleich als ob die Luft sie trüge.


Da war BlücherGebhard Leberecht Fürst Blücher von Wahlstatt war ein preußischer Generalfeldmarschall, der durch den Sieg über Napoleon in der Schlacht bei Waterloo berühmt wurde., war auch ZiethenHans Ernst Karl von Zieten war ein preußischer Generalfeldmarschall, der in der Schlacht bei Waterloo dem Herzog von Wellington zu Hilfe kam.;
Alle schauten unterthänig |
Auf den CzaarZar Alexander I., von 1801 bis 1825 Kaiser von Russland. der MoscowitenEinwohner Moskaus, hier stellvertretend für Russen.,
Auf den stolzen PreußenkönigFriedrich Wilhelm III., von 1797 bis 1840 König von Preußen..

„Kaufet, kaufet Gypsfiguren!“
Ruft der dunkle Träger heiser.
„Kauft die herrlichsten Sculpturen,
„Kaufet Könige und Kaiser!“


Mitten auf dem Traggerüste,
Ach, auf einem schwachen Thron,
Steht die lebensgroße Büste
Von dem Held Napoleon;


Stand die lebensgroße Büste
Von Napoleon, der eben,
Fern der heimatlichen Küste,
Sterbend sich dem Tod ergebenNapoleon starb am 5.5.1821 auf St. Helena.;


Stand des großen Kaisers Büste
Der noch jüngst Europa schreckte
Und vom BeltMeerenge in Dänemark zwischen Jütland und Fünen, die zugleich die Seegrenze des Herzogtums Schleswig markierte. bis in die Wüste
Lybiens seine Macht erstreckte.


„Kaufet, kaufet Gypsfiguren!“
Rief der dunkle Träger heiser.
„Kauft die herrlichsten Sculpturen!
„Kaufet Kön’ge, kauft den Kaiser!“


„Ha der Kaiser, der Dictator!“
Ruft nun einer von den Knaben. |
„Laßt den todten Imperator,
Laßt ihn würdig uns begraben!


„Auf St. Helena, dem Felsen,
Wo die Britten ihn bewachten;
Wird er sich im Grabe wälzen
Und umsonst nach Ruhe schmachten.


„Lasset uns den großen Todten,
Der so schwer gebüßt die Sünden,
Laßt ihn uns in würd’gem Boden
Ehrenvolle Ruhe finden. –


„Hier sind dreißig Silberlingeder Lohn, den Judas im Neuen Testament der Bibel für den Verrat Jesu erhielt [vgl. Matthäus 26,15].,
Den Verrathnen zu erlösen.
Was man auch für Gründe bringe,
Er ist doch ein Held gewesen.


„Er ein Held, emporgetragen
Durch der Götter Huld und Gunst
Leitete den Sonnenwagen
In entflammter Kriegesbrunst.


„Jäh vom wilden Sonnenwagen
Stürzt’ der stolze Phaeton.
So, von eig’ner Wucht erschlagen,
Stürzt’ und fiel Napoleon. –“


Und der Träger nimmt vom Scheitel
Drauf den weißen Held herunter;
Streicht die Groschen in den Beutel.
Weiterwandernd ruft er munter: |


„Gypsfiguren, Gypsfiguren!
Kaufet Feldherrn, kaufet Dichter!
Nach den herrlichsten Sculpturen
Sind gebildet die Gesichter!“


Aber tief im stillen Garten,
Wo des Lenzes erste Gaben
Sich in lausch’gem Frieden schaarten,
Ward indeß ein Grab gegraben.


Fest mit Steinen ausgemauert,
Wurden Seiten, ward der Boden,
Und die junge Schaar betrauert
Emsig ihren großen Todten.


Frische Blumen, Rosen, Flieder
Himmelsschlüssel, Veilchen senken
In das kalte Grab sich nieder,
Es mit süßem Duft zu tränken.


Und die Knaben Paar um Paare
Bilden eine Procession;
Eine schwarzbehengte BaareSchreibversehen, statt: schwarzbehängte Bahre.
Trägt den Held Napoleon.


Seine stolze Stirne krönte
Jetzt ein LorberSchreibversehen, statt: Lorbeer. frisch und grün;
Seines Ruhmes Preis ertönte
Dumpf in Trauermelodien. |


Und wie nun am stillen Orte
Alle um die Baare traten,
Priesen eines Knaben Worte
Des Gekrönten Heldenthaten.


Seine Züge, seine Kriege,
Die den Menschen Freiheit brachten,
Seine heißerkämpften Siege
In den wilden Völkerschlachten.


Als dann senkten sie ihn nieder
In die blumenreiche Gruft,
Und die leisen Klagelieder
Wehten durch die Abendluft.


Eine schwere Steinplatt deckte
Die geweihte Kammer zu,
Daß kein Feind den Todten weckte
Aus der langersehnten Ruh.


Und den Stein deckt frische Erde,
Deckt des alten Rasens Flor;
Und die Sonne sprach: „Es werde!“
Blumen sproßten draus hervor.


Als der Sommer hingegangen,
Welkten auch die Blumen ab;
Als die Lerchen wieder sangen,
Schmückten sie erneut das Grab. |


So vergingen viele Jahre.
O wie längst zogst du vorbei,
Engelskind im Lockenhaare,
Goldne Jugendschwärmerei!


Deine Sonnen, Deine Wonnen,
Alles, alles floh dahin.
Nur Dein Bild ist nicht zerronnen,
Traumhaft lebt es noch im Sinn.


Sein gedenken meine Thränen,
Und mein Aug’ blickt heimatwärts,
Und ein heißes, heißes Sehnen
Füllt das kampfbewährte Herz. ––


Und Zeiten kommen, Zeiten fliehn
An dir vorbei mit leichtem Schritt,
Und drüber her die Wolken ziehn
Und bringen Glück und Unheil mit.
Ein harter Winter geht zu Rande,
Der Frühling sprengt des Eises Bande.


Und überall, auf Berg und Flur,
Im Hain und auf dem Wiesenplan
Erwacht die schlummernde Natur,
Mit Brautgewändern angethan
Vom warmen Sonnenstrahl getroffen
Lebt auf das Herz in neuem Hoffen. |


Da regt sichAnspielung auf die schwere Sturmflut an der gesamten Nordseeküste am 3. und 4.2.1825 mit rund 800 Todesopfern, von der auch der Wohnort von Wedekinds Vater, das ostfriesische Esens, betroffen war. weit im wilden Meer
Des Unglücks schadenfrohe Hand.
Sie wälzt gethürmte Wogen her
Und wirft sie höhnend an den Strand. ––
Weh, wenn die Küsten, trotz den Dämmen,
Die wachsende Gewalt nicht hemmen.


Und Angst ergreift ein jedes Herz,
Es schwillt die Angst, es schwillt die Fluth;
Sie bäumt sich heulend himmelwärts.
Umsonst, umsonst ist ihre Wuth:
Land auf, Land ab, an allen Orten
Tobt sie vor festverschloß’nen Pforten. ––


Doch schwächlich Menschenhandwerk! – Wer
Könnt hinter Dir geborgen sein!
Der Damm zerreißt, da stürzt das Meer
Verschlingend übers Land herein;
Und über Noth und Jammer nieder
Senkt sich der tiefsten Nacht Gefieder.


Es saust und brauset nah und fern;
Des Mondes Scheibe leuchtet nicht,
Am ganzen Himmel blinkt kein Stern,
In Haus und Hütte brennt kein Licht.
Und furchtbar hört der Mensch mit Zagen
Die Fluth an Thür und Fenster schlagen.


Da stürzt das Thor mit Schlag und Krach,
Im Hause wogt ein wildes Meer; |
Die Menschen flüchten sich aufs Dach,
Die Wasser steigen hinter her;
Und dumpf verschlingt ihr lautes Tosen
Das Wehgeschrei der Rettungslosen.


Kein Land, soweit das Auge dringt;
Kein Licht in grauser Dunkelheit;
Kein Nachen, der Erlösung bringt,
So laut die Stimm’ um Hülfe schreit. –
Schon gierig leckend auf und nieder
Umspült die Fluth die starren Glieder.


Da wurde wol zum schönsten Fest
Dem Sensenmann das Wellengrab.
Der Sturmwind die Posaune bläßt
Und peitscht die Zagenden hinab.
Und Noth und Tod und Sterbgewimmer,
Sie dauern bis zum Morgenschimmer. –


Und als der Morgen brach heran,
Stellt sich das ganze Elend dar.
Da zog man aus mit Schiff und Kahn,
Zu retten was noch übrig war.
Auch du, o Vater, noch ein KnabeFriedrich Wilhelm Wedekind war zu Zeitpunkt der Sturmflut noch keine neun Jahre alt. ,
Standst schaudernd an dem Wellengrabe.


Das Wasser sank. Der heiße Lauf
Des Sommers brachte neue Noth;
Denn aus dem feuchten Boden auf
Stieg gifterSchreibversehen, statt: gift’ger. Dunst und Fiebertod. |
Die Zeiten kommen und enteilen;
So laßt uns hier nicht länger weilen! ––


Herangereift an Leib und Geist
In heimischen Gefilden,
Bist, Vater, Du dann abgereist,
Dich weiter auszubilden.


Ein Tag und eine Nacht ging um,
Da warst du schon zur Stelle.
Ein treffliches GymnasiumFriedrich Wilhelm Wedekind besuchte von 1830 bis 1835 das Gymnasium in Celle.
Zog damals dich nach Celle.


Da wurde mensa(lat.) Tisch. declinirt
Und ihm kein Fleiß verweigert.
Amare(lat.) lieben. wurde conjugirt
Und bonus(lat.) gut. ward gesteigert.


Die Lehrer sprachen: „Optime!(lat.) bestens, großartig.
Es ist dir gut gelungen.“
Verdeutschtest du die Lalage„Geliebte des Horaz“ [Meyers Konversations-Lexikon, 4. Aufl. Bd. 10, Leipzig, Wien 1890, S. 417], die mehrfach in seinen Oden (Carmina) vorkommt, so zum Beispiel in der 22. Ode des 1. Buches.
Die einst Horaz besungen.


Doch auch der wackre Cizero,
Mit seinen schönen Sätzen,
Er konnte Dich fast ebenso
Begeistern und ergötzen. |


Man las den Kampf um IliumDa Wedekind hier den Schulstoff im Lateinunterricht seines Vaters abhandelt, dürfte nicht Homers „Ilias“, sondern die „Ephemeris belli Troiani“ gemeint sein, eine lateinischer Roman über den Trojanischen Krieg, der im 4. Jahrhundert unter dem Pseudonym Dictyis Cretensis erschienen war.
Von Paris bis Eumäusstellvertretend für Anfang und Ende des Trojanischen Krieges. Paris, der Sohn Hekabes und des trojanischen Königs Priamos löste mit der Entführung Helenas den Trojanischen Krieg aus. Der Schweinhirte Eumaios war der erste, den Odysseus nach seinen Irrfahrten nach dem Krieg auf Ithaka aufsuchte.,
Zuvor das Evangelium
Des heiligen Mathäus.


Nun kam das Griechisch an die Reih,
Das war schon etwas schwerer.
Von παις(griech.) Kind, Sklave, Diener. und δοςακιζομαιunklar; vermutlich Schreibversehen, statt: θωρακίζομαι = (griech.) ich panzere mich. Wilhelm Papes „Griechisch-Deutsches Handwörterbuch“ (Braunschweig 1849) gibt für das Wort eine Belegstelle in Xenophons „Cyropaedie“ an [vgl. Bd. 1, S. 838], ein Text der zur Schullektüre zählte [vgl. Moritz Dürr an Wedekind, 31.12.1880].
Erzählten da die Lehrer.


Und was auf Erden war geschehn,
Ward von den ersten Sagen
Bis zu der Völker Untergehn
Getreulich vorgetragen.


Allein auch die Realiahier die naturwissenschaftlichen Schulfächer.,
Sie fanden guten Boden:
Der strengen Mathematika
Exempel und Methoden.


So mußte man ohn’ Unterlaß
Gar viele Stunden widmen
Dem Lehrsatz des Pytagorasmathematischer Grundsatz der euklydischen Geometrie, der die Seitenlängenverhältnisse in rechtwinkligen Dreiecken beschreibt (a2 + b2 = c2).
Und Vega’s Logarithmendie von dem Krainer Mathematiker Georg von Vega herausgegebenen Logarithmentafeln: „Logarithmische, trigonometrische, und andere zum Gebrauche der Mathematik eingerichtete Tafeln und Formeln“ (Wien 1783).. ––


Die Luft indeß war schwer und schwül,
Schon regt es sich im OstenAnspielung auf den polnischen Novemberaufstand von 1830/31, der die Unabhängigkeit vom zaristischen Russland zum Ziel hatte.
Wie Rebellion und Kampfgewühl
Und ferne Donner tosten. |


Die Luft war schwül, die Luft war schwer;
Es zitterte fern im WestenAnspielung auf die französische Julirevolution 1830.
Ein junger Thron von Ungefähr
In seinen tiefsten Vesten.


Und ach, im großen deutschen Reich,
Von Trug und Haß umlagert,
Wie war die Freiheit blaß und bleich
Und gänzlich abgemagert.


Die heiße Julisonne läßt
Die Gluth zum höchsten steigen;
Da lodert’s auf in Ost und West
In wildem Todesreigen.


Es lodert auf und kracht und fällt
Ein stolzer ThronMit der Julirevolution endetet die Herrschaft der Bourbonen in Frankreich. zusammen.
Drauf steht die ganze weite Welt
In lichterlohen Flammen.


Werft ab, werft ab das alte Joch,
Das euch so lang gekettet!
So habt ein Vaterland ihr noch
Und Polen ist gerettet.


Da gab es heißen Todeskampf;
Es schmettern die Trompeten
Durch Mordgewühl und Pulverdampf
Und frommer Streiter Beten. –


Triumph, Triumph! Das Land ist freiAm 25.1.1831 wurde in Polen der russische Zar Nikolaus I. für abgesetzt erklärt, im Herbst jedoch unterlagen die Aufständischen den russischen Truppen.,
Brennt auch die Todeswunde. |
Laut stimmten in das Siegsgeschrei
Die Völker in der Runde.


Und freudig opfertAnspielung auf die in Deutschland verbreiteten Unterstützungsvereine für den polnischen Freiheitskampf und die geflüchteten Aufständischen. Alt und Jung
Zur Linderung der Schmerzen.
Da zog auch die Begeisterung
In eure junge Herzen.


Und wenn der Tag vollendet war,
Der Abend sank hernieder, –
Durch’s Städtchen tönten hell und klar
Die stolzen PolenliederNeben den Liedern, die die geflüchteten polnischen Aufständischen Ende 1831 mit nach Deutschland brachten, dichtete auch eine Vielzahl deutschsprachiger Autoren Polenlieder, darunter Adelbert von Chamisso, Emanuel Geibel, Franz Grillparzer, Anastasius Grün, Friedrich Hebbel, Georg Herwegh, Karl von Holtei, Justinus Kerner, Nikolaus Lenau, Ernst Ortlepp, August von Platen, Gustav Schwab, Karl Simrock, Ludwig Uhland oder Karl Heinrich Wilhelm Wackernagel..


Da ward wol in der jungen Brust
Erweckt ein süßes Ahnen:
Wann werden wir mit Lieb und Lust
Erheben unsre Fahnen?


Geduld, Geduld! Es bringt die Zeit
Uns Kraft und Männerstärke.
Dann bin auch ich zum Kampf bereit
Und zum Erlösungswerke. ––


O, armes Polen! Fürchterlich
Naht dir DieSchreibversehen, statt: Naht Dir die. Todesstunde.
Der Feind fällt würgend über dich
Und blutend klafft die Wunde.
Dein letzter Lebenssaft entquillt;
Zerbrochen ward Dein Wappenschild,
Um noch im Sterbestöhnen
Dein brechend Aug’ zu höhnen. –– |


Nun ging’s zur UniversitätWedekinds Vater studierte von 1835 bis 1839 in Göttingen und Würzburg Medizin.
Mit frischem Muth und leichtem Sinn,
Und hoch an deinem Himmel steht
Der lichte Stern der Medicin;
Ihr willst du dich ergeben
Mit Fleiß und ernstem Streben;
Sie soll dich über Stürme hin
Und Menschenschicksal heben.


Des Menschenleibes Schwächlichkeit,
Das ewig alte Weh und Ach,
Verletzung und Gebrechlichkeit,
Dem allem forscht das Auge nach.
Docirt auch vom Katheder
Dasselbe nicht ein Jeder,
So sucht man eben selbst die Sach
Mit Messer und mit Feder.


Da sproßt denn auch die Fröhlichkeit
Zur allerhöchsten Blüthe.
Das Herz ist kühn, die Brust ist weit,
Das stolze Auge glühte.
Weh jedem, der den BurschenFriedrich Wilhelm Wedekind war in Göttingen in der Studentenverbindung „Corps der Ostfriesen aktiv und holte sich auf der Mensur die nötigen Schmisse“ [Kutscher 1, S. 3]. Zwei Tage nach seiner Ankunft in Göttingen notierte er am 29.8.1835: „Aufnahme als Fuchs in das Corps der Ostfriesen.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] reizt!
Ihm wird gehörig eingeheitzt;
Auf seiner Wange schmerzen
Die Quarten und die TerzenHiebe beim Säbelfechten..


Auf Brüder! Auf! die Ehre ruft.
Vertheidigt eure Farben!
Die Schläger sausen durch die Luft
Wol auf die alten Narben. |
Und als vorüber die Mensur,
Schallt Gaudeamus igitur!(lat.) Lasst uns also fröhlich sein! Anfang eines weit verbreiteten lateinischen Studentenliedes.
Es klingen die Pokale
Im lichterhellten Saale. ––


Mit s/S/iebenmeilenstiefeln trabt
Die gold’ne Zeit hinunter.
Ihr Lieben, nun ade! Begrabt
Den ganzen schönen Plunder
Nur diese Mütze, dieses Band,
Das einst so stolz die Brust umwand,
Sie will ich treu bewahren
In Freuden und Gefahren.


Am Horizont, sieh da, sieh da!
Schon steigen auf und walten
Der nahenden Examina
Gespenstische Gestalten.
Da zogst du aus voll Muth und Kraft,
Gepanzert durch die Wissenschaft,
Mit chapeau claque(frz.) Klappzylinder. und Degen
Dem Teufelsspukgemeint ist die Abschlussprüfung; am 22.3.1839 notierte Friedrich Wilhelm Wedekind: „Mein mündliches Doctorexamen gemacht.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] entgegen.


Vertrauend auf des Wissens Hort
Trittst frank du in die Schranken
Und fochtest kühn mit klugem Wort
Für Thesen und Gedanken.
Und als zu End’ des Kampfes Wuth,
Da krönte Dich ein DoctorhutFriedrich Wilhelm Wedekind wurde am 10.8.1839 mit der Dissertation „Die Schnellgeburt“ an der Universität Würzburg zum Doktor der Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe promoviert [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].,
Da führten seine Sterne
Den Sieger in die Ferne. –– |


Die Kaiserstadt, das lust’ge Wien
Mit seinem schönen Prater,
Es ward, eh’ zwei JahrzehnteIrrtum Wedekinds, gemeint sind die neun Jahre zwischen 1839 und 1848 (s. u.). fliehn,
Des Aufstands FeuerkraterAm 13.3.1848 kam es in Wien zu Demonstrationen und Tumulten, die zur Abdankung des Staatskanzlers Clemens Fürst von Metternich führten, wenige Tage später kam es auch in Berlin zu revolutionären Unruhen. Die Metapher eines Vulkanausbruchs für die Revolution war ein verbreiteter Topos..


JetztFriedrich Wilhelm Wedekind traf am 27.8.1839 in Wien ein [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301], „wo er vom September 39 bis April 40 Kliniken besuchte, italienischen Unterricht nahm und eifrig ins Theater ging.“ [Kutscher 1, S. 3] aber nahm es liebevoll
Dich auf in seinen Mauern;
Sein lebensfrohes Herze schwoll
Noch nicht von Todesschauern.


Und ungestört in Deiner Ruh’,
Zumeist in den Spitälern,
Erforschtest und studirtest du
Den Mensch mit seinen Fehlern.


Dann zog’s Dich weiter nach ByzanzAm 21.7.1843 startete Friedrich Wilhelm Wedekind in Triest per Segelschiff nach Konstantinopel, wo er am 3.9.1843 eintraf [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].
Entlang dem Donaustrome;
Bald strahlte Dir der Kuppelglanz
Von St. Sophiens Domedie im 6. Jahrhundert erbaute Kuppelkirche Hagia Sophia, die seit 1453 als Moschee genutzt wurde..


Seit einstDie Truppen von Sultan Mehmed II. eroberten am 29.5.1453 Konstantinopel. dem Volk des Muhamet
Die schöne Stadt verfallen,
Spricht nun der Türke sein Gebet
Durch die geweihten Hallen.


Constantinopel, wie bewegt
Sahst du die Zeiten schwinden!
Wer hat den Grundstein Dir gelegt?
Wer will die Namen künden? –
Den Jammer und den Klageton,
Der einst erscholl in Ilion,
Wie oft hat ihn beklommen
Seither Dein Ohr vernommen! |


Du wohntest, Vater, im Quartier
Der vielverhaßten Franken„Zwischen Top-Hane, Galata und Kassim-Pascha, über diesen Vorstädten auf der Höhe des Hügels liegt Pera, das eigentliche Franken- und Fremdenquartier.“ [Brockhaus’ Konversations-Lexikon. 14. Aufl. Bd. 10. Berlin, Wien 1894, S. 587] Dass er dort Quartier nahm, schrieb Friedrich Wilhelm Wedekind auch seiner Mutter [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Friederike Dorothee Wedekind. Diarbekir, 20.5. bis 7.6.1844; AfM Zürich, PN 169.1: 266]..
Da trat einmal ein MannIn Konstantinopel lernte Wedekinds Vater, wie er in einem Brief an seine Mutter berichtete, am 4.8.1843 den „Bergverwalter Braun aus Brixlegg in Tyrol“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Friederike Dorothee Wedekind. Diarbekir, 20.5. bis 7.6.1844; AfM Zürich, PN 169.1: 266] kennen, der sich dort aufhielt, um für den Sultan „die türkischen Bergwerke zu inspiciren und einen Bericht darüber abzustatten, in welcher Weise zweckdienliche Veränderungen mit denselben vorgenommen werden könnten“ und aktuell die Aufgabe hatte, „in Kiebar- und Argana-Maden, jenes am Euphrat, dieses am Tigris, dort eine Silberhütte, hier eine Kupferhütte nach europäischer Weise zu erbauen“. Er soll Friedrich Wilhelm Wedekind den „Vorschlag, mit ihm nach Kiebar-Maden zu reisen um dort die Stelle eines Bergwerks-Arztes zu übernehmen“, gemacht haben. Im Tagebuch notierte er am 11.8.1843 hingegen: „Bergrath Pauliny macht mir den Vorschlag, als Arzt eine Expedition ins Innere Kleinasien mitzumachen.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] zu dir,
Versunken in Gedanken.
Der sprach: „Die Jugendzeit ist schön.
Verlangen Sie die Welt zu sehn,
So können ohne Weilen
Sie unsre Reise theilen.


„Es führet nämlich uns der Plan
Der/s/ z/Z/uges tief in’s Inn’re,
Durch Turkistan, Beludschistan,
So viel ich mich erinn’re.
Der SultanSeit dem 1.7.1839 war Abdülmecid I. Sultan des Osmanischen Reichs und führte die von seinem Vater Mahmud II. begonnen Bemühungen zur Verbesserung der türkischen Bergwerke fort. zahlt die ganze Reis’
Und bietet jedem MonatweisSchreibversehen, statt: monatweis.
Vierhundert StaatspiasterSeiner Mutter schrieb Friedrich Wilhelm Wedekind: „Die von der türkischen Regierung bewilligten Bedingungen seien ein monatlicher Gehalt von 600 P. (40 rh. Pr.) freier Wohnung, Feuerung und Licht, und freier Hin- und Rückreise.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Friederike Dorothee Wedekind. Diarbekir, 20.5. bis 7.6.1844; AfM Zürich, PN 169.1: 266],
PilavReisgericht. und Pfeifenknaster.“ –


Du sprachst: „Wolan, mein Genius
Ermahnt mich, einzuschlagen;
Und Ihrem Freund, dem Sultanus,
Dem mögen Sie das sagen!“. ––
Den Pact schrieb man mit einem RohrSchreibrohr oder Rohrfeder; im Nahen Osten verbreitetes Schreibgerät.
Und legt’ ihn dem Beherrscher vor;
Der stieg zur Toilette
Soeben aus dem Bette.


In Schlafrock und Pantoffeln fand
Der Sultan es nicht übel
Und langte mit der ganzen Hand
In einen Tintenkübel, |
Drückt sie dann aufs Papier recht breit,
Nun wurde Goldsand drauf gestreut.
Die Hand wusch ihm dann eine
Der Dienerinnen reine. ––


Hin durchs Gebirg, durch Flur und Hain,
Von Ort zu OrtWedekinds Vater reiste von Konstantinopel über Samsun, Tokat und Sivas nach Kjebar Maden in Anatolien, wo er am 18.10.1843 eintraf und bis zum 1.5.1844 blieb. Anschließend reiste er in zwei Tagen über „die westliche Tigrisquelle nach Argana Maden“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] und hielt sich dann ab dem 9.5.1844 in Diyarbakir auf. Am 10.6.1844 reiste er von dort zurück über Argana Maden nach Torkat, wo er bis zum 9.8.1844 blieb, ab dem 22.8.1844 war er wieder in Konstantinopel. und einsam durch die Wüsten,
Vom Morgengraun im hellsten Sonnenschein
Bis AbensSchreibversehen, statt: Abends. mild die lieben Sterne grüßten,
Zog eine Carawane durch das Land;
Und wo sich irgend wo ein Bergwerk fand,
Da ward besichtigt, inspiciert,
Ob alles auch im Sinn des Sultans gehe,
Bis daß das Ziel die Carawane weiter führt,
Daß sie wo anders nach demselben sähe.


Den ganzen Tag, von Morgen bis zur Nacht,
Ward fortgeritten und kein Halt gemacht.
Doch wenn der milde Abend kam heran,
Da schickt man einen Dragoman(arab.) Dolmetscher.
In’s nächste Städtchen stracks zum Bürgermeister;
Der fragt: „Des Ortes reichster Herr, wie heißt er?
Er muß sofort mit Weib und Kind,
Mit seinem ganzen IngesindDienerschaft, Dienstboten.
Sein Haus verlassen. Nur er selbst bleibt drin,
Um gastlich zu bewirthen unsre Leute,
Bis daß wir aus dem Städtchen ziehn
Durch Wald und Steppen in die Weite. –
Von Widerrede nichts! Er muß sich fügen.
Der Sultan will’s. Das soll dem Herrn genügen!“


So ging’s zwei JahreFriedrich Wilhelm Wedekind war am 29.9.1843 mit dem Schiff zu der „Bergwerks-Expedition“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] aufgebrochen und kehrte am 22.8.1844 nach Konstantinopel zurück. Dort brach er am 30.9.1845 Richtung Griechenland und Sizilien auf. und noch mehr |
Durch ganz Kleinasien hin und her,
Wo Cyrus einstWedekind referiert mit seiner Namensreihung gängigen Schulstoff über die antiken Herrscher und Eroberer in Kleinasien zwischen dem 7. und 4. Jahrhundert v. Chr., vom athenischen Gesetzgeber Solon, der größere Reisen durch Ägypten und Kleinasien unternommen hatte und dem lydischen König Krösus bis zu den Perserkönigen Kyros und Dareius, der von Alexander dem Großen 333 v. Chr. bei Issos besiegt wurde., wo Alexander stritt,
Wo Krösus häufte seine Schätze,
Solon studirte die Gesetze,
Und wo Dareios Codomannos litt.
Manch’ schöner Stein und manche MünzeFriedrich Wilhelm Wedekind „legte eine bedeutende Sammlung von Münzen und Waffen“ [Kutscher I, S. 4] auf seiner Reise durch Anatolien an. zeugen
Von der dahingeschwund’nen Heidenzeit;
Und aus dem Schutt gefallner Tempel steigen
Die Schattengeister alter Herrlichkeit.


Durch SyrienDass Wedekinds Vater die genannten Stationen, namentlich die Landschaft des antiken Babyloniens (heute: Irak), besucht hat, ist unwahrscheinlich. Im Brief an seine Mutter schrieb er am 7.6.1844, er wisse nicht, „ob wir noch weiter nach Mossul, zu den Ruinen von Ninive gehen“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Friederike Dorothee Wedekind. Diarbekir, 20.5. bis 7.6.1844; AfM Zürich, PN 169.1: 266]. Drei Tage später verließ er Diyarbakir Richtung Norden, wäre demnach über Anatolien nicht hinausgekommen. ging’s in’s stromumfloßne Land,
Wo ehedem das stolze Babel stand,
Und wo man, um den Himmel zu erstürmen,
Ohn’ Unterlaß durch manches Jahr
Ließ Steine sich auf SteineAnspielung auf die Erzählung des Turmbaus zu Babel im Alten Testament der Bibel [vgl. Genesis 11,1–9]. thürmen,
Bis man den Wolken nahe war.
Weh, da verwirrten sich die Sprachen,
Daß keiner mehr des andern Wort verstand;
Umsonst, daß sie die Köpfe sich zerbrachen;
Der Geist war stumm, unthätig blieb die Hand. ––
So ist es allen noch ergangen,
Sei’s Philosoph, Titanin der griechischen Mythologie Riesen in Menschengestalt., AëronautLuftschiffer.,
Die ihrer eignen Kraft zu viel vertraut
Und sich des Himmelstürmens unterfangen:
Die große Sphinx will nicht enträthselt sein. ––


Der Euphrat und der Tigris schließen
Das schöne Land von beiden Seiten ein,
Und ihre majestät’schen Wogen fließen
In stolzer, ewig gleicher Ruh
Dem fernen Golf an Persiens Küsten zu. |
Einst hörten sie, in längstvergangnen Tagen
Den tiefen Jammer und die KlagenAnspielung auf das in Psalm 137 des Alten Testaments der Bibel thematisierte babylonische Exil der Juden: „An den Strömen von Babel, da saßen wir und wir weinten, wenn wir Zions gedachten. An die Weiden in seiner Mitte hängten wir unsere Leiern. Denn dort verlangten, die uns gefangen hielten, Lieder von uns, unsere Peiniger forderten Jubel: Singt für uns eines der Lieder Zions!“ [Psalm 137,1-3]
Gefang’ner Kinder Israel.
Sie sangen trauernd ihre Leiden,
Die Harfen hängend an die Trauerweiden,
Bis daß der Herr durch DanielAnspielung auf Kapitel 9 des Buchs Daniel im Alten Testament der Bibel: „Während ich noch redete und betete, meine Sünden und die Sünden meines Volkes Israel bekannte und meine Bitte für den heiligen Berg meines Gottes vor den HERRN, meinen Gott, brachte, während ich also noch mein Gebet sprach, da kam im Flug der Mann Gabriel, den ich früher in der Vision gesehen hatte; er kam um die Zeit des Abendopfers zu mir, redete mit mir und sagte: Daniel, ich bin ausgezogen, um dir klare Einsicht zu geben. Schon zu Beginn deines Gebetes erging ein Gotteswort und ich bin gekommen, um es dir zu verkünden; denn du bist geliebt. Achte also auf das Wort und begreife die Vision! Siebzig Wochen sind für dein Volk und für deine heilige Stadt bestimmt, bis der Frevel beendet ist, bis die Sünde versiegelt und für die Schuld Versöhnung erwirkt ist, bis ewige Gerechtigkeit gebracht wird, bis Visionen und Weissagungen besiegelt werden und das Allerheiligste gesalbt wird.“ [Daniel 9,20-24],
Nachdem gebüßt die aufgehäuften Sünden,
Die Stunde der Erlösung ließ verkünden. ––


Auch, Vater, du, zogst aus dem schönen Land,
Wo CyrusDie Truppen des Perserkönigs Kyros II. eroberten am 6.10.539 v. Chr. Babylon und besiegten damit den babylonischen König Nabonid, den Vater des Kronprinzen Belsazars. den Belsazar überwunden,
Wo Alexander einst sein CapuaDas antike Capua galt als „die üppige Hauptstadt Kampaniens, die an Größe und Pracht mit Karthago und Rom wetteiferte“ [Meyers Konversations-Lexikon. 3. Aufl. Bd. 4. Leipzig 1875, S. 150]; es diente Wedekind hier als Vergleichsgröße für das reiche Babylon, das Alexander der Große 331 v. Chr. mit dem Sieg über Dareios eroberte. gefunden,
Und der verlor’ne SohnAnspielung auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn im Neuen Testament der Bibel [vgl. Lukas 15,11-32]; dort heißt es allerdings lediglich, der Sohn sei in „ein fernes Land“ gezogen und dort „aufs Feld zum Schweinehüten“ gegangen. in niedern Diensten stand.
An Seltenheiten reich und Schätzen,
Die sonderlich des Forschers Aug’ ergötzen,
Warst du gesund auf deinem treuen PferdWedekinds Vater erreichte Konstantinopel am 22.8.1844 nicht auf dem Pferd, sondern mit dem Dampfschiff, das er am 13.8.1844 in Trabzon am Schwarzen Meer bestiegen hatte [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].
Nach Constantinopel kaum zurückgekehrt,
So traf s/d/ich dort der Zorn des Muhamet:
Es faßte Dich ein wildes FieberAm 30.8.1844 notierte Friedrich Wilhelm Wedekind erstmals: „Verfalle in eine langwierige Krankheit (typhoises Fieber). Falle auf der Straße nieder; Erbrechen; Fieber.“ Am 26.10.1844 heißt es: „Das Fieber bricht wieder aus, daneben Erbrechen und Diarroe.“ Am 6.1.1845 erneut: „In den folgenden Tagen entwickelt sich ein typhoises Fieber“ und am 19.1.1845: „Es stellen sich Delirien ein und halten mehrere Tage an“. Am 18. und 19.2.1845 notierte er: „Der fatale Husten fängt an nachzulassen, auch stellt sich der Appetit ein wenig wieder ein, nachdem ich gut 5 Wochen nur von warmer Milch gelebt.“ Erst am 25.3.1845 der Eintrag: „Zum ersten Male wieder an die freie Luft gegangenen [...], nachdem ich seit dem 4ten Jan. also 82 Tage das Zimmer gehütet.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301],
Die Tage wurden trüb und trüber;
Lang lagst Du einsam auf dem Krankenbett.
In fremdem Land, verlassen und allein,
Trat keine Menschenseele bei Dir ein,
Als Morgens früh, sobald der Tag erwachte,
Ein Muselmann, der Dir den Frühtrunk brachte. –
Und als du so gelitten lange Wochen
Und endlich die Gesundheit kehrte zurück,
Hat der Genuß von einem Melonenstück
Zum zweiten Mal die Kräfte dir gebrochen.


Wohl jedem, dem in schweren Stunden
Ein reicher Geist das Herz erhebt,
Und über Schmerzen, über Wunden
Erhabene Gedanken webt.


Der einsam Kranke muß verzagen,
Wenn ihn nicht inn’re Stärke hält,
Wenn ihn nicht Geistesschwingen tragen
In eine schmerzenlose Welt.


So träumt er unter Qual und Leiden
Von hohem, längstersehntem Glück,
Indeß die finstern Mächte scheiden,
Und die Gesundheit kehrt zurück. ––


Ein schnelles Schiff mit günst’gem Wind
Trug dich entlang an Ioniens Küstendie Westküste Kleinasiens (Türkei). Hier hatte Friedrich Wilhelm Wedekind vom 2.10.1845 bis 29.11.1845 einen längeren Aufenthalt in Smyrna (heute: Izmir) [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].,
Wo Städte dich und Inseln grüßten,
Vertraut, wie Jugendfreunde sind.
Hier hatte ja dein Geist gewandelt,
Als er im Dienst der Schule war;
Und was er fleißig sich erhandelt,
Nun wird es erst lebendig klar:
Hier lebten Perser, lebten Griechen,
Der Römerherrschaft Glanz und Ruhm,
Das Christenvolk mit seinen Flüchen
Aufs alte schöne Heidenthum.
Und wie die Tage schnell enteilen,
So liegt die schönste Perle nah, |
Dort glänzt mit den gebroch’nen Säulen
AthenFriedrich Wilhelm Wedekind notierte am 30.11.1845, nachdem sein Schiff in Piräus angelegt hatte: „Ausflug nach Athen.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] im freundlichen Attika.


Empor, empor zur lichten Höhe,
Zur herrlichen Akropolis,
Daß ich die heil’gen Trümmer sehe! –
O Wonneblick voll Bitterniß!


Ihr Leichensteine ew’ger Geister,
Zu stummer Trauer nun verdammt,
Warum zerschlug der hohe Meisterunklar; Wedekind beklagt hier wohl die Ikonoklasmen an der Athener Akropolis seit der byzantinischen Christianisierung im 6. Jahrhundert und der muslimischen Vereinnahmung durch die Türken 1456.
Die stolze Pracht, der ihr entstammt?


Warum, warum seid ihr gefallen
Von teuflischer Barbarenhand,
Ihr Menschenbilder, Säulenhallen,
Darin die Gottheit selberIm Parthenon der Akropolis befand sich bis ins 5. Jahrhundert ein rund 12 Meter großes Standbild der Athena Parthenos. stand?


Noch lacht euch ja der gleiche Himmel,
Noch glänzet euch das gleiche Meer.
Der Schiffe liebliches Gewimmel,
Noch spielt es um die Küsten her.


Noch hegt das Menschenherz das gleiche
Verlangen nach Erhabenheit. –
Warum verlor es jene reiche
Unwiederbringlich gold’ne Zeit?


Wie würde sie die Welt jetzt trösten,
Die Welt, die so gelähmt und krank, |
Die die Propheten nicht erlösten
Durch Dogmentrug und blut’gen TrankAnspielung auf das Neue Testament der Bibel: „Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm.“ [Johannes 6,53-56]. ––


Du große Gottheit, Gott des Schönen,
Verlaß mich nicht, ich bin dir treu.
Laß mir dein Zauberlied ertönen,
Wie auch die Welt gealtert sei!


Laß mich im wüsten Weltgewimmel
Nicht stürzen von der lichten Höh!
Thu auf dich, blauer Griechenhimmel,
Daß ich dein strahlend Auge seh’! ––


So scholl aus Deinem Herz vereinet,
Was still darin geborgen war.
Sieh da! Vor Deinem Blick erscheinet
Ein Jüngling schön und wunderbar.


Wie? Ist es Wahrheit, ist es Lüge? –
Du fragst, und seine Lippe spricht!
Erkennst Du diese reinen Züge?
Kennst Du den Götterboten nicht?


Blickst so freundlich forschend hernieder, Hermes,
Schöner Gott; bin ich des bewegten Auges
Sehnsucht? – Mir dem Sterblichen bringst Du Botschaft
Hoch vom Olymp her? – |


Manches Liebeswörtchen hat unter Göttern
Deines Fußes Fittig dahingetragen.
Gerne sahn dich alle. – Wardst darum, Hermes,
Schön wie der Tag du? –


Herrlich ging das Weib aus Prometeus HändenIn Ovids „Metamorphosen“ (1,76-88) formt Prometheus die Menschen nach dem Bild der Götter aus Erde und Regenwasser.,
Aber Deiner Schönheit erhabne Züge
Trägt es nicht. – Was haben die ewgen Götter
Mir zu verkünden? –


„Ew’ge Jugend aus des Olympos Höhen
Sollte dir, dem Sterblichen HermesSchreibversehen, statt: dem Sterblichen, Hermes. bringen,
Als Geschenk unsterblicher Griechengötter
Goldene Jugend.


„Aber Deines Geistes gewalt’ge Schwingen
Leih’n Dir höh’res Gut: Statt in leichtem Tändeln
Wirst im Kampf und Sieg über Jahre stets du
Stark Dich erhalten.


„Bunt mit Blumen schmückt sich die munt’re Jugend.
Aber wer als Mann sich die Welt erobert,
Dem kränzt Hermes preisend mit ewig grünem
LorberSchreibversehen, statt: Lorbeer. die Schläfen.“ –– |


In Malta eine lange Quarantaine
Hielt Deinen raschen Wanderflug zurück.
Da schlug die lange Weile die scharfen Zähne
Tief in das angefesselte Lebensglück.
Heiß war der Tag in jenen kahlen Räumen,
Ganz angethan zum Schlafen und zum Träumen.
Allein die Nächte waren erquickend frisch;
Da saß’st du dann, dein Sattel war dir Tisch,
Und schriebest Briefe an die fernen Lieben,
An Freunde und Verwandte Brief um Brief,
Bis daß der Hahn die Morgenstunde rief,
Und andere Leute sich die Augen rieben.


Wie jauchztest du, als wieder freie Luft
Auf schwankem Schiffe kühlend Dich umwehte,
Als drauf, erwacht im Strahl der Morgenröthe
Phaeton Dich in seine Mauern ruft.
Ehrwürdgen Alters ist die Stadt und prächtig
Mit Kirchen und Capellen wol beschert,
Und über alles hebt sich drohend mächtig
Des Ätnas himmelhoher Feuerheerd.
Ein schöner Tag„Auf den Aetna (monti rossi)“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] notierte Friedrich Wilhelm Wedekind in einem ergänzenden Nachtrag in seinem Tagebuch. Den Ausflug zu den „Monti rossi“ datierte er auf den 14.3.1846. bringt seine schönen Freuden,
Und Herrn und Damen schwingen sich zu Roß,
Und auf zum Krater klimmt der ganze Troß,
Das Aug’ am Wunder der Natur zu weiden.


Im Rücken raucht der finstre Höllenschlund,
Doch vor Dir liegt Sicilien ausgebreitet, |
Glänzt Meer und Land so sonnig warm, so bunt,
Und hoch sich drüber her der Äther weitet.
Und wie Dein Aug’ jetzt durch die Ferne schweift,
Unstet umher, in freudigem Erwarten,
So hast gar bald Du hoch zu Roß durchstreift
Den ganzen reichen Paradiesesgarten.


Die Monde fliehn. Mit Klang und Jubelschall
Im Schellenkleide naht Prinz CarnevalDer Rosenmontag fiel auf den 23.2.1846, also noch in die Zeit von Friedrich Wilhelm Wedekinds Aufenthalt in Palermo..
Da faßt der Dämon der Verneinung
Das ganze Volk und stellt es auf den Kopf;
Was man nicht ist, bringt jeder zur Erscheinung,
Vernunft und Thorheit sind der gleichen Meinung
Und alles tanzt um seinen eignen Zopf.
Der Geist der Ausgelassenheit
Wälzt sich bacchantisch durch die bunten Mengen,
Und unter Pracht und jubelnden Gesängen
Rast schnell vorbei die wilde Zeit. ––
Ein junger Türke, heißt’s, sei auch dabei gewesen,
Das goldgestickte Fez im Lockenhaar,
In silberschwerem Kleid. – Doch wer der Türke war,
Steht leider nicht in diesem Buch zu lesen.


Wie bald starbst du dahin, Du leichtes Ding,
Du Carneval, Du schillernder Schmetterling.
Es blüht der Lust kein dauerndes Verweilen,
Und ihren Grabstein schmücken diese Zeilen: |


Wärmender Wonne wiegende Welle
Weilt nicht gewärtig der wohligen Ruh.
Fern den Gestaden in wogender Schnelle
Wallt sie den tosenden Tiefen zu,
Stürzt über Felsen mit jauchzendem Jagen
Jählings hinab in den schäumenden Schlund:
Glizernde Perlen, in Lüften getragen,
Geben ihr seliges Sterben uns kund. ––


Über NeapelAm 19.3.1846 notierte Friedrich Wilhelm Wedekind: „Gegen Mittag Ankunft im Hafen von Neapel.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301] Am 29.3.1846 verließ er Neapel mit „Extrapost […] über Capua und Gaeta nach Terracina“ [ebd.]. an dunkelblauer Bucht,
Gekrönt von des Vesuves rauchendem Kegel,
Trägt Dich das schnelle Schiff mit blinkendem Segel.
Und Deines Wagens vielverzögerte Flucht
Führt dich durch der Campagna dunstige Haide
In schnellem Trab. Da schwillt Dein Herz vor Freude
Denn vor dir steigt empor mit dem Petersdom
Das ewige RomFriedrich Wilhelm Wedekind kam am 30.3.1846 in Rom an: „Weiter über Velletri und Albano nach Rom. Herrliche Aussicht von der Höhe von Albero auf die Stadt.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].
Die Stadt die zweimalzur Zeit des Römischen Reiches und zur Zeit der Renaissance. sich die Welt gewann,
Die zweimal Fesseln schlug um alle Lande,
Einst durch des Schwertes EisengefügteSchreibversehen, statt: eisengefügte. Bande
Jetzt durch des Geistes fester geschlung’nen Bann;
Die Stadt die selber zweimal zu stolzer Pracht,
Gleich wie der Phönix aus den Flammen,
Aus Brand und Schutt und Trümmern ist erwacht
Und zwei Jahrtausende hält in sich zusammen.


Doch hängt Dein Blick nicht einzig an den Trümmern
Aus glänzender Cäsarenzeit, |
Die düster jetzt im Abendgolde schimmern,
Obwohl sie blinkend einst das Aug’ erfreut.
Die stolzen Bauten sind gebrochen,
Den lichten Tempeln hoch und hehr
Hat man die Augen ausgestochen:
Sie hegen keine Götter mehr.


Allein das Göttliche stirbt nie;
Aus Plünderung und Feuersbrünsten
Hebt sich unsterblich Poesie,
Hebt sich der Geist in edlen Künsten.


Und eine neue Ära bricht heran
Im späten Morgenroth in ros’ger Ferne:
Die Sonne zieht verjüngt die hohe Bahn
Und durch das Dunkel blinken neue Sterne.


Und Kirchen und Paläste füllen sich
Mit Lieblichkeit und Pracht durch neue Meister,
Und über alles hebt sich königlich
Der weite Dom, der Glaubenshort der Geister.


Da malt ein Raphael auf blasse Wanddie von Raffael gemalten Fresken (1509 bis 1517) in den Wohnräumen (Stanzen) von Papst Julius II. im Apostolischen Palast des Vatikans. In der Auflistung seines Besichtigungsprogramms im April 1846 notierte Friedrich Wilhelm Wedekind lediglich: „Besichtigung der Sammlungen des Vaticans“ [Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].
Des Menschenherzens tiefste Regung,
Und Harmonie schließt jegliche Bewegung
Der Form in ein erquickend süßes Band.


Aus Marmor, ungestalt und stumpf
Hebt Michel Angelo des Gottes Stärke; |
So ward sein MosesbildnißMichelangelos monumentale Moses-Statue (1512 bis 1515) steht in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom auf dem Grab von Papst Julius II. In der Auflistung seines Besichtigungsprogramms im April 1846 nennt Friedrich Wilhelm Wedekind die Statue nicht. Frank Wedekind hatte kurz zuvor ein Bild der Statue erworben [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 25.1.1886]. zum Triumph
Der Phantasie, zur Krone seiner Werke.


Sind es der Blicke tiefe Feuerflammen? –
Sind es die Linien, die den Körper weben? –
Dein Aug’ sieht furchtsam und mit leisem Beben
Macht, Größe, Herrlichkeit so eng beisammen.


Das sind nicht Formen, die vom Menschen stammen;
Es ist des Höchsten allgewalt’ges Leben,
Das schaffend sich dem todten Stein ergeben,
Im Richten streng und furchtbar im Verdammen.


Und ewig waltet in Bestehn und Werden
Sein eisernes Gesetz mit Lohn und Strafen.
Weh solchen, die des Himmels Blitze trafen!


Sie sehn erwacht mit teuflischen Gebärden
Die Furien, die im stillsten Frevel schlafen,
Und athmen keinen Frieden mehr auf Erden. ––


Der schöne Frühling kam heran. Da ließ
Dein Wandertrieb dich länger nicht im Süden.
Der nächste Winter fand dich in ParisFriedrich Wilhelm Wedekind traf am 17.5.1846 in Paris ein [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301].,
Noch immer von der Heimat weit geschieden. |
Und was in der Türkei, in Griechenland,
Und in Italien Interessantes Du gefunden,
Das wurde nun in fleißigen Mußestunden
Erforscht, ergründet und erkannt.
Da saßest du geschäftig in den Sälen
Der BibliotekSchreibversehen, statt: Bibliothek. in der Gelehrtenschaar,
Die Herrscher, die Jahrhunderte zu zählen,
Darunter einst das Silber geschlagenAnspielung auf die umfangreiche Münzsammlung, die Wedekinds Vater während seiner Reisen im Osmanischen Reich angelegt hatte (s. o.). war.


Doch auch die vielen Wunderdinge der Kunst,
Die in Paris in den Museen,
In Galerien und Palästen sind zu sehen,
Erwarben bald sich deine Gunst.
Wer kennt es nicht, das unvergleichliche Weibdie 1820 auf der Kykladeninsel Milos gefundene und im Pariser Louvre ausgestellte Skulptur der Venus von Milo aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.,
Das armberaubt auf Melos man gefunden!
Wer kennt nicht diesen marmorkalten Leib,
Dem dennoch sich das wärmste Leben verbunden!
Wer kennt Frau Venus nicht, die schon im Alterthum
So manches stolze Männerherz berückt,
Und die im Mittelalter noch die Blume
Der deutschen Ritterschaft beglückt! –
TannhäuserWedekind kannte den mittelalterlichen Stoff aus Richard Wagners Verarbeitung in der Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Große romantische Oper in drei Akten“ (Dresden 1845), deren Textbuch er gelesen hatte [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 20.1.1884]., der geprüfte Held, vertraute
Mir seine ganze Liebesgeschichte an
Und sang zum Saitenspiele seiner Laute
Ein LiedWedekind hatte für Blanche Zweifel ein Gedicht mit dem Titel „Frau Venus“ verfasst und mit „Tannhäuser“ unterzeichnet [vgl. KSA 1/I, S. 111 und S. 934-938]., das ihm die Holde einst abgewann;
Damals trug sie den Schleier um die Lenden,
In griechischem Knoten trug sie ihr reiches Haar,
Und wußte sich nicht d/z/u drehen, nicht zu wenden,
Daß sie nicht immer wieder noch schöner war: |


O Du liebes, schönes Frauenbild,
Cypriarömischer Alternativname der Venus. Ob sich Wedekind hier auf ein reales Bild bezieht, ist unklar, die geschilderte Szene ist ein häufig vorkommendes Bildmotiv., dem leichten Schaum entstiegen!
Tändelnd Dir um Brust und Wangen schwingen
Amoretten sich, gewaffnet, wild. –
Vor den Kleinen wahret dich kein Schild;
Ihre giftgetränkten Pfeile siegen,
Endlich muß der Stärkste unterliegen. ––


Doch fort vom süßen Minnespiele,
Von leichter Liebeständelei! –
Den Mann begeistern andre Ziele:
Das Volk steht aufAnfangsworte von Theodor Körners Gedicht: „Männer und Buben“: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los;“ [Theodor Körner, Leyer und Schwert. 2. Aufl. Berlin 1814, S. 78]; hier in Anspielung auf die 1848er Revolution., das Land wird frei.


So ist denn doch die Zeit gekommen,
Da sich der deutsche Geist erhebt,
Und da die alte Gluth entglommen,
Die längst in a/A/ller Adern lebt.


Nun redet offen, ihr Gewissen!
Nun wall empor Du starke Fluth! ––
Die engen Bande sind zerrissen,
In denen ihr so lang geruht.


In Wort und blutgen Kämpfen streben
Die Völker nach entbehrtem Glück.
Die Throne zittern und erbeben,
Die Söldner weichen scheu zurück. |


Die alte Größe will man wieder,
Die einst so stolz das Volk umwand;
Für freigeborne, deutsche Brüder
Ein ein’ges, freies Vaterland.


Nicht mehr in sechs und dreißig Staatendie Mitgliedstaaten des 1815 begründeten Deutschen Bundes. Die tatsächliche Anzahl der beteiligten Staaten und freien Städte schwankte bis zu seiner Auflösung 1866 zwischen 35 und 39.
Die leidige Zersplitterung,
Und sechs und dreißig Potentaten
Anbeten in Erniedrigung. –


Es will das Volk sich selbst regiren,
Und die, so es dazu ernannt,
Sie sollen die Gesetze führen
Mit klugen SinnSchreibversehen, statt: Mit klugem Sinn. und starker Hand.


Drum werden Männer ausgesendet,
Soweit die deutsche Sprache klingt,
Daß das Erlösungswerk, vollendet,
Den Völkern Glück und Friede bringt.


Am Main, dem stolzen deutschen Strome,
Da steht die alte KrönungsstadtFrankfurt am Main war seit 1562 der Ort der Kaiserkrönungen im Heiligen Römischen Reich..
Da traten in St. Paulus Dome
Zusammen sie zu Rath und That.


Da klingen würd’ger Männer Namen,
In allen Gauen hochverehrt.
Aus Süden wie aus Norden kamen
Sie zu der Freiheit Feuerherd. |


Auch duFriedrich Wilhelm Wedekind begleitete Ende Mai 1848 seinen Vetter Eduard Wedekind, „der als Abgeordneter an der ersten deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche teilnahm“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 98], nach Frankfurt, „wo er als Korrespondent verschiedener Zeitungen (Reichzeitung u. a.) an den Verhandlungen teilnahm“ [Kutscher 1, S. 5]. standst, Vater, in den Reihen,
Das Herz erfüllt von reiner Gluth
Dem heil’gen Kampfe dich zu weihen
Für Menschenrecht und höchstes Gut.


Und dieses Gut, das jedem theuer,
Das jedem in der Seele brennt,
Vertei/fo/chtest du mit heil’gem Feuer
Im ersten Deutschen Parlament.


Doch wenn verrauscht, des Kampfes Wogen,
So tönen Sang und BeckerklangSchreibversehen, statt: Becherklang.;
Da ist man wol hinausgezogen
Dem schönen, blauen Rhein entlang.


Von Ort zu Ort, von Stadt zu Städtchen
Fuhrt ihr in lustgem Zuge hin,
Da kamen Frauen, kamen Mädchen,
Voran die Bürgermeisterinnicht identifiziert.;


Sie haben ihre Freiheitsboten
Ins traute Städtchen eingeführt
Und ihnen Speis und Trank geboten.
Drauf ward gejubelt, banquettirt. –


Der Morgen führt die Freunde weiter,
Und über Beg/r/g und Thal umher
Lacht Sonn’ und Himmel freundlich heiter;
Allein das Herz ist trüb und schwer. |


„O könnt’ ich ewig bei Dir weilen,
Du blonde Maid am blauen Rhein!
So aber müssen diese Zeilen
Dir einzig Angedenken sein.


„Und was uns beide stolz belebet,
Die hohe Gluth fürs Vaterland,
Ihr bleibe treu, die dich umschwebet,
In der sich Herz zum Herzen fand.“ –


Ein letzter Blick. Da rollt der Wagen,
Es wehen Tücher hier und dort.
Im Morgenwind hinaus getragen,
Verhallt das letzte Abschiedswort. ––


Als glorreich manDiese und die beiden folgenden Strophen hat Wedekind später in überarbeiteter Form in sein Gedicht „Ein politisch Lied. Von Germanias Ehestand“ (1897) übernommen [vgl. KSA 1/I, S. 469-472]. das große Werk begonnen,
Da hoffeSchreibversehen, statt: hoffte. jeder auf ein glücklich End’. ––
Wie schaarten sich des Vaterlandes Sonnen
Zum Strahlenkranz im ersten Parlament!
Die Furcht entfloh, Muth und Betheurung blieben,
Nicht ferner mehr zu beugen das Genick. –
Wie herrlich schoß empor in jungen Trieben
Der starke Keim der deutschen Republik!


Doch als nunmehr vom Kampfe der Gedanken
Des stolzen Domes Wölbung wiederklang, |
Als Aller Herzensgluth in heil’gen Schranken
Nach des Gesetzes weiser Fassung rang,
Da fiel ergrimmter Feinde kaltes Wüthen,
Fiel nah und fern der Freunde Mißgeschick,
Wie Reif im Frühling, auf die ersten Blüthen
Am Lebensbaum der deutschen Republik. –


Und als ein volles Jahr dahingegangen,
Da sank die letzte Hoffnung in den Sand:
Das Volk erdrückt, verzagt in Angst und Bangen!
Und all’ die Besten aus dem Vaterland,
Sie legten trauernd im erwachten Lenze
Den welken Traum, mit thränenvollem Blick,
Und der Verbannung düstre Dornenkränze
Auf’s junge Grab der Deutschen Republik. ––


Nächtlich durch die stillen Fluthen
Zieht ein Dunkles Schiff daher.
Spiegelnd der Gestirne Gluthen
Sprüht und glüht das weite Meer.


Während Wind und Wellen schliefen,
Lehnt ein Mann sich über Bord; |
Mit dem Murmeln in den Tiefen
Tauscht er sinnend Wort um Wort.


„Geister, euer leises Künden
Trifft in Räthseln nur mein Ohr. –
Werde je ich wiederfinden,
Was ich, ach, so früh verlor?


„Finsterniß ließ ich im Rücken;
Und entflohn der düstern Zeit,
Dehnt sich neu vor meinen Blicken
Ungewisse Dunkelheit.“ –


Aus den Tiefen murmelnd rauschet
Auf und nieder süßer Klang;
Und der müde Pilger lauschet
Und vernimmt den Geistersang:


„Hast die Heimat auch verloren,
Zittre nicht, du starker Held!
Aus den Stürmen neugeboren,
Nimmt dich auf die neue Welt.


„Neue Freuden, neue Leiden
Bringt die künft’ge Zeit daher.
Und dereinst wird auch das Scheiden
Von der neuen Welt dir schwer.


„Doch Du siehst die Heimat wieder,
Und der herbe Schmerz entwich;
Und die alten Kampfesbrüder
Segnen und umarmen Dich.“ –– |


In leichtem Kahne geht die lust’ge Fahrt
Den Fluß hinauf durch Urwald„Nach dem Scheitern der 1848-Revolution wanderte Wilhelm Wedekind 1849 wie viele andere enttäuschte Republikaner nach Amerika aus. Er trat seine erste Amerikareise von Paris aus am 12.3.1849 an. Abfahrt von Southhampton am 17.3.1849 nach Aspinwall (Panama). An der Ostküste Panamas angelangt, durchquerte er, eine Eisenbahnlinie zum Pazifik war noch nicht gebaut, die Urwälder des Isthmus von Panama per Fluss- und Landreise, um nach längerem Aufenthalt in Panama-Stadt von dort aus per Schiff nach San Francisco weiterzureisen, wo er am 5.9.1849 ankam“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 98; vgl. Kieser 1990, S. 31, Bertschinger 2001, S. 91 f., Parker 2020, S. 25, Anm. 25]. viele Tage.
Zwei Neger, unbekleidet und krausbehaart,
Bewegen Das Ruderpaar in gleichem Schlage.
Auf beiden Ufern niedere Dörfer stehn,
Und Indianermädchen, schlank und schön,
Ruhn unten am Fluß, die bunten Gewänder zu waschen.
Allein sobald die Kähne sie überraschen,
Fliehn sie leichtfüßig hinauf mit ängstlichen Schritten
Und bergen sich in den traulichen Bambushütten. ––


Zu Land und wieder in Kähnen gelangtet ihr dann
Nach langer Fahrt an den stillen Ocean,
Worauf ein starkes Schiff in schnellem Flug
Dich durch das goldene Thordas „Golden Gate“, die Meerenge, zwischen der Bucht von San Francisco und dem Pazifik. in’s neuentdeckte,
In’s glückverheißende Californien trug,
Das manchem schon vergoldete Hoffnung weckte.


Dort in der neuen Heimat fing
Für dich ein neues Dasein an.
In Fleiß und steter Arbeit ging
Das Leben langsam seine Bahn.


Da ward gar manchen Trost und Heil,
In kluger Menschenfreundlichkeit,
Durch deine sich’re Kunst zu Theil,
Die gern zum Helfen stets bereit. |


Die Stadt vor frecher Mordbegier
Zu retten, schwangst du dich zu Pferd,
Hieltst Wachegemeint ist vermutlich das San Francisco Committee of Vigilance, eine 1851 und 1856 für jeweils drei Monate ins Leben gerufene Bürgermiliz zur Bekämpfung der wachsenden Kriminalität. Das Komitee war für mehrere Hinrichtungen und Deportationen verantwortlich. Eine Mitgliedschaft Friedrich Wilhelm Wedekinds „hat sich bisher nicht nachweisen lassen“ [Parker 2020, S. 32]. vor der Kerkerthür,
In starker Faust das blanke Schwert.

Am Abend wurden sie gebracht,
Die Geisterstunde sprach Gericht.
Und als der junge Tag erwacht,
Da hingen sie im Morgenlicht. –

Drauf wieder froh und ungetrübt,
Gemessen Jahr um Jahr verstrich.
Geehrt von Allen und geliebt,
Belasten stolze Würden Dich.

Am hohen Schillerfeste„Wilhelm Wedekind gehörte zu den Mitorganisatoren der Feier zum 100. Geburtstag Friedrich Schillers in San Francisco am 10. November 1859, zu der er einen ‚Californischen Festgesang zu Schiller’s Jubelfeier‘ beisteuerte“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 99; der Text ist abgedruckt ebd. S. 270-272]. sang
Die Muse dir ein rauschend Lied,
Das hell in tausend Stimmen klang
Und tausend Herzen wild durchglüht.

Es glüht das Herz, es schallt das Lied
Wol durch der Freunde traute Reih’n,
Und in des Dichters Seele zieht
Ein niegeahntes Sehnen ein.

Und mächtig, mächtig schwillt sein Herz,
Umsonst sucht es das Losungswort.
Das Aug’ blickt fragend himmelwärts
Und findet keine Tröstung dort.

Da flammt es auf in wilder Pracht,
Da plötzlich wird ihm sonnenklar,
Daß es der Liebe Zaubermacht,
Daß es der Liebe Leiden war.

So sank der Flor, da sprach der Mund;
Da war ein liebend Jadie Zustimmung von Wedekinds Mutter, seinen Vater zu heiraten. Friedrich Wilhelm Wedekind notierte am 13.5.1862 in seinem Kalifornischen Tagebuch: „Das Wort ist ausgesprochen. [...] Wir sind einig. [...] Wir werden uns niemals trennen, wir werden immer beisammen bleiben, um ganz Eines für das Andere zu leben.“ [Parker 2020, S. 211] Die Eheschließung fand am 28.3.1863 in Oakland statt. bereit,
Da ward ein fester Seelenbund
Geschlossen für die Ewigkeit. |

Und wurden später dir auch zu theil
Im Glück noch leidige Schmerzen,
So wünschen heute dir Freud und Heil
Sechs frohe Kinderherzen.

Und beten, daß sie noch manches Jahr
Dies schöne Fest erleben,
Und daß der Friede mög’ immerdar
Ob deinem Haupte schweben.

Und daß am Himmel, ob deinem Haupt
Des Glückes Sonne glänze;

Daß Dich, mit heiterem Grün belaubt,
Noch mancher Frühling kränze.

Uns aber laßt streben im Verein,
Getreu Ge und ohne Wanken,
Des edlen Vaters werth zu sein,
Dem wir die Welt verdanken.

Und laßt uns wallen durch die Welt
Am starken Wanderstabe
Der Freiheit, den er uns gesellt
Als höchste Gottesgabe.

Mit freiem, unbefangnem Sinn
Geweiht dem Großen, Hohen,
So gingst du durch die Jahre hin;
Die Dir vorüberflohen.

Vorüber flohen siebzig Jahr
In Freud’ und redlichem Ringen.
So laß dir, Vater, Du Jubilar,
Durch Deiner Kinder beglückte Schaar
Ein dreifaches Vivat! bringen! –– |


II. Mos. 20. 12. Hinweis auf das 2. Buch Moses im Alten Testament der Bibel: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt!“ Der Vermerk befindet sich am unteren Rand von S. 47.––

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 24 Blatt, davon 44 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 28 x 35 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Blätter sind gebunden, die Seiten in der rechten bzw. linken oberen Ecke von Wedekind ab S. 4 nummeriert (hier nicht wiedergegeben; Nummerierung fehlt auf S. 5, 7, 34, 44). Auf der Titelseite befindet sich eine Skizze von Schloss Lenzburg. Das Gedicht endet mit einem Ornamentschnörkel und einem daruntergesetzten Pentagramm. Auf Seite 45 ist ein Bild der Venus von Milo eingeklebt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 20.2.1886 ist als Ankerdatum gesetzt – das späteste mögliche Datum der Fertigstellung des Briefgedichts, das am Nachmittag des 21.2.1886 in Lenzburg eintraf [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 25.2.1886]. Als Schreibort darf der Wohnort Wedekinds gelten.

Das nach Lenzburg geschickte Briefgedicht dürfte an Armin Wedekind adressiert gewesen sein, der angekündigt hatte, es vortragen und überreichen zu wollen [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 12.2.1886].

  • Schreibort

    München
    20. Februar 1886 (Samstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Werke. Kritische Studienausgabe. Band 1/I. Gedichte. Lyrische Fragmente und Entwürfe

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Elke Austermühl
Verlag:
Darmstadt: Häusser.media Verlag
Jahrgang:
2007
Seitenangabe:
205-235
Kommentar:
Neuedition in leicht abweichender Transkription: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 130-162 (Nr. 62).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
B, Nr. 64
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 20.2.1886. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

13.09.2024 13:39