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Kennung: 5457

Schloss Krähberg, 14. Oktober 1887 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Valabrega, Pacifico

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
  • Henckell, Karl

Inhalt

Krähenberg bei Beerfelden den 14/10/87


Sehr liebe FreundeDie Adressaten des Briefes sind Frank Wedekind und Karl Henckell, die der italienische Sprachlehrer und Übersetzer Pacifico Valabrega aus Mailand während seines Zürichaufenthalts 1887 kennengelernt haben dürfte. Karl Henckell widmete ihm das Gedicht „Der Corpsbursch. (Herrn Pacifico Valabrega, Mailand, freundschaftlich dedicirt.)“ [Karl Henckell: Amselrufe. Zürich 1888, S. 41].!

Heute wird auf dem Krähenbergdas Jagdschloss Krähberg der Familie Erbach-Fürstenau im Odenwald. ein Kartoffelfest gefeiert und, diesem bescheidenen Nahrungsmittel zu Danke, bleiben mir einige ununterbrochene Stunden freiPacifico Valabrega war, wie Conrad Ferdinand Mayer in einem Brief an Hermann Haessel vom 15.5.1887 schrieb, als Lehrer bei der Adelsfamilie Erbach-Fürstenau um Graf Adalbert Adolf zu Erbach-Fürstenau angestellt, „um diesen in Dante einzuweihen.“ [Conrad Ferdinand Meyer: Briefwechsel. Band 4.5. Verlagskorrespondenz. Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Hermann Haessel mit zugehörigen Briefwechseln und Verlagsdokumenten. Briefe 1886 bis 1887. Hg. von Stephan Landshuter, Wolfgang Lukas, Elisabeth Rickenbacher, Rosmarie Zeller und Matthias Osthof † (philologische Datenverarbeitung), unter Mitarbeit von Sandra Feten. Göttingen 2019, S. 97], welche ich ohne Bedenken meinen Freunden widme. Ich weiß nicht ob diese ländliche Feierlichkeit in Deutschland durchgängig ist, aber im Gegensatzt mitSchreibversehen, statt: Gegensatz zu. denjenigen welche Bacchus zu Ehren in Italien begangen werden, kommt sie mir doch etwas spaßlichhier im Sinne von possenhaft, lächerlich. vor. Wer ist denn der Kartoffelgott? Aber ich unterdrücke meinen Erdäpfelhumor, da der neuste Gedanke in mir wach wird, daß eine ungeheuere Menge von Menschen sich davon nährt und deßwegen ist dieses Produkt jeder Würdigung werth, obgleich es allerdings besser wäre, wenn es für Alle durch die anderen Produkte, welche die reichen BärenhäuterFaulenzer. verzehren, ersetzt werden dürfte. Doch still davon; keine Kannengießereipolitisches Geschwätz, Stammtischgerede.!

Ja, liebe Freunde, ich will euch vor Allem | danken für die warmen in eueren Briefen vom 6ten Augustnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Pacifico Valabrega, 6.8.1887. enthaltenen Wortet, deren unwürdiger Gegenstand Ich war. Sie haben mich in meiner saueren Einsamkeit getröstet und ich wäre nicht im Stande zu sagen wie viel mal ich dieselben gelesen habe. Aber um zum Näheren zu kömmen, kann ich nicht verschweigen wie Ihre – Herr Wedekind – aus Ihren Zeilen hervorschauende Schwermuth mich betrübt haben/t/. Ich muß mir immer die räthselhafte Frage aufwerfen: Warum müssen die besten Menschen, die mir im Leben begegnet sind, unglücklich sein? Das ist stets mein Fall gewesen und Herr Jacobyder von den Verboten der Sozialistengesetze betroffene Lyriker Leopold Jacoby. Er siedelte in den 1880er Jahren „nach Mailand über, wo er als Dozent an der Reale Accademia scientifico-letteraria deutsche Sprache und Literatur unterrichtete.“ [Online: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118711210.html#ndbcontent (aufgerufen am 27.6.2024)] In Mailand dürfte ihn Pacifico Valabrega auch kennengelernt haben. steht als das hangreiflichsteSchreibversehen, statt: handgreiflichste. Beispiel da.

Herr Wedekind! ich leide mit Ihnen und wie ich mir bessere TageWedekind hatte seine Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] der Firma Maggi und Co. im Kemptthal im April gekündigt und im Juli auch die Zusammenarbeit auf Honorarbasis eingestellt [vgl. Vinçon 1992, 121]. Zur Zeit des von Pacifico Valabrega genannten Briefes befand er sich auf Stellensuche [vgl. Wedekind an Emanuel Wackernagel, 5.8.1887]. wünsche, so mag dieser Wunsch vor Allem für Sie gelten. Ich werde Ihnen die Geduld nicht rühmen, denn ich selbst habe oft mitShakspeareSchreibversehen, statt: Shakespeare. ausgerufen:

’tis all men’s officeZitat aus William Shakespeares Komödie „Much Ado About Nothing“ (1623); Leonato in V,1: „’tis all men’s office to speak patience / To those that wring under the load of sorrow, / But no man’s virtue nor sufficiency / To be so moral when he shall endure / The like himself.“ Das Zitat findet sich auch in den zeitgenössischen Shakespeare-Anthologien: „Stets war’s der Brauch, Geduld zu rühmen / Dem Armen, den die Last des Kummers beugt; / Doch keines Menschen Kraft noch Willensstärke / Genügte solcher Weisheit, wenn er selbst / Das gleiche duldete.“ [Hermann Marggraff: Shakespeare als Lehrer der Menschheit. Lichtstrahlen aus seinen Werken, nebst einer Einleitung. Leipzig 1864, S. 77] to speak patience
to those that wring under the load of sorrow,
but no man’s virtue nor sufficiency
to be so moral when he shall endure |
the like himself!

Wenn es für die irdischen Sklaven – ihremSchreibversehen, statt: Ihrem. Ausdruck nachBezugnahme auf den erwähnten, nicht überlieferten Brief Wedekinds vom 6.8.1887. – eine irdische Tröstung giebt, so ist es daß sie in jeder Richtung ihren erdichtenSchreibversehen, wohl statt: irdischen (oder: erdichteten). Brodherren geistig so überlegen sind, daß es eine Ehre ist den Ersten anzugehören. Trotzalledem, betrachtet man die Sache in der Nähe, giebt es ja nur einen unbedeutenden Unterschied zwischen uns und ihnen: wir sind arm, sie sind (geistes)arm. Sie trösten sich aber darüber mit der Bibel in der Hand: den Geistesarmen steht ja das Paradies offen! Die gräfliche Familie, zu deren Verfügung ich gegenwärtig bin, leistet einen schlichten Beweis davon, und in Wahrheit, wer sie kennzeichnen will, braucht einfach zu sagen: sie ist dem Paradies geweiht. Und ich nenne folglich deren Mitglieder kurzweg Paradieserdäpfel. Wir sind dagegen Erdapfelsinen und unsere Schmerzen sind deren Düfte. Wer weiß ob das Aushauchen der Düfte den BlumenSchreibversehen, statt: die Blumen. nicht eben soviele Leiden kostet.?

Aber kein leerer Wisch-wasch!

Ich muß zur Prosa halten und Sie, Herrn Henckell | derb kuranzenhier im Sinne von ‚züchtigen‘ [vgl. DWB 11, Sp. 2793]. für die Ihre spitzbübische Aufmunterungwohl in dem nicht überlieferten Brief Karl Henckells an Pacifico Valabrega vom 6.8.1887. zu einem kleinen Idyll mit einer gräflichen Germanin. Eine Germanin, das mag hingehen, aber eine gräfliche, potz Kraut und Rüben, nicht! Glauben Sie denn ich sei in dieser Richtung ein solcher Hungerleider daß ich zur ersten besten aristocratischen Speise zutappen„ungeschickt oder blindlings greifen“ [DWB 21, Sp. 140], „grob wie ein tappendes thier auf etwas zugreifen“ [DWB 32, Sp. 858]. müßte? Es warten auf mich daheim solche feine, ob auch nicht gräfliche, Gerichte, die ich hie und da schon angekostet habe, daß ich furchtbar heikel zu befriedigen bin.

Ein Idyll! Mit diesen langbeinigen Comtessenunverheiratete Gräfinnen., die zweimal so hoch sind wie ich, sodaß wenn ich sie küssen sollte, eine Leiter brauchen würde!

Nein, der kleine Gottder römische Gott Amor oder Cupido, der Gott des Sichverliebens, der als Knabe dargestellt wird. ist mein bester Freund und hat mir keinen üblen Spaß gemacht. Wir kichern miteinander über die semmelblonden Locken der langhalsigen, langwierigen, langbeinigen Gräfinnen.

Freilich packt mich manchmal eine wilde Sehnsucht nach meinen italienischen Kußmündchen, deren glühender Purpur meine Träume röthlich färbt und mir manches wonnig-schmerzliches Alp|drücken verursacht. Aber nur noch einen Monat und ich will sie bleich küssen, meine brennenden Kußmündchen!

Ja, am 15ten November ziehe ich heim, und da mein Weg mich durch Zürich führt, werde ich euch, falls ihr euch daselbst aufhaltet, besuchen, und euch das Merkwürdige meiner Erlebnisse mündlich berichten.

Meine UebersetzungPacifico Valabrega hatte für Conrad Ferdinand Meyer die Erzählung „Die Hochzeit des Mönchs“ ins Italienische übersetzt, die 1887 bei Hoepli in Mailand unter dem Titel „Le nozze del monaco“ erschien. Conrad Ferdinand Meyer schrieb am 15.5.1887 in einem Brief an Hermann Haessel: „Valabrega war hier […] Der Mönch ist bei Hoeplin erschienen, nach Valabrega’s Versicherung, ‚illustrirt.‘ Ich erwarte mein Exemplar.“ [Conrad Ferdinand Meyer: Briefwechsel. Band 4.5. Verlagskorrespondenz. Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Hermann Haessel mit zugehörigen Briefwechseln und Verlagsdokumenten. Briefe 1886 bis 1887. Hg. von Stephan Landshuter, Wolfgang Lukas, Elisabeth Rickenbacher, Rosmarie Zeller und Matthias Osthof † (philologische Datenverarbeitung), unter Mitarbeit von Sandra Feten. Göttingen 2019, S. 97]. Tatsächlich verzögerte sich die Publikation jedoch bis zum Herbst. Am 6.10.1887 schrieb Pacifico Valabrega an Conrad Ferdinand Meyer: „Herr Höpli schreibt mir, er habe Ihnen endlich einige Exemplare Ihres ‚Mönchs‘ gesendet. Es war ja die höchste Zeit! Als ich im Mai die Ehre hatte Sie zu besuchen, sagte ich Ihnen, auf das Versprechen Herrn Höpli’s, das Buch würde in einigen Tagen erschienen sein. Ich weiß nicht ob Sie […] die Gründe erfahren haben, die diese mehrmonatliche Verspätung verursacht. Ich selbst bin darüber vollständig im Dunkeln; da der Druck ja im Mai schon fertig war.“ [Ebd., S. 217] Später übersetzte Valabrega auch Meyers Erzählung „Die Versuchung des Pescara“ [vgl. ebd., S. 218], die 1890 erschien. des m/M/ei/y/er’schen Buches ist endlich erschienen und der Verfasser hat mir einen schmeichlerischen BriefDer Brief Conrad Ferdinand Meyers an Pacifico Valabrega und die im Folgenden genannten Korrespondenzen von und an Leopold Jacoby sind nicht überliefert. geschrieben, durch welchen ich zu einem neuen BesuchDas Datum des zweiten Besuchs (nach dem Treffen vom Mai; s. o.) bei Conrad Ferdinand Meyer in seinem Haus in Kilchberg am Westufer des Zürichsees ist nicht ermittelt. Karl Henckell berichtete rückblickend: „Es war an einem herrlichen Sommernachmittage gegen Ende der achtziger Jahre, als ich mit einem jungen Mailänder, Pacifico Valabrega, der die ‚Hochzeit des Mönchs‘ ins Italienische übersetzt hatte, den Dichter zuerst besuchte“ [Karl Henckell: Deutsche Dichter seit Heinrich Heine. Ein Streifzug durch fünfzig Jahre Lyrik. Berlin 1906, S. 69]. nach Kilchberg engagirt worb/d/en bin.

Herr Jacoby hat mir in seinen letzten Brief mitgetheilt er habe einen Brief von Ihnen, HerrnSchreibversehen, statt: Herr. Henckell, erhalten; was ihn sehr erfreut hat.

Also auf baldiges Wiedersehen! Bis dahin verbleibe ich mit bestem Gruß
I/E/uer P. Valabrega


P. S. Beim Wiederlesen des Briefes merke ich daß ich die Fürwörter ersterzweiter u. dritter Person aufs dümmste verwechselt habegemeint ist die vertrauliche Verwendung von ‚euch‘ und ‚eueren‘, statt ‚Sie‘ bzw. ‚Ihnen‘ und ‚Ihren‘.. Ich bitte tausendmal um Verzeihung! und um gütige Nachsicht!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 5 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt + Einzelblatt. Seitenmaß 14,5 x 22,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Schloss Krähberg
    14. Oktober 1887 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Schloss Krähberg (Beerfelden)
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Zürich
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Staatsarchiv des Kantons Aargau

Entfelderstrasse 22
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Karl Henckell
Signatur des Dokuments:
NLA-0075/0013
Standort:
Staatsarchiv des Kantons Aargau (Aarau)

Danksagung

Wir danken dem Staatsarchiv des Kantons Aargau (Aarau) für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Pacifico Valabrega an Frank Wedekind, Karl Henckell, 14.10.1887. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

23.08.2024 13:51
Kennung: 5457

Schloss Krähberg, 14. Oktober 1887 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Valabrega, Pacifico

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
  • Henckell, Karl
 
 

Inhalt

Krähenberg bei Beerfelden den 14/10/87


Sehr liebe FreundeDie Adressaten des Briefes sind Frank Wedekind und Karl Henckell, die der italienische Sprachlehrer und Übersetzer Pacifico Valabrega aus Mailand während seines Zürichaufenthalts 1887 kennengelernt haben dürfte. Karl Henckell widmete ihm das Gedicht „Der Corpsbursch. (Herrn Pacifico Valabrega, Mailand, freundschaftlich dedicirt.)“ [Karl Henckell: Amselrufe. Zürich 1888, S. 41].!

Heute wird auf dem Krähenbergdas Jagdschloss Krähberg der Familie Erbach-Fürstenau im Odenwald. ein Kartoffelfest gefeiert und, diesem bescheidenen Nahrungsmittel zu Danke, bleiben mir einige ununterbrochene Stunden freiPacifico Valabrega war, wie Conrad Ferdinand Mayer in einem Brief an Hermann Haessel vom 15.5.1887 schrieb, als Lehrer bei der Adelsfamilie Erbach-Fürstenau um Graf Adalbert Adolf zu Erbach-Fürstenau angestellt, „um diesen in Dante einzuweihen.“ [Conrad Ferdinand Meyer: Briefwechsel. Band 4.5. Verlagskorrespondenz. Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Hermann Haessel mit zugehörigen Briefwechseln und Verlagsdokumenten. Briefe 1886 bis 1887. Hg. von Stephan Landshuter, Wolfgang Lukas, Elisabeth Rickenbacher, Rosmarie Zeller und Matthias Osthof † (philologische Datenverarbeitung), unter Mitarbeit von Sandra Feten. Göttingen 2019, S. 97], welche ich ohne Bedenken meinen Freunden widme. Ich weiß nicht ob diese ländliche Feierlichkeit in Deutschland durchgängig ist, aber im Gegensatzt mitSchreibversehen, statt: Gegensatz zu. denjenigen welche Bacchus zu Ehren in Italien begangen werden, kommt sie mir doch etwas spaßlichhier im Sinne von possenhaft, lächerlich. vor. Wer ist denn der Kartoffelgott? Aber ich unterdrücke meinen Erdäpfelhumor, da der neuste Gedanke in mir wach wird, daß eine ungeheuere Menge von Menschen sich davon nährt und deßwegen ist dieses Produkt jeder Würdigung werth, obgleich es allerdings besser wäre, wenn es für Alle durch die anderen Produkte, welche die reichen BärenhäuterFaulenzer. verzehren, ersetzt werden dürfte. Doch still davon; keine Kannengießereipolitisches Geschwätz, Stammtischgerede.!

Ja, liebe Freunde, ich will euch vor Allem | danken für die warmen in eueren Briefen vom 6ten Augustnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Pacifico Valabrega, 6.8.1887. enthaltenen Wortet, deren unwürdiger Gegenstand Ich war. Sie haben mich in meiner saueren Einsamkeit getröstet und ich wäre nicht im Stande zu sagen wie viel mal ich dieselben gelesen habe. Aber um zum Näheren zu kömmen, kann ich nicht verschweigen wie Ihre – Herr Wedekind – aus Ihren Zeilen hervorschauende Schwermuth mich betrübt haben/t/. Ich muß mir immer die räthselhafte Frage aufwerfen: Warum müssen die besten Menschen, die mir im Leben begegnet sind, unglücklich sein? Das ist stets mein Fall gewesen und Herr Jacobyder von den Verboten der Sozialistengesetze betroffene Lyriker Leopold Jacoby. Er siedelte in den 1880er Jahren „nach Mailand über, wo er als Dozent an der Reale Accademia scientifico-letteraria deutsche Sprache und Literatur unterrichtete.“ [Online: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118711210.html#ndbcontent (aufgerufen am 27.6.2024)] In Mailand dürfte ihn Pacifico Valabrega auch kennengelernt haben. steht als das hangreiflichsteSchreibversehen, statt: handgreiflichste. Beispiel da.

Herr Wedekind! ich leide mit Ihnen und wie ich mir bessere TageWedekind hatte seine Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] der Firma Maggi und Co. im Kemptthal im April gekündigt und im Juli auch die Zusammenarbeit auf Honorarbasis eingestellt [vgl. Vinçon 1992, 121]. Zur Zeit des von Pacifico Valabrega genannten Briefes befand er sich auf Stellensuche [vgl. Wedekind an Emanuel Wackernagel, 5.8.1887]. wünsche, so mag dieser Wunsch vor Allem für Sie gelten. Ich werde Ihnen die Geduld nicht rühmen, denn ich selbst habe oft mitShakspeareSchreibversehen, statt: Shakespeare. ausgerufen:

’tis all men’s officeZitat aus William Shakespeares Komödie „Much Ado About Nothing“ (1623); Leonato in V,1: „’tis all men’s office to speak patience / To those that wring under the load of sorrow, / But no man’s virtue nor sufficiency / To be so moral when he shall endure / The like himself.“ Das Zitat findet sich auch in den zeitgenössischen Shakespeare-Anthologien: „Stets war’s der Brauch, Geduld zu rühmen / Dem Armen, den die Last des Kummers beugt; / Doch keines Menschen Kraft noch Willensstärke / Genügte solcher Weisheit, wenn er selbst / Das gleiche duldete.“ [Hermann Marggraff: Shakespeare als Lehrer der Menschheit. Lichtstrahlen aus seinen Werken, nebst einer Einleitung. Leipzig 1864, S. 77] to speak patience
to those that wring under the load of sorrow,
but no man’s virtue nor sufficiency
to be so moral when he shall endure |
the like himself!

Wenn es für die irdischen Sklaven – ihremSchreibversehen, statt: Ihrem. Ausdruck nachBezugnahme auf den erwähnten, nicht überlieferten Brief Wedekinds vom 6.8.1887. – eine irdische Tröstung giebt, so ist es daß sie in jeder Richtung ihren erdichtenSchreibversehen, wohl statt: irdischen (oder: erdichteten). Brodherren geistig so überlegen sind, daß es eine Ehre ist den Ersten anzugehören. Trotzalledem, betrachtet man die Sache in der Nähe, giebt es ja nur einen unbedeutenden Unterschied zwischen uns und ihnen: wir sind arm, sie sind (geistes)arm. Sie trösten sich aber darüber mit der Bibel in der Hand: den Geistesarmen steht ja das Paradies offen! Die gräfliche Familie, zu deren Verfügung ich gegenwärtig bin, leistet einen schlichten Beweis davon, und in Wahrheit, wer sie kennzeichnen will, braucht einfach zu sagen: sie ist dem Paradies geweiht. Und ich nenne folglich deren Mitglieder kurzweg Paradieserdäpfel. Wir sind dagegen Erdapfelsinen und unsere Schmerzen sind deren Düfte. Wer weiß ob das Aushauchen der Düfte den BlumenSchreibversehen, statt: die Blumen. nicht eben soviele Leiden kostet.?

Aber kein leerer Wisch-wasch!

Ich muß zur Prosa halten und Sie, Herrn Henckell | derb kuranzenhier im Sinne von ‚züchtigen‘ [vgl. DWB 11, Sp. 2793]. für die Ihre spitzbübische Aufmunterungwohl in dem nicht überlieferten Brief Karl Henckells an Pacifico Valabrega vom 6.8.1887. zu einem kleinen Idyll mit einer gräflichen Germanin. Eine Germanin, das mag hingehen, aber eine gräfliche, potz Kraut und Rüben, nicht! Glauben Sie denn ich sei in dieser Richtung ein solcher Hungerleider daß ich zur ersten besten aristocratischen Speise zutappen„ungeschickt oder blindlings greifen“ [DWB 21, Sp. 140], „grob wie ein tappendes thier auf etwas zugreifen“ [DWB 32, Sp. 858]. müßte? Es warten auf mich daheim solche feine, ob auch nicht gräfliche, Gerichte, die ich hie und da schon angekostet habe, daß ich furchtbar heikel zu befriedigen bin.

Ein Idyll! Mit diesen langbeinigen Comtessenunverheiratete Gräfinnen., die zweimal so hoch sind wie ich, sodaß wenn ich sie küssen sollte, eine Leiter brauchen würde!

Nein, der kleine Gottder römische Gott Amor oder Cupido, der Gott des Sichverliebens, der als Knabe dargestellt wird. ist mein bester Freund und hat mir keinen üblen Spaß gemacht. Wir kichern miteinander über die semmelblonden Locken der langhalsigen, langwierigen, langbeinigen Gräfinnen.

Freilich packt mich manchmal eine wilde Sehnsucht nach meinen italienischen Kußmündchen, deren glühender Purpur meine Träume röthlich färbt und mir manches wonnig-schmerzliches Alp|drücken verursacht. Aber nur noch einen Monat und ich will sie bleich küssen, meine brennenden Kußmündchen!

Ja, am 15ten November ziehe ich heim, und da mein Weg mich durch Zürich führt, werde ich euch, falls ihr euch daselbst aufhaltet, besuchen, und euch das Merkwürdige meiner Erlebnisse mündlich berichten.

Meine UebersetzungPacifico Valabrega hatte für Conrad Ferdinand Meyer die Erzählung „Die Hochzeit des Mönchs“ ins Italienische übersetzt, die 1887 bei Hoepli in Mailand unter dem Titel „Le nozze del monaco“ erschien. Conrad Ferdinand Meyer schrieb am 15.5.1887 in einem Brief an Hermann Haessel: „Valabrega war hier […] Der Mönch ist bei Hoeplin erschienen, nach Valabrega’s Versicherung, ‚illustrirt.‘ Ich erwarte mein Exemplar.“ [Conrad Ferdinand Meyer: Briefwechsel. Band 4.5. Verlagskorrespondenz. Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Hermann Haessel mit zugehörigen Briefwechseln und Verlagsdokumenten. Briefe 1886 bis 1887. Hg. von Stephan Landshuter, Wolfgang Lukas, Elisabeth Rickenbacher, Rosmarie Zeller und Matthias Osthof † (philologische Datenverarbeitung), unter Mitarbeit von Sandra Feten. Göttingen 2019, S. 97]. Tatsächlich verzögerte sich die Publikation jedoch bis zum Herbst. Am 6.10.1887 schrieb Pacifico Valabrega an Conrad Ferdinand Meyer: „Herr Höpli schreibt mir, er habe Ihnen endlich einige Exemplare Ihres ‚Mönchs‘ gesendet. Es war ja die höchste Zeit! Als ich im Mai die Ehre hatte Sie zu besuchen, sagte ich Ihnen, auf das Versprechen Herrn Höpli’s, das Buch würde in einigen Tagen erschienen sein. Ich weiß nicht ob Sie […] die Gründe erfahren haben, die diese mehrmonatliche Verspätung verursacht. Ich selbst bin darüber vollständig im Dunkeln; da der Druck ja im Mai schon fertig war.“ [Ebd., S. 217] Später übersetzte Valabrega auch Meyers Erzählung „Die Versuchung des Pescara“ [vgl. ebd., S. 218], die 1890 erschien. des m/M/ei/y/er’schen Buches ist endlich erschienen und der Verfasser hat mir einen schmeichlerischen BriefDer Brief Conrad Ferdinand Meyers an Pacifico Valabrega und die im Folgenden genannten Korrespondenzen von und an Leopold Jacoby sind nicht überliefert. geschrieben, durch welchen ich zu einem neuen BesuchDas Datum des zweiten Besuchs (nach dem Treffen vom Mai; s. o.) bei Conrad Ferdinand Meyer in seinem Haus in Kilchberg am Westufer des Zürichsees ist nicht ermittelt. Karl Henckell berichtete rückblickend: „Es war an einem herrlichen Sommernachmittage gegen Ende der achtziger Jahre, als ich mit einem jungen Mailänder, Pacifico Valabrega, der die ‚Hochzeit des Mönchs‘ ins Italienische übersetzt hatte, den Dichter zuerst besuchte“ [Karl Henckell: Deutsche Dichter seit Heinrich Heine. Ein Streifzug durch fünfzig Jahre Lyrik. Berlin 1906, S. 69]. nach Kilchberg engagirt worb/d/en bin.

Herr Jacoby hat mir in seinen letzten Brief mitgetheilt er habe einen Brief von Ihnen, HerrnSchreibversehen, statt: Herr. Henckell, erhalten; was ihn sehr erfreut hat.

Also auf baldiges Wiedersehen! Bis dahin verbleibe ich mit bestem Gruß
I/E/uer P. Valabrega


P. S. Beim Wiederlesen des Briefes merke ich daß ich die Fürwörter ersterzweiter u. dritter Person aufs dümmste verwechselt habegemeint ist die vertrauliche Verwendung von ‚euch‘ und ‚eueren‘, statt ‚Sie‘ bzw. ‚Ihnen‘ und ‚Ihren‘.. Ich bitte tausendmal um Verzeihung! und um gütige Nachsicht!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 5 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt + Einzelblatt. Seitenmaß 14,5 x 22,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Schloss Krähberg
    14. Oktober 1887 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Schloss Krähberg (Beerfelden)
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Zürich
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Staatsarchiv des Kantons Aargau

Entfelderstrasse 22
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Karl Henckell
Signatur des Dokuments:
NLA-0075/0013
Standort:
Staatsarchiv des Kantons Aargau (Aarau)

Danksagung

Wir danken dem Staatsarchiv des Kantons Aargau (Aarau) für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Pacifico Valabrega an Frank Wedekind, Karl Henckell, 14.10.1887. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

23.08.2024 13:51