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Kennung: 5340

München, 12. März 1885 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

München, März 1885


Liebe Mama.

Du weißt wol schon daß ich Papa geschriebenvgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 19.2.1885. habe, daß er uns verziehHinweis auf ein nicht überliefertes Antwortschreiben des Vaters; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 22.2.1885., und mein nächster Brief soll ihm unseren herzinnigsten Dank dafür melden. Du zürnst unsDies hatte Erika Wedekind in ihrem letzten Brief bemerkt [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 8.3.1885]., weil wir so lange nichts haben von uns hören lassenFrank und Armin Wedekind verbrachten ein gemeinsames Studiensemester in München und wohnten zusammen in der Türkenstraße 30 im 1. Stock. [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78]., aber Armin ist wirklich gar zu sehr durch seine Collegiendie Vorlesungen an der Universität; Armin Wedekind studierte Medizin. in Anspruch genommen; und ich – ich muß mich selber anklagen: ich war zu lässig; oft hab’ ich zwar von euch allen geträumt, habe voll Sehnsucht an euch gedacht, aber ohne daran zu denken, daß Ihr eben von di/so/lchem Denken nichts habt, und daß wir Dir auf all | Deine liebevollen erquickenden Briefe mindestens eine dankende Antwort schulden. Auf dem reizenden Bilde, das du Armin zum GeburtstagArmin Wedekind hatte am 29.1.1885 seinen 22. Geburtstag; das Schreiben der Mutter mit der beigelegten Photographie von Wedekinds Schwestern ist nicht überliefert. sandtest erkannte ich auf den ersten Blick nicht nur zwei, sondern drei Figuren, nämlich erstens, und vor allem Dich, liebe Mama, in zweiter Linie Mieze und Mati. Meiner PhanthasieSchreibversehen, statt: Phantasie. ließ ich dabei durchaus keinen zu freien Spielraum: Matis tiefe Züge mit dem reichen dunkeln Haar, von süßen seelenvollen Augen belebt, sind dir so frappant aus dem Antlitz geschnitten, daß es nur noch Miezes energischer und doch so gütiger KugheitSchreibversehen, statt: Klugheit. bedarf, um mit Deiner Erscheinung auch Dein inneres Wesen zu vereinigen. Aber all’ das hast Du selbst ja gewiß sofort bemerkt und von jedermann gehört, der die hübsche Photographie gesehen. Was du mir | vor einem MonatDer Brief lag bereits sechs Wochen zurück [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885]. über den Kantonsschülerabend in Aarau schriebst hat mich sehr interessirt und von Herzen gefreut. Erinnerte es mich doch an einen der bewegtesten MomenteBeim ersten Fest der Kantonsschüler am 1.2.1884 hatte Frank Wedekind den „Prolog zur Abendunterhaltung“ [KSA 1/I, S. 114-117] verfasst und vorgetragen, der anschließend auch gedruckt wurde [vgl. KSA 1/II, S. 1983f.]. meiner Vergangenheit; und wer will es mir verdenken, daß ich auch heute noch mit Wohlgefallen auf den Augenblick zurückschaue, da meine g/h/eiß geliebte Jungfer m/M/use, die durch ihren Leichtsinn mir und andern schon so manchen herben Kummer bereitet – da sie ihren ersten schönen Triumph feierte. Nenn’ du es Eitelkeit, daß ich noch nach einem Jahre, da längst andere Sterne am Firmamente strahlen, bei dieser Gelegenheit zuerst an mich denke; ich aber fühle darin den Stachel zu ernsterem Streben und deut’ es mir als glückverheißendes Omen für spätere Zeiten.

An den Programmen der FestlichkeitDie (nicht überlieferten) Programme hatte Emilie Wedekind ihrem letzten Brief beigelegt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885]. hatten meine hiesigen Aarauer Freunde viel Vergnügen, und Deine eingehende | Kritik mahnte mich daran, daß ich selber in die hübsche Elsa von Brabantdie weibliche Rolle in Richard Wagners Oper „Lohengrin“ (1850), die beim Kantonsschülerfest in Aarau am 30.1.1885 vom Turnverein aufgeführt worden war. dereinst beinah verliebt gewesen bin. Victor Jahns Prologabgedruckt bei Hans Kaeslin: Schülerabend-Prologe. In: Aargauer Neujahrsblätter, Jg. 18, 1944, S. 32-34. hab’ ich mit freudiger Bewunderung gelesen. Es stehen einige ganz vorzügliche efectvolleSchreibversehen, statt: effectvolle. Witze darin; nur etwas begreif’ ich nicht, etwas ganz formelles, wie man nämlich zu einem declamatorischen Vortrag ein so holperiges, knittliges Versmaß wählen kann. Tante Plümachers Erz amerikanische ErzählungDie Publikation ließ sich nicht ermitteln. Ende Dezember hatte Olga Plümacher Wedekind ein „Büchlein“ [Olga Plümacher an Wedekind, 21.12.1884] von Hieronymus Lorm übersandt, das hier auch gemeint sein könnte. hab’ ich mit großen InteresseSchreibversehen, statt: großem Interesse. gelesen. Schade, daß der liederliche Druck sie einigermaßen entstellte. Armin wird sie Dir wiederbringen mit meinem besten Danke wenn er zu Euch zurückkehrtArmin Wedekind wechselte für sein Medizinstudium zum Sommersemester an die Universität Zürich.. – Donald gratulir ich von Herzen zu seinem ersten BühnenerlebnißDonald Wedekinds ersten Bühnenauftritt hatte die Mutter in ihrem letzten Brief für Ende Februar angekündigt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885]. und Mati wünsch’ ich Glück zu ihrer ApotheoseVerherrlichung. der lieben, weißen Pusiwohl Emilie (Mati) Wedekinds Katze.. Das ist | ein liebliches Idyll, zu dem ich gerne auch einen poetischen Erguß beisteuern würde, wenn es mir möglich wäre. Aber – ich weiß es mir kaum zu erklären – seit ich die schöne Heimat verlassen, verließ mich die Poesie; hier in München ist mir noch kein einziger VersDas erste überlieferte, titellose Gedicht aus der Münchner Zeit Wedekinds stammt vom 18.4.1885 und beginnt mit den Worten: „Wie gern verzicht’ ich auf den Ruhm der Welt“ [KSA 1/I, S. 190]. geglückt, und dennoch sehn’ ich mich oft recht innig nach der treulosen Göttin, der holden Gefährtin meiner Jugend, und hoffe alsdann, sie möge ihr Unrecht bald einsehen und trostbringend zu mir zurückkehren. – Das LorleTitel der ersten Abteilung – ein ländliches Gemälde in 2 Akten – von Charlotte Birch-Pfeiffers Schauspiel „Dorf und Stadt“ (1847), das vom Laienspieltheater in Lenzburg 1885 aufgeführt wurde [vgl. Emil Saxer: Lenzburg. In: F. A. Stocker: Das Volkstheater in der Schweiz. 3. Aufl. Aarau 1893, S. 123-128]. Emilie Wedekind besuchte mit Erika und Donald die Vorstellung am 5.3.1885 [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 8.3.1885]. habt ihr nun wol bereits gesehen und Frau OschwaldFanny Oschwald, die Schwester von Bertha Jahn, war nicht nur Laienschauspielerin, sondern verfasste auch Mundart-Dramen und -Erzählungen. Erika Wedekind heiratete 1898 ihren Sohn Walter Oschwald. als BärbeleDie Rolle der Bärbel ist neben Lorle die zweite weibliche Rolle in „Das Lorle“ (s. o.). darin. Ich bin sehr gespannt, was Du mir über die Aufführung schreiben wirst. Maria Stuart und Elisabethdie Hauptrollen in Friedrich Schillers „Maria Stuart“ (1800) und Heinrich Laubes „Graf Essex“ (1856), den Stücken, die das Laienspieltheater 1876 und 1884 aufgeführt hatte [vgl. Emil Saxer: Lenzburg. In: Franz August Stocker: Das Volkstheater in der Schweiz. 3. Aufl. Aarau 1893, S. 127]. waren doch eigentlich beide, trotz ihrer Verschiedenheit im Charakter, hohe ideale Figuren, in denen die Darstellerin mehr oder weniger doch nur sich selbst und ihr eigenes hoch|poetisches Wesen spielte. Wenn Frau Oschwald als solche in der Maria Stuart zur ihrer herrlichsten Entfaltung kam, wenn sie in Essex die Königin Elisabeth durch erhebenden Idealismus besiegte, so wird sie, als treffliche Schauspielerin, dem Bärbele wol vollständig unterli/legen sein, und meine jugendfrische Schwärmerei wagt sehr daran zu zweifeln, ob eine larmoyante Birch-Pfeiffereiabfällige Bezeichnung für die Dramatisierung literarischer Vorlagen durch die Theaterschriftstellerin und Schauspielerin Charlotte Birch-Pfeiffer: „Birchpfeifferei ist unter den Stylarten des modernen deutschen Dramas die Manier, eine Wurst so voll zu stopfen, daß man in jedem Augenblicke mit Spannung ihrem Platzen entgegensieht; Birchpfeifferei ist die Kunst, einen dicken, dreibändigen Bulwerschen Roman in einen einzigen Darm hineinzuquetschen und dem Zuschauer dies Stück Arbeit bis auf den letzten Zipfel, wo das Querhölzchen sitzt, in den Hals zu jagen, dergestalt, daß ihm mindestens der Athem, wo nicht alle Sinne vergehen.“ [Gustav Kühne: Dramatisch und Theatralisch. In: Die Grenzboten, Jg. 3, 1. Semester, 1844, S. 113] solch’ großer Opfer an geistigen wie an körperlichen Reizen würdig sei. – Von der vielen Juristerei, die ich hier zu hören bekomme, wird Dich wol wenig interessiren; um so mehr aber vielleicht das Wenige, das ich Dir von den Münchner Bühnen zu erzählen weiß. Ich sah Frau Clara ZieglerDie ehemalige Münchner Hofschauspielerin (1868 bis 1874) war regelmäßig auf den Münchner Bühnen zu Gast. und sehe sie noch, obwol schon bald zwei Monate verflossen sind, seit sie zum letzten Male auftratWie aus den Theaterzetteln hervorgeht, trat Clara Ziegler vor Wedekinds Brief zuletzt am 14.2.1885 am Hoftheater in der Titelrolle von Julius Leopold Kleins „Zenobia“ (1884) auf.. Aber ihr Spiel ist so übermenschlich, so dämonisch, daß | es den Zuschauer fesseln muß und ihn in seinem Zauber gefangen hält, bis ihm etwas noch gewaltigeres vor die Sinne tritSchreibversehen, statt: tritt.. Clara Ziegler ist eine Münchner Färberstochter und heiratheteClara Ziegler heiratete ihren einstigen Schauspiellehrer, den Hofschauspieler Adolf Christen am 11.8.1876. aus Dankbarkeit ihren Lehrer, den Schauspieler Kristen. In den hiesigen Anlagen hat sie ein wahres Juwel von einer Villain der Königinstraße 25 [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil I, S. 74] am Englischen Garten. in antikem Stil, deren hohe Fenster durch leichte Gardinen verhängt sind; aber zwischendurch erblickt man in der Mitte des Zimmers die lorbeerbekränzte Büste Schillers, der seinem Evangelium wol kaum eine höhere Priesterin, als die Ziegler, erwählen konnte. Leider sah ich sie in keinem seiner Stücke, dafür jedoch in der ganzen Grillparzerschen Trilogie des goldenen VließesClara Ziegler trat in Grillparzers Trilogie „Das goldene Vließ“ (1821) als Gast am 21.1.1885 in den ersten beiden Teilen „Der Gastfreund“ und „Die Argonauten“ sowie am 24.1.1885 im dritten Teil „Medea“ am Münchner Hoftheater auf. Die Presse berichtete: „Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit Frau Clara Ziegler von unserer Hofbühne geschieden ist. Die Erinnerung an ihr künstlerisches Wirken blieb aber unvergessen, ja beschäftigte fortdauernd die weiteren, theaterliebenden Kreise, so daß man fast von einem Ziegler-Mythus sprechen könnte. Nun, der Mythus hat sich wieder in Wirklichkeit umgesetzt: Clara Ziegler ist gestern, einen Cyklus von Gastrollen beginnend, in den ersten zwei Abtheilungen des ‚Goldenen Vließes‘ von Grillparzer als Medea an unserer Hofbühne aufgetreten. Wie treu die Sympathien des Münchner Publicums der berühmten Heroine ein Decennium hindurch geblieben sind, bekundete der erste Moment nach dem Aufgehen des Vorhangs: allgemeiner Beifall begrüßte sie, und Lorbeerkränze wie Bouquets fielen zu ihren Füßen nieder.“ [Allgemeine Zeitung, Nr. 23, 23.1.1885, 2. Beilage, S. 1] . Was mich zuerst an ihr überraschte, war ihre imposante Erscheinung und das herrliche Organ. Wie das wilde, sorglose junge Mädchen zur schuldbeladenen Frau, zur liebenden Zauberin, zur unglücklich Verstoßenen und endlich zur ver|zweifelnden Mörderin an ihren Kindern wurde gab sie mit überwältigender Leidenschaftlichkeit, der sie auch jeden Zwang in Gesten und Gebärden zum Opfer brachte. Ihre Elisabeth in EssexDie Aufführung von Heinrich Laubes „Graf Essex“ (1856) mit Clara Ziegler als Gast in der Rolle der Elisabeth fand am 26.1.1885 statt. war natürlich sehr realistisch, ganz im Gegensatz zu Frau Oschwald, mehr Weib als Königin und mehr Satan als Weib, wogegen sie in Geibels BrunhildeDie Aufführung von Emanuel Geibels Tragödie „Brunhild“ (1857) mit Clara Ziegler in der Titelrolle fand am 31.1.1885 statt. den Gegensatz zwischen weiblicher Schwäche und megärenhafterwie eine böse, Schrecken verbreitende Frau. Wildheit in krassester Weise zum Ausdruck brachte. – Mit der Oper wußte ich mich anfangs nicht recht abzufinden, aber nach und nach geht es schon besser. Wir sahen schon vor Weihnachten die NormaDie letzte Aufführung von Vincenzo Bellinis Oper „Norma“ (1831) am Königlichen Hof- und National-Theater München vor Weihnachten fand am 21.11.1884 statt., wobei mir euer Abenteuer mit den beiden KindernAnspielung auf eine Begebenheit, die die Mutter in ihren Jugenderinnerungen „Für meine Kinder“ schilderte. Als sie gemeinsam mit ihrer Schwester Sofie Kammerer in Guyaquil (Ecuador) Ende 1858 mit Opernarien auftrat, gaben sie „unter Anderm die Scene mit dem folgenden Duett aus Norma […], in dem sie die in einer Höhle verborgenen Kinder ermorden will, wovon sie aber durch Adalgisas Bitten zurück gehalten wird. Adalgisa reißt die schlafenden Kinder von ihrem Lager empor und läßt sie vor ihrer Mutter niederknien, während sie sie durch ihre Bitten zu erweichen sucht. Sie fleht ihr Erbarmen an für die Unschuldigen und erreicht ihren Zweck. / Zu dieser Scene nahm man zwei Kinder des Maschinisten, die gerade das richtige Alter hatten. An dem Abend aber lagen sie an den Masern erkrankt zu Bett und konnten natürlich nicht mitspielen. Was nun thun?! Man sucht nach andern Kindern. Man findet nichts passendes. Endlich bringt man uns zwei kleine Negerjungen mit schwarzen Wollköpfen. Die Zeit drängte. Das Publikum war ungeduldig. So streicht man die beiden Kerlchen mit dicker weißer Schminke an, zieht ihnen die Trikots und weißen Hemden an und legt sie auf das, im Hintergrund der Höhle stehende mit Fellen bedeckte Lager. Norma singt ihre Arie –, zückt ihren Dolch u. schreitet mit entschlossenen Theaterschritten auf die schlafenden Kinder zu […]. Nun reißt Adalgisa die Kleinen aus dem Schlaf u. schleppt sie vor die Mutter. Da entsteht aber im Publikum ein solch dröhnendes Gelächter, daß wir uns entsetzt anschauten und ich nicht weiter singen konnte. Dann entdeckten wir, daß die Gesichter unserer beiden Würmer nur auf derjenigen Seite den weißen Anstrich beibehalten hatten, mit welcher sie ihr Lager nicht berührten. Die andere Seite aber hatte durch das Liegen den Anstrich verloren und schien in seiner ganzen ursprünglichen Schwärze, so daß die Kinder – halb weiß – halb schwarz – den wunderlichsten und lächerlichsten Anblick darboten.“ [Becker 2003, S. 91] einfiel. Erst kürzlich wurde der Troubadur gegebenGiuseppe Verdis Oper „Der Troubadour“ (1853) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 24.2.1885 gespielt., aber Deine Rolle war sehr schlecht besetztIn dem in Emilie Wedekinds Jugenderinnerungen „Für meine Kinder“ angegebenen Programm eines Auftritts in Guyaquil (Ecuador) Ende 1858 finden sich die Programmpunkte „Scene und Terzett aus Trovator“ und „Scene und Duett aus Trovator“ [Becker 2003, S. 91]. Emilie Wedekind muss damals die Rolle der Zigeunerin Azucena gesungen haben, denn deren Besetzung kritisierte Heinrich Welti in seiner Kritik der Münchner Aufführung vom 24.2.1885: „Das war eine mäßige Aufführung von Verdi`s ‚Troubadour‘! Die Hauptschuld daran liegt […] an dem Gast Frl. Bleiter, welche sich der Rolle der Azucena durchaus nicht gewachsen zeigte […] ihre Stimme entbehrt zur Stunde so sehr jeder Klangfülle und Schönheit, ihr Organ tönt gegenwärtig so hohl und leer […], daß auch die am besten gelungenen Theile ihrer Rolle wenig Genuß bereiten konnten.“ [Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 38, Nr. 57, 25.2.1885, 1. Blatt, S. 3] und wurde um ein Haar ausgepfiffen. Am besten gefielen mir die MozhartschenSchreibversehen, statt: Mozartschen. Opern, FigaroAufführungen von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ (1786) fanden am Königlichen Hof- und National-Theater München zuletzt am 11.12.1884 und 29.1.1885 statt. und Don JuanAufführungen von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Don Juan“ (1787) am Königlichen Hof- und National-Theater München fanden zuletzt am 5.2.1885 und 26.2.1885 statt.. | Aber auch an den reizenden Werken Lorzings, UndineAlbert Lortzings Oper „Undine“ (1845) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München zuletzt am 11.1.1885 gegeben. und WaffenschmiedAlbert Lortzings Oper „Der Waffenschmied“ (1846) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 27.1.1885 und 4.3.1885 gegeben., fand ich großen Geschmack und am FreischützCarl Maria von Webers romantische Oper „Der Freischütz“ (1821) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 3.12.1884, 30.1.1885 und 7.3.1885 gegeben. und Kreuzers Nachtlager v GranadaConradin Kreutzers Oper „Das Nachtlager von Granada“ (1834) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 11.2.1885 gegeben.. Am schwersten verständlich ist mir f natürlich Wagner. Seine Meistersinger v. NürnbergRichard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München zuletzt am 14.12.1884 gegeben. verließ ich mit dem Bewußtsein, mich unsterblich gelangweilt zu haben. RienziRichard Wagners Oper „Rienzi“ (1842) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 30.11.1884 und am 22.2.1885 gegeben [vgl. dazu Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.4.1885]. machte mir keinen besonderen Eindruck aber TannhäuserVon Richard Wagners Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Große romantische Oper in drei Akten“ (Dresden 1845) hatte Wedekind das Textbuch gelesen [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 20.1.1884]. Gelegenheit, eine Aufführung der Oper am Königlichen Hof- und National-Theater München zu besuchen, hatte er am 6.1.1885., LohengrinRichard Wagners Oper „Lohengrin“ (1850) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 22.1.1885 gegeben. und der fliegende HolländerRichard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“ (1843) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 19.2.1885 gegeben. brachten mich schließlich auf die richtige Spur, so daß ich gestern Abend in der WalküreWedekind besuchte am 11.3.1885 Richard Wagners Oper „Die Walküre“ (1870) am Königlichen Hof- und National-Theater München. in ununterbrochener Spannung erhalten wurde. Allerdings ist auch der Stoff dieser Oper von ergreifender Tragik und dabei wurde von allen Betheiligten aufs Beste gesungen. –

Die schönen Frühlingstage sind hier jetzt einem garstigen, stürmischen Regenwetter gewichen, das hoffentlich nicht lange anhalten wird. Gottlob | sind wir beide ganz wohl und auch Ihr scheint ja den Winter glücklich überstanden zu haben. Tausend herzliche Grüße von Armin und mir an Euch alle zusammen, vor allem an dich, liebe, gute Mama. Verzeih uns unser langes Schweigen, da wir es ja doch nicht recht entschuldigen können. Dafür will ich mir Mühe geben, daß es nicht wieder vorkommt und verbleibe derweilen Dein treuer Sohn Franklin. –

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. 2 Doppelblatt + 1 Einzelblatt. Seitenmaß 14 x 22,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 4 ist am linke Seitenrand eine Markierung mit rotem Buntstift (von „Victor Jahns“ bis „wählen kann.“) ausgeführt. Das zweite Doppelblatt ist auf Seite 5 oben rechts mit „II.“, das Einzelblatt auf Seite 7 mit „III.“ nummeriert (hier nicht wiedergegeben).

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 12.3.1885 ist als Ankerdatum gesetzt – das wahrscheinliche Schreibdatum. Erika Wedekind hatte sich Anfang des Monats beschwert, dass Frank Wedekind lange nicht geschrieben hat [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 8.3.1885], so dass sein Brief erst danach entstand. Die von Wedekind erwähnte Aufführung von „Die Walküre“ in München am Vortag war demnach die Vorstellung vom 11.3.1885, woraus sich das Schreibdatum ergibt.

  • Schreibort

    München
    12. März 1885 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
87-91
Briefnummer:
25
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 74-78 (Nr. 29).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.3.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

15.08.2024 16:33
Kennung: 5340

München, 12. März 1885 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie
 
 

Inhalt

München, März 1885


Liebe Mama.

Du weißt wol schon daß ich Papa geschriebenvgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 19.2.1885. habe, daß er uns verziehHinweis auf ein nicht überliefertes Antwortschreiben des Vaters; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 22.2.1885., und mein nächster Brief soll ihm unseren herzinnigsten Dank dafür melden. Du zürnst unsDies hatte Erika Wedekind in ihrem letzten Brief bemerkt [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 8.3.1885]., weil wir so lange nichts haben von uns hören lassenFrank und Armin Wedekind verbrachten ein gemeinsames Studiensemester in München und wohnten zusammen in der Türkenstraße 30 im 1. Stock. [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78]., aber Armin ist wirklich gar zu sehr durch seine Collegiendie Vorlesungen an der Universität; Armin Wedekind studierte Medizin. in Anspruch genommen; und ich – ich muß mich selber anklagen: ich war zu lässig; oft hab’ ich zwar von euch allen geträumt, habe voll Sehnsucht an euch gedacht, aber ohne daran zu denken, daß Ihr eben von di/so/lchem Denken nichts habt, und daß wir Dir auf all | Deine liebevollen erquickenden Briefe mindestens eine dankende Antwort schulden. Auf dem reizenden Bilde, das du Armin zum GeburtstagArmin Wedekind hatte am 29.1.1885 seinen 22. Geburtstag; das Schreiben der Mutter mit der beigelegten Photographie von Wedekinds Schwestern ist nicht überliefert. sandtest erkannte ich auf den ersten Blick nicht nur zwei, sondern drei Figuren, nämlich erstens, und vor allem Dich, liebe Mama, in zweiter Linie Mieze und Mati. Meiner PhanthasieSchreibversehen, statt: Phantasie. ließ ich dabei durchaus keinen zu freien Spielraum: Matis tiefe Züge mit dem reichen dunkeln Haar, von süßen seelenvollen Augen belebt, sind dir so frappant aus dem Antlitz geschnitten, daß es nur noch Miezes energischer und doch so gütiger KugheitSchreibversehen, statt: Klugheit. bedarf, um mit Deiner Erscheinung auch Dein inneres Wesen zu vereinigen. Aber all’ das hast Du selbst ja gewiß sofort bemerkt und von jedermann gehört, der die hübsche Photographie gesehen. Was du mir | vor einem MonatDer Brief lag bereits sechs Wochen zurück [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885]. über den Kantonsschülerabend in Aarau schriebst hat mich sehr interessirt und von Herzen gefreut. Erinnerte es mich doch an einen der bewegtesten MomenteBeim ersten Fest der Kantonsschüler am 1.2.1884 hatte Frank Wedekind den „Prolog zur Abendunterhaltung“ [KSA 1/I, S. 114-117] verfasst und vorgetragen, der anschließend auch gedruckt wurde [vgl. KSA 1/II, S. 1983f.]. meiner Vergangenheit; und wer will es mir verdenken, daß ich auch heute noch mit Wohlgefallen auf den Augenblick zurückschaue, da meine g/h/eiß geliebte Jungfer m/M/use, die durch ihren Leichtsinn mir und andern schon so manchen herben Kummer bereitet – da sie ihren ersten schönen Triumph feierte. Nenn’ du es Eitelkeit, daß ich noch nach einem Jahre, da längst andere Sterne am Firmamente strahlen, bei dieser Gelegenheit zuerst an mich denke; ich aber fühle darin den Stachel zu ernsterem Streben und deut’ es mir als glückverheißendes Omen für spätere Zeiten.

An den Programmen der FestlichkeitDie (nicht überlieferten) Programme hatte Emilie Wedekind ihrem letzten Brief beigelegt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885]. hatten meine hiesigen Aarauer Freunde viel Vergnügen, und Deine eingehende | Kritik mahnte mich daran, daß ich selber in die hübsche Elsa von Brabantdie weibliche Rolle in Richard Wagners Oper „Lohengrin“ (1850), die beim Kantonsschülerfest in Aarau am 30.1.1885 vom Turnverein aufgeführt worden war. dereinst beinah verliebt gewesen bin. Victor Jahns Prologabgedruckt bei Hans Kaeslin: Schülerabend-Prologe. In: Aargauer Neujahrsblätter, Jg. 18, 1944, S. 32-34. hab’ ich mit freudiger Bewunderung gelesen. Es stehen einige ganz vorzügliche efectvolleSchreibversehen, statt: effectvolle. Witze darin; nur etwas begreif’ ich nicht, etwas ganz formelles, wie man nämlich zu einem declamatorischen Vortrag ein so holperiges, knittliges Versmaß wählen kann. Tante Plümachers Erz amerikanische ErzählungDie Publikation ließ sich nicht ermitteln. Ende Dezember hatte Olga Plümacher Wedekind ein „Büchlein“ [Olga Plümacher an Wedekind, 21.12.1884] von Hieronymus Lorm übersandt, das hier auch gemeint sein könnte. hab’ ich mit großen InteresseSchreibversehen, statt: großem Interesse. gelesen. Schade, daß der liederliche Druck sie einigermaßen entstellte. Armin wird sie Dir wiederbringen mit meinem besten Danke wenn er zu Euch zurückkehrtArmin Wedekind wechselte für sein Medizinstudium zum Sommersemester an die Universität Zürich.. – Donald gratulir ich von Herzen zu seinem ersten BühnenerlebnißDonald Wedekinds ersten Bühnenauftritt hatte die Mutter in ihrem letzten Brief für Ende Februar angekündigt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885]. und Mati wünsch’ ich Glück zu ihrer ApotheoseVerherrlichung. der lieben, weißen Pusiwohl Emilie (Mati) Wedekinds Katze.. Das ist | ein liebliches Idyll, zu dem ich gerne auch einen poetischen Erguß beisteuern würde, wenn es mir möglich wäre. Aber – ich weiß es mir kaum zu erklären – seit ich die schöne Heimat verlassen, verließ mich die Poesie; hier in München ist mir noch kein einziger VersDas erste überlieferte, titellose Gedicht aus der Münchner Zeit Wedekinds stammt vom 18.4.1885 und beginnt mit den Worten: „Wie gern verzicht’ ich auf den Ruhm der Welt“ [KSA 1/I, S. 190]. geglückt, und dennoch sehn’ ich mich oft recht innig nach der treulosen Göttin, der holden Gefährtin meiner Jugend, und hoffe alsdann, sie möge ihr Unrecht bald einsehen und trostbringend zu mir zurückkehren. – Das LorleTitel der ersten Abteilung – ein ländliches Gemälde in 2 Akten – von Charlotte Birch-Pfeiffers Schauspiel „Dorf und Stadt“ (1847), das vom Laienspieltheater in Lenzburg 1885 aufgeführt wurde [vgl. Emil Saxer: Lenzburg. In: F. A. Stocker: Das Volkstheater in der Schweiz. 3. Aufl. Aarau 1893, S. 123-128]. Emilie Wedekind besuchte mit Erika und Donald die Vorstellung am 5.3.1885 [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 8.3.1885]. habt ihr nun wol bereits gesehen und Frau OschwaldFanny Oschwald, die Schwester von Bertha Jahn, war nicht nur Laienschauspielerin, sondern verfasste auch Mundart-Dramen und -Erzählungen. Erika Wedekind heiratete 1898 ihren Sohn Walter Oschwald. als BärbeleDie Rolle der Bärbel ist neben Lorle die zweite weibliche Rolle in „Das Lorle“ (s. o.). darin. Ich bin sehr gespannt, was Du mir über die Aufführung schreiben wirst. Maria Stuart und Elisabethdie Hauptrollen in Friedrich Schillers „Maria Stuart“ (1800) und Heinrich Laubes „Graf Essex“ (1856), den Stücken, die das Laienspieltheater 1876 und 1884 aufgeführt hatte [vgl. Emil Saxer: Lenzburg. In: Franz August Stocker: Das Volkstheater in der Schweiz. 3. Aufl. Aarau 1893, S. 127]. waren doch eigentlich beide, trotz ihrer Verschiedenheit im Charakter, hohe ideale Figuren, in denen die Darstellerin mehr oder weniger doch nur sich selbst und ihr eigenes hoch|poetisches Wesen spielte. Wenn Frau Oschwald als solche in der Maria Stuart zur ihrer herrlichsten Entfaltung kam, wenn sie in Essex die Königin Elisabeth durch erhebenden Idealismus besiegte, so wird sie, als treffliche Schauspielerin, dem Bärbele wol vollständig unterli/legen sein, und meine jugendfrische Schwärmerei wagt sehr daran zu zweifeln, ob eine larmoyante Birch-Pfeiffereiabfällige Bezeichnung für die Dramatisierung literarischer Vorlagen durch die Theaterschriftstellerin und Schauspielerin Charlotte Birch-Pfeiffer: „Birchpfeifferei ist unter den Stylarten des modernen deutschen Dramas die Manier, eine Wurst so voll zu stopfen, daß man in jedem Augenblicke mit Spannung ihrem Platzen entgegensieht; Birchpfeifferei ist die Kunst, einen dicken, dreibändigen Bulwerschen Roman in einen einzigen Darm hineinzuquetschen und dem Zuschauer dies Stück Arbeit bis auf den letzten Zipfel, wo das Querhölzchen sitzt, in den Hals zu jagen, dergestalt, daß ihm mindestens der Athem, wo nicht alle Sinne vergehen.“ [Gustav Kühne: Dramatisch und Theatralisch. In: Die Grenzboten, Jg. 3, 1. Semester, 1844, S. 113] solch’ großer Opfer an geistigen wie an körperlichen Reizen würdig sei. – Von der vielen Juristerei, die ich hier zu hören bekomme, wird Dich wol wenig interessiren; um so mehr aber vielleicht das Wenige, das ich Dir von den Münchner Bühnen zu erzählen weiß. Ich sah Frau Clara ZieglerDie ehemalige Münchner Hofschauspielerin (1868 bis 1874) war regelmäßig auf den Münchner Bühnen zu Gast. und sehe sie noch, obwol schon bald zwei Monate verflossen sind, seit sie zum letzten Male auftratWie aus den Theaterzetteln hervorgeht, trat Clara Ziegler vor Wedekinds Brief zuletzt am 14.2.1885 am Hoftheater in der Titelrolle von Julius Leopold Kleins „Zenobia“ (1884) auf.. Aber ihr Spiel ist so übermenschlich, so dämonisch, daß | es den Zuschauer fesseln muß und ihn in seinem Zauber gefangen hält, bis ihm etwas noch gewaltigeres vor die Sinne tritSchreibversehen, statt: tritt.. Clara Ziegler ist eine Münchner Färberstochter und heiratheteClara Ziegler heiratete ihren einstigen Schauspiellehrer, den Hofschauspieler Adolf Christen am 11.8.1876. aus Dankbarkeit ihren Lehrer, den Schauspieler Kristen. In den hiesigen Anlagen hat sie ein wahres Juwel von einer Villain der Königinstraße 25 [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil I, S. 74] am Englischen Garten. in antikem Stil, deren hohe Fenster durch leichte Gardinen verhängt sind; aber zwischendurch erblickt man in der Mitte des Zimmers die lorbeerbekränzte Büste Schillers, der seinem Evangelium wol kaum eine höhere Priesterin, als die Ziegler, erwählen konnte. Leider sah ich sie in keinem seiner Stücke, dafür jedoch in der ganzen Grillparzerschen Trilogie des goldenen VließesClara Ziegler trat in Grillparzers Trilogie „Das goldene Vließ“ (1821) als Gast am 21.1.1885 in den ersten beiden Teilen „Der Gastfreund“ und „Die Argonauten“ sowie am 24.1.1885 im dritten Teil „Medea“ am Münchner Hoftheater auf. Die Presse berichtete: „Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit Frau Clara Ziegler von unserer Hofbühne geschieden ist. Die Erinnerung an ihr künstlerisches Wirken blieb aber unvergessen, ja beschäftigte fortdauernd die weiteren, theaterliebenden Kreise, so daß man fast von einem Ziegler-Mythus sprechen könnte. Nun, der Mythus hat sich wieder in Wirklichkeit umgesetzt: Clara Ziegler ist gestern, einen Cyklus von Gastrollen beginnend, in den ersten zwei Abtheilungen des ‚Goldenen Vließes‘ von Grillparzer als Medea an unserer Hofbühne aufgetreten. Wie treu die Sympathien des Münchner Publicums der berühmten Heroine ein Decennium hindurch geblieben sind, bekundete der erste Moment nach dem Aufgehen des Vorhangs: allgemeiner Beifall begrüßte sie, und Lorbeerkränze wie Bouquets fielen zu ihren Füßen nieder.“ [Allgemeine Zeitung, Nr. 23, 23.1.1885, 2. Beilage, S. 1] . Was mich zuerst an ihr überraschte, war ihre imposante Erscheinung und das herrliche Organ. Wie das wilde, sorglose junge Mädchen zur schuldbeladenen Frau, zur liebenden Zauberin, zur unglücklich Verstoßenen und endlich zur ver|zweifelnden Mörderin an ihren Kindern wurde gab sie mit überwältigender Leidenschaftlichkeit, der sie auch jeden Zwang in Gesten und Gebärden zum Opfer brachte. Ihre Elisabeth in EssexDie Aufführung von Heinrich Laubes „Graf Essex“ (1856) mit Clara Ziegler als Gast in der Rolle der Elisabeth fand am 26.1.1885 statt. war natürlich sehr realistisch, ganz im Gegensatz zu Frau Oschwald, mehr Weib als Königin und mehr Satan als Weib, wogegen sie in Geibels BrunhildeDie Aufführung von Emanuel Geibels Tragödie „Brunhild“ (1857) mit Clara Ziegler in der Titelrolle fand am 31.1.1885 statt. den Gegensatz zwischen weiblicher Schwäche und megärenhafterwie eine böse, Schrecken verbreitende Frau. Wildheit in krassester Weise zum Ausdruck brachte. – Mit der Oper wußte ich mich anfangs nicht recht abzufinden, aber nach und nach geht es schon besser. Wir sahen schon vor Weihnachten die NormaDie letzte Aufführung von Vincenzo Bellinis Oper „Norma“ (1831) am Königlichen Hof- und National-Theater München vor Weihnachten fand am 21.11.1884 statt., wobei mir euer Abenteuer mit den beiden KindernAnspielung auf eine Begebenheit, die die Mutter in ihren Jugenderinnerungen „Für meine Kinder“ schilderte. Als sie gemeinsam mit ihrer Schwester Sofie Kammerer in Guyaquil (Ecuador) Ende 1858 mit Opernarien auftrat, gaben sie „unter Anderm die Scene mit dem folgenden Duett aus Norma […], in dem sie die in einer Höhle verborgenen Kinder ermorden will, wovon sie aber durch Adalgisas Bitten zurück gehalten wird. Adalgisa reißt die schlafenden Kinder von ihrem Lager empor und läßt sie vor ihrer Mutter niederknien, während sie sie durch ihre Bitten zu erweichen sucht. Sie fleht ihr Erbarmen an für die Unschuldigen und erreicht ihren Zweck. / Zu dieser Scene nahm man zwei Kinder des Maschinisten, die gerade das richtige Alter hatten. An dem Abend aber lagen sie an den Masern erkrankt zu Bett und konnten natürlich nicht mitspielen. Was nun thun?! Man sucht nach andern Kindern. Man findet nichts passendes. Endlich bringt man uns zwei kleine Negerjungen mit schwarzen Wollköpfen. Die Zeit drängte. Das Publikum war ungeduldig. So streicht man die beiden Kerlchen mit dicker weißer Schminke an, zieht ihnen die Trikots und weißen Hemden an und legt sie auf das, im Hintergrund der Höhle stehende mit Fellen bedeckte Lager. Norma singt ihre Arie –, zückt ihren Dolch u. schreitet mit entschlossenen Theaterschritten auf die schlafenden Kinder zu […]. Nun reißt Adalgisa die Kleinen aus dem Schlaf u. schleppt sie vor die Mutter. Da entsteht aber im Publikum ein solch dröhnendes Gelächter, daß wir uns entsetzt anschauten und ich nicht weiter singen konnte. Dann entdeckten wir, daß die Gesichter unserer beiden Würmer nur auf derjenigen Seite den weißen Anstrich beibehalten hatten, mit welcher sie ihr Lager nicht berührten. Die andere Seite aber hatte durch das Liegen den Anstrich verloren und schien in seiner ganzen ursprünglichen Schwärze, so daß die Kinder – halb weiß – halb schwarz – den wunderlichsten und lächerlichsten Anblick darboten.“ [Becker 2003, S. 91] einfiel. Erst kürzlich wurde der Troubadur gegebenGiuseppe Verdis Oper „Der Troubadour“ (1853) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 24.2.1885 gespielt., aber Deine Rolle war sehr schlecht besetztIn dem in Emilie Wedekinds Jugenderinnerungen „Für meine Kinder“ angegebenen Programm eines Auftritts in Guyaquil (Ecuador) Ende 1858 finden sich die Programmpunkte „Scene und Terzett aus Trovator“ und „Scene und Duett aus Trovator“ [Becker 2003, S. 91]. Emilie Wedekind muss damals die Rolle der Zigeunerin Azucena gesungen haben, denn deren Besetzung kritisierte Heinrich Welti in seiner Kritik der Münchner Aufführung vom 24.2.1885: „Das war eine mäßige Aufführung von Verdi`s ‚Troubadour‘! Die Hauptschuld daran liegt […] an dem Gast Frl. Bleiter, welche sich der Rolle der Azucena durchaus nicht gewachsen zeigte […] ihre Stimme entbehrt zur Stunde so sehr jeder Klangfülle und Schönheit, ihr Organ tönt gegenwärtig so hohl und leer […], daß auch die am besten gelungenen Theile ihrer Rolle wenig Genuß bereiten konnten.“ [Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 38, Nr. 57, 25.2.1885, 1. Blatt, S. 3] und wurde um ein Haar ausgepfiffen. Am besten gefielen mir die MozhartschenSchreibversehen, statt: Mozartschen. Opern, FigaroAufführungen von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ (1786) fanden am Königlichen Hof- und National-Theater München zuletzt am 11.12.1884 und 29.1.1885 statt. und Don JuanAufführungen von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Don Juan“ (1787) am Königlichen Hof- und National-Theater München fanden zuletzt am 5.2.1885 und 26.2.1885 statt.. | Aber auch an den reizenden Werken Lorzings, UndineAlbert Lortzings Oper „Undine“ (1845) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München zuletzt am 11.1.1885 gegeben. und WaffenschmiedAlbert Lortzings Oper „Der Waffenschmied“ (1846) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 27.1.1885 und 4.3.1885 gegeben., fand ich großen Geschmack und am FreischützCarl Maria von Webers romantische Oper „Der Freischütz“ (1821) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 3.12.1884, 30.1.1885 und 7.3.1885 gegeben. und Kreuzers Nachtlager v GranadaConradin Kreutzers Oper „Das Nachtlager von Granada“ (1834) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 11.2.1885 gegeben.. Am schwersten verständlich ist mir f natürlich Wagner. Seine Meistersinger v. NürnbergRichard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München zuletzt am 14.12.1884 gegeben. verließ ich mit dem Bewußtsein, mich unsterblich gelangweilt zu haben. RienziRichard Wagners Oper „Rienzi“ (1842) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 30.11.1884 und am 22.2.1885 gegeben [vgl. dazu Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.4.1885]. machte mir keinen besonderen Eindruck aber TannhäuserVon Richard Wagners Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Große romantische Oper in drei Akten“ (Dresden 1845) hatte Wedekind das Textbuch gelesen [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 20.1.1884]. Gelegenheit, eine Aufführung der Oper am Königlichen Hof- und National-Theater München zu besuchen, hatte er am 6.1.1885., LohengrinRichard Wagners Oper „Lohengrin“ (1850) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 22.1.1885 gegeben. und der fliegende HolländerRichard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“ (1843) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 19.2.1885 gegeben. brachten mich schließlich auf die richtige Spur, so daß ich gestern Abend in der WalküreWedekind besuchte am 11.3.1885 Richard Wagners Oper „Die Walküre“ (1870) am Königlichen Hof- und National-Theater München. in ununterbrochener Spannung erhalten wurde. Allerdings ist auch der Stoff dieser Oper von ergreifender Tragik und dabei wurde von allen Betheiligten aufs Beste gesungen. –

Die schönen Frühlingstage sind hier jetzt einem garstigen, stürmischen Regenwetter gewichen, das hoffentlich nicht lange anhalten wird. Gottlob | sind wir beide ganz wohl und auch Ihr scheint ja den Winter glücklich überstanden zu haben. Tausend herzliche Grüße von Armin und mir an Euch alle zusammen, vor allem an dich, liebe, gute Mama. Verzeih uns unser langes Schweigen, da wir es ja doch nicht recht entschuldigen können. Dafür will ich mir Mühe geben, daß es nicht wieder vorkommt und verbleibe derweilen Dein treuer Sohn Franklin. –

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. 2 Doppelblatt + 1 Einzelblatt. Seitenmaß 14 x 22,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 4 ist am linke Seitenrand eine Markierung mit rotem Buntstift (von „Victor Jahns“ bis „wählen kann.“) ausgeführt. Das zweite Doppelblatt ist auf Seite 5 oben rechts mit „II.“, das Einzelblatt auf Seite 7 mit „III.“ nummeriert (hier nicht wiedergegeben).

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 12.3.1885 ist als Ankerdatum gesetzt – das wahrscheinliche Schreibdatum. Erika Wedekind hatte sich Anfang des Monats beschwert, dass Frank Wedekind lange nicht geschrieben hat [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 8.3.1885], so dass sein Brief erst danach entstand. Die von Wedekind erwähnte Aufführung von „Die Walküre“ in München am Vortag war demnach die Vorstellung vom 11.3.1885, woraus sich das Schreibdatum ergibt.

  • Schreibort

    München
    12. März 1885 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
87-91
Briefnummer:
25
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 74-78 (Nr. 29).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.3.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

15.08.2024 16:33