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Kennung: 5320

Lenzburg, 10. Mai 1887 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Emilie

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Schloß Lenzburg am 10/V 87


Mein herzlich geliebter Baby.

Obgleich ich Wäsche, Flickereien und andere Quagneleien„QUACKELEI […] leichtsinnige tändelei, wertloses dummes zeug, mischmasch“ [DWB 13, Sp. 2290]. haufenweise um mich herum liegen u. stehen habe, kann ich dennoch nicht anders als Dir zu schreiben. Ich bin nemlich in einer argen Noth und Unruhe und Du bist die Ursache davon. Ich weiß, daß Du elend und muthlos bist. Ich möchte Dir helfen, ich muß Dir helfen und bitte Dich, es mir möglich zu machen. Du bist in Angst wegen Deiner NovelleWedekinds Novelle „Marianne. Eine Lebensgeschichte“ [KSA 5/I, S. 37-76]. Wann Wedekind das Manuskript seiner Mutter zur Lektüre übergeben hatte, ist unbekannt. Im Juni bot er die Novelle der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der „Thurgauer Zeitung“ zur Publikation an, erhielt jedoch von beiden Redaktionen eine Absage [vgl. Neue Zürcher Zeitung an Wedekind, 17.6.1887 und Thurgauer Zeitung an Wedekind, 20.6.1887].. Ich auch. Tausenderlei Gedanken durchkreuzen meinen Kopf und wenn Du da wärst, könnte ich Dir so manches mittheilen, was Dir sicherlich von Nutzen wäre. Je länger, desto klarer | fühle ich, was an der Novelle mangelt. Meiner Ansicht nach ist es die starke tiefe Leidenschaft und ein großer Charakter Gedanke, der ihr abgeht. Siehst Du, wenn Deine Marianne z. B. an ihrer Liebesbedürftigkeit zu Grunde ginge, so wäre das schon eine gros Idee, die jedenfalls wenig Leser kalt ließe. Sie liebt zuerst die Frau des Bauern. Diese stirbt unter der rohen Behandlung ihres Mannes, hinterläßt den Alois auf den Marianne ihre ganze Liebe überträgt und um dessen willen sie seinen Vater heirathet trotz ihrer Liebe zu Claus, der sie durch Schönheit, Jugend und heiße Gegenliebe fesselt. Gegen ihre wahre Neigung bringt sie sich selbst zum Opfer und zwar aus Dankbarkeit gegen die Bäurin und infolge dieser auch aus Liebe zu deren verlassenenSchreibversehen, statt: verlassenem. Kinde. | SistematischSchreibversehen, statt: Systematisch. wird aber Alois von seinem Vater verzogen, wird ein wiederwärtigerSchreibversehen, statt: widerwärtiger. liederlicher Bursche. Dann stirbt der Bauer, wie man allgemein meint, an/vo/n einem Pferde erschlagen. Der zurückgekehrte Klaus wirbt um Marianne, die unterdessen ihre Liebe auch an ihrer Schwester Vreneli bethägtSchreibversehen, statt: betätigt. hat, und ihr mit warmem Herzen zu ihrem ersehnten Glücke verhilft; Das Glück der jungen Leute weckt auch in Marianne zärtliche Regungen. Sie gibt Claus Gehör und heia/r/athet ihn, indem sie sich schmeichelt auch für Alois Gutes dadurch zu erreichen, indem sie ihm in dem tüchtigen, oft ernst, ja düster dareinblickenden Claus einen vortreffliches Vorbild und zur Noth, einen strengen Vater zu geben hofft. Bei dem von | Natur boshaften Alois schlägt alles fehl und eine Scene von Betrunkenheit führt einen Konflickt herbei, wori/be/i der Bursche seiner Mutter da/e/s Verbrechens beschuldigt, seinen Vater ermordet zu haben. Auf diese Weise und um seine Frau vor dem Gerichte zu rechtfertigen bekennt Claus, (auch wohl vom eigenen Gewissen und Wahnsinn der Verzweiflung getrieben) die blutige That und Marianne sieht ein, daß sie ihre heiße Liebe an einen/m/ Ver Mörder geschenkt hat. Sie kann ihn nach Ueberwindung des ersten Entsetzens dennoch nicht hassen, sondern sucht den zu lebenslänglichem Zuchthause Verurtheilten durch ihre treuen Beweise ihres tiefen Mitleidens und fortdauernder Liebe (schmerzlicher) im Gefängniße zu trösten. Indessen wird in der Umgegend allerlei Verdächtiges über sie gesprochen. Alois und seine Saufkumpane ver|läumden sie und letzterer erpreßt von ihr soviel Geld als er kann, unter dem VorwandeDie Bitte um Geld mit einer Selbstmorddrohung zu verbinden, war später ein wiederholt angewandtes Mittel Donald Wedekinds gegenüber seiner Familie [vgl. z. B. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1900]., er wolle sich sonst erhängen. Mit Freude sieht er das Entsetzen im Gesichte seiner Mutter und gebraucht diese Entdeckung zur Schraube, mit der er immer seinen Zweck erreicht. Bis endlich di Marianne einsieht, daß es auf diesem Wege nicht weiter gehen kann und der Junge ganz zu Grunde geht. Auch merkt sie nachgerade die List des jungen Wüstlings und als er wieder einmal droht, sagt sie ihm, „: Geh und thu es, es ist vielleicht besser als wenn Du Dich zu Tode säufst.[“] Alois weiß aber, daß seine Mutter ihn seit seinen Drohungen stets scharf beobachtet. Darauf rechnet er. Marianne bekommt aber plötzlich einen Brief von Vreneli deren Mann gestorben und bevor reist noch am Abend, während der Alois betrunken | auf seiner Kammer liegt in/pl/ötzlich ab. Am andern Morgen, kurz bevor die Mutter für gewöhnlich kommt, ihn zu wecken, hängt sich Alois auf, in der Hoffnung, sofort wieder abgeschnitten zu werden, was aber nicht passirt. Wieder ein sieht Marianne (oder glaubt zu sehen) daß ihre treue, aufopfernde Liebe Unheil gebracht hat. Die Gerüchte über ihre Schlechtigkeit vermehren sich. Die Leute zeihen sie der Hexerei und sagen, sie brauche nur zu wollen, dann hole der Teufel die Menschen, die ihr im Wege stehen. Jetzt sei auch der Sohn weg und nun bekomme sie das ganze viele Geld des Bauern. Sie steht vereinsamt, gemieden Kinder weichen ihr scheu aus und Niemand sucht die verlassene alternde Frau auf. Sie besucht ihren unglücklichen Claus nun öfter im | Zuchthause, allein der geht schnell dem Tode entgegen. Endlich nimmt sie ihre Schwester, Vreneli ins Haus, die aber ein albernes genußsüchtiges Geschöpf ist und durch Dummheiten und Klatschen bei Nachbarsleuten ihre Schwester noch mehr ins Gerede bringt. (Nun kann hier die Schuhgeschichte ihre Anwendung finden, so zwar, daß man sieht, daß Marianne auch bei der Dummheit kein Glück hatte nachdem sie eine gutmüthige Bäurin, einen rohen Bauern, einen boshaften Stiefsohn, einen zwar leichtsinnigen aber hochherzigen Geliebten mit ihrer warmen, aufopfernden Liebe vergebens zu beglücken gesucht hatte (oder unglücklich gemacht hatte).) – Verbittert und schroff lebt sie den Rest ihres Daseins dahin, verzweifelnd an Gott und den Menschen. Zum Schluß und um wenigstens einen versöhnenden Schluß zu haben, könnte sie sich | eines verlorenen Mädchens und deren Kinde erbarmen, die sie kurz vor ihrem Tode zur Erbin einsetzt, weil sie eben doch wenigstens mit dem Wahne hinübergehen will, einem Menschen etwas Gut Glück gebracht zu haben. Zwar weiß sie wohl, daß sie dieses Glück nicht sehen werde und will es auch nicht, denn sie kann den Zweifel nicht verbannen, daß es wieder an an irgendeiner Klippe zerschellen werde. Mit dieser (philosophischen?) Ungewißheit stirbt sie. –

Nun habe ich gedacht, mein lieber alter Junge, wenn Du, bis diese Novelle fertig wäre nach Hause kämest, wo Du dann der/n/ schönen Sommer über fleißig daran arbeiten könntest. Nebenbei könntest Du Deine Artikel für | MaggiWedekind hatte Anfang April seine feste Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] der Firma Maggi und Co. in Kemptthal bei Zürich aufgegeben, arbeitete aber weiterhin (bis Juli 1887) auf Honorarbasis als Werbetexter für Maggi [vgl. Vinçon 1992, 121]. schreiben um ein Taschengeld zu haben. Es wäre gewiß besser als da in Zürich Dich abzuquälen und dann könntest Du ruhig abwarten, was Dir das Schicksal weiter vorbehalten hat.

Ueberlege Dir meinen Vorschlag, mein geliebter Junge und wenn es Dir nicht paßt, dann schreibe mir wenigstens, warum es Dir nicht paßt. Jedenfalls erwarte ich irgend ein Lebenszeichen von Dir und zwar sobald wie möglich. Ich bleibe in Angst und Sorgen Deine getreue Mutter
E. Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 9 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. Doppelblatt + Einzelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das erste Doppelblatt wurde zuerst auf den Außen-, dann auf den Innenseiten beschrieben. Auf Seite 1 oben links ist mit blauem Buntstift ein Kreuz notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Empfangsort wird Wedekinds Wohnort angenommen.

  • Schreibort

    Lenzburg
    10. Mai 1887 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Fluntern
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Werke. Achter Band. Lyrik, Versepik. Erzählende Prosa.

(Band 8)

Autor:
Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1920
Seitenangabe:
323-326
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 197-200 (Nr. 79).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 307
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1887. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

18.06.2024 16:16
Kennung: 5320

Lenzburg, 10. Mai 1887 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Emilie

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Schloß Lenzburg am 10/V 87


Mein herzlich geliebter Baby.

Obgleich ich Wäsche, Flickereien und andere Quagneleien„QUACKELEI […] leichtsinnige tändelei, wertloses dummes zeug, mischmasch“ [DWB 13, Sp. 2290]. haufenweise um mich herum liegen u. stehen habe, kann ich dennoch nicht anders als Dir zu schreiben. Ich bin nemlich in einer argen Noth und Unruhe und Du bist die Ursache davon. Ich weiß, daß Du elend und muthlos bist. Ich möchte Dir helfen, ich muß Dir helfen und bitte Dich, es mir möglich zu machen. Du bist in Angst wegen Deiner NovelleWedekinds Novelle „Marianne. Eine Lebensgeschichte“ [KSA 5/I, S. 37-76]. Wann Wedekind das Manuskript seiner Mutter zur Lektüre übergeben hatte, ist unbekannt. Im Juni bot er die Novelle der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der „Thurgauer Zeitung“ zur Publikation an, erhielt jedoch von beiden Redaktionen eine Absage [vgl. Neue Zürcher Zeitung an Wedekind, 17.6.1887 und Thurgauer Zeitung an Wedekind, 20.6.1887].. Ich auch. Tausenderlei Gedanken durchkreuzen meinen Kopf und wenn Du da wärst, könnte ich Dir so manches mittheilen, was Dir sicherlich von Nutzen wäre. Je länger, desto klarer | fühle ich, was an der Novelle mangelt. Meiner Ansicht nach ist es die starke tiefe Leidenschaft und ein großer Charakter Gedanke, der ihr abgeht. Siehst Du, wenn Deine Marianne z. B. an ihrer Liebesbedürftigkeit zu Grunde ginge, so wäre das schon eine gros Idee, die jedenfalls wenig Leser kalt ließe. Sie liebt zuerst die Frau des Bauern. Diese stirbt unter der rohen Behandlung ihres Mannes, hinterläßt den Alois auf den Marianne ihre ganze Liebe überträgt und um dessen willen sie seinen Vater heirathet trotz ihrer Liebe zu Claus, der sie durch Schönheit, Jugend und heiße Gegenliebe fesselt. Gegen ihre wahre Neigung bringt sie sich selbst zum Opfer und zwar aus Dankbarkeit gegen die Bäurin und infolge dieser auch aus Liebe zu deren verlassenenSchreibversehen, statt: verlassenem. Kinde. | SistematischSchreibversehen, statt: Systematisch. wird aber Alois von seinem Vater verzogen, wird ein wiederwärtigerSchreibversehen, statt: widerwärtiger. liederlicher Bursche. Dann stirbt der Bauer, wie man allgemein meint, an/vo/n einem Pferde erschlagen. Der zurückgekehrte Klaus wirbt um Marianne, die unterdessen ihre Liebe auch an ihrer Schwester Vreneli bethägtSchreibversehen, statt: betätigt. hat, und ihr mit warmem Herzen zu ihrem ersehnten Glücke verhilft; Das Glück der jungen Leute weckt auch in Marianne zärtliche Regungen. Sie gibt Claus Gehör und heia/r/athet ihn, indem sie sich schmeichelt auch für Alois Gutes dadurch zu erreichen, indem sie ihm in dem tüchtigen, oft ernst, ja düster dareinblickenden Claus einen vortreffliches Vorbild und zur Noth, einen strengen Vater zu geben hofft. Bei dem von | Natur boshaften Alois schlägt alles fehl und eine Scene von Betrunkenheit führt einen Konflickt herbei, wori/be/i der Bursche seiner Mutter da/e/s Verbrechens beschuldigt, seinen Vater ermordet zu haben. Auf diese Weise und um seine Frau vor dem Gerichte zu rechtfertigen bekennt Claus, (auch wohl vom eigenen Gewissen und Wahnsinn der Verzweiflung getrieben) die blutige That und Marianne sieht ein, daß sie ihre heiße Liebe an einen/m/ Ver Mörder geschenkt hat. Sie kann ihn nach Ueberwindung des ersten Entsetzens dennoch nicht hassen, sondern sucht den zu lebenslänglichem Zuchthause Verurtheilten durch ihre treuen Beweise ihres tiefen Mitleidens und fortdauernder Liebe (schmerzlicher) im Gefängniße zu trösten. Indessen wird in der Umgegend allerlei Verdächtiges über sie gesprochen. Alois und seine Saufkumpane ver|läumden sie und letzterer erpreßt von ihr soviel Geld als er kann, unter dem VorwandeDie Bitte um Geld mit einer Selbstmorddrohung zu verbinden, war später ein wiederholt angewandtes Mittel Donald Wedekinds gegenüber seiner Familie [vgl. z. B. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1900]., er wolle sich sonst erhängen. Mit Freude sieht er das Entsetzen im Gesichte seiner Mutter und gebraucht diese Entdeckung zur Schraube, mit der er immer seinen Zweck erreicht. Bis endlich di Marianne einsieht, daß es auf diesem Wege nicht weiter gehen kann und der Junge ganz zu Grunde geht. Auch merkt sie nachgerade die List des jungen Wüstlings und als er wieder einmal droht, sagt sie ihm, „: Geh und thu es, es ist vielleicht besser als wenn Du Dich zu Tode säufst.[“] Alois weiß aber, daß seine Mutter ihn seit seinen Drohungen stets scharf beobachtet. Darauf rechnet er. Marianne bekommt aber plötzlich einen Brief von Vreneli deren Mann gestorben und bevor reist noch am Abend, während der Alois betrunken | auf seiner Kammer liegt in/pl/ötzlich ab. Am andern Morgen, kurz bevor die Mutter für gewöhnlich kommt, ihn zu wecken, hängt sich Alois auf, in der Hoffnung, sofort wieder abgeschnitten zu werden, was aber nicht passirt. Wieder ein sieht Marianne (oder glaubt zu sehen) daß ihre treue, aufopfernde Liebe Unheil gebracht hat. Die Gerüchte über ihre Schlechtigkeit vermehren sich. Die Leute zeihen sie der Hexerei und sagen, sie brauche nur zu wollen, dann hole der Teufel die Menschen, die ihr im Wege stehen. Jetzt sei auch der Sohn weg und nun bekomme sie das ganze viele Geld des Bauern. Sie steht vereinsamt, gemieden Kinder weichen ihr scheu aus und Niemand sucht die verlassene alternde Frau auf. Sie besucht ihren unglücklichen Claus nun öfter im | Zuchthause, allein der geht schnell dem Tode entgegen. Endlich nimmt sie ihre Schwester, Vreneli ins Haus, die aber ein albernes genußsüchtiges Geschöpf ist und durch Dummheiten und Klatschen bei Nachbarsleuten ihre Schwester noch mehr ins Gerede bringt. (Nun kann hier die Schuhgeschichte ihre Anwendung finden, so zwar, daß man sieht, daß Marianne auch bei der Dummheit kein Glück hatte nachdem sie eine gutmüthige Bäurin, einen rohen Bauern, einen boshaften Stiefsohn, einen zwar leichtsinnigen aber hochherzigen Geliebten mit ihrer warmen, aufopfernden Liebe vergebens zu beglücken gesucht hatte (oder unglücklich gemacht hatte).) – Verbittert und schroff lebt sie den Rest ihres Daseins dahin, verzweifelnd an Gott und den Menschen. Zum Schluß und um wenigstens einen versöhnenden Schluß zu haben, könnte sie sich | eines verlorenen Mädchens und deren Kinde erbarmen, die sie kurz vor ihrem Tode zur Erbin einsetzt, weil sie eben doch wenigstens mit dem Wahne hinübergehen will, einem Menschen etwas Gut Glück gebracht zu haben. Zwar weiß sie wohl, daß sie dieses Glück nicht sehen werde und will es auch nicht, denn sie kann den Zweifel nicht verbannen, daß es wieder an an irgendeiner Klippe zerschellen werde. Mit dieser (philosophischen?) Ungewißheit stirbt sie. –

Nun habe ich gedacht, mein lieber alter Junge, wenn Du, bis diese Novelle fertig wäre nach Hause kämest, wo Du dann der/n/ schönen Sommer über fleißig daran arbeiten könntest. Nebenbei könntest Du Deine Artikel für | MaggiWedekind hatte Anfang April seine feste Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] der Firma Maggi und Co. in Kemptthal bei Zürich aufgegeben, arbeitete aber weiterhin (bis Juli 1887) auf Honorarbasis als Werbetexter für Maggi [vgl. Vinçon 1992, 121]. schreiben um ein Taschengeld zu haben. Es wäre gewiß besser als da in Zürich Dich abzuquälen und dann könntest Du ruhig abwarten, was Dir das Schicksal weiter vorbehalten hat.

Ueberlege Dir meinen Vorschlag, mein geliebter Junge und wenn es Dir nicht paßt, dann schreibe mir wenigstens, warum es Dir nicht paßt. Jedenfalls erwarte ich irgend ein Lebenszeichen von Dir und zwar sobald wie möglich. Ich bleibe in Angst und Sorgen Deine getreue Mutter
E. Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 9 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. Doppelblatt + Einzelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das erste Doppelblatt wurde zuerst auf den Außen-, dann auf den Innenseiten beschrieben. Auf Seite 1 oben links ist mit blauem Buntstift ein Kreuz notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Empfangsort wird Wedekinds Wohnort angenommen.

  • Schreibort

    Lenzburg
    10. Mai 1887 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Fluntern
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Werke. Achter Band. Lyrik, Versepik. Erzählende Prosa.

(Band 8)

Autor:
Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1920
Seitenangabe:
323-326
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 197-200 (Nr. 79).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 307
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1887. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

18.06.2024 16:16