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Kennung: 5302

München, 11. Februar 1915 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

München, den 11. Februar 1915.


Meine liebe Mama!

Empfang den herzlichsten Dank für Deine lieben herzlichen Zeilen vom 10 Januarnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 1.1.1915. Bei Wedekinds Datierung des verschollenen Briefes handelte es sich dem Briefkontext zufolge wohl um ein Schreibversehen.. Dein Brief war mir eine sehr große Freude während meiner Klinik ZeitWedekind war vom 29.12.1914 bis zum 9.1.1915 in der Klinik von Dr. med. Friedrich Scanzoni von Lichtenfels, Spezialarzt für Chirurgie und Betreiber der Chirurgischen Privatheilanstalt (Werneckstraße 16) [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 590], wo er sich einer Blinddarmoperation unterzog: „Werde mit dem Sanitätswagen in die Klinik gebracht und operiert.“ [Tb 29.12.1914] . Kurze Zeit darauf wurde ich wieder nach Hause gebrachtAm 9.1.1915 notierte Wedekind im Tagebuch: „Mit dem Sanitätswagen nach Hause gebracht.“ und bin jetzt so weit, daß ich wieder ausgehen kann. Heute AbendWedekind notierte: „Abends mit Tilly in M. v. Keith Dann HTR mit Martens und Friedenthal“ [Tb 11.2.1915]. wollen Tilly und ich uns den Marquis von | Keith ansehen, der hier im HoftheaterFrank und Tilly Wedekind besuchten eine Aufführung des „Marquis von Keith“ (Beginn 19.30 Uhr) am Königlichen Residenztheater (Generalintendant: Clemens Freiherr von und zu Franckenstein) [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 75, 11.2.1915, Vorabendblatt, S. 3]. Vorangegangen war dem der Besuch einer Vorstellung durch Wedekind alleine am 4.2.1915: „Im Residenztheater in M. von Keith. Tilly begleitet mich hin und holt mich ab.“ [Tb] Die Premiere dieser Inszenierung unter der Regie von Albert Steinrück, der auch die Titelrolle spielte, fand am 16.1.1915 statt, wie Wedekind auch im Tagebuch vermerkte. Steinrück hatte im Vorfeld darüber mit Wedekind korrespondiert [vgl. Albert Steinrück an Wedekind, 10.1.1915]. gegeben wird. Mit großer Freude hörte ich von den angenehmen Tagen die Du in Zürich bei Deiner Nichtevermutlich eine der Töchter von Emilie Wedekinds Cousine Emilie Leemann-Kammerer (Klausstr. 11) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich, 1915, Teil I, S. 322], Emilie oder Helene Leemann, aus Zürich. Die dritte Tochter, Elisabeth Leemann, war mit Emil Spinner verheiratet (s. u.). verlebt hast. Ich erinnere mich noch sehr gut wie sie in den achtziger Jahren in ihrem großen Rembrandthut und schlankem Kleid bei uns auf dem Schloß war. Wenn sie jetzt die herrliche Villa auf dem Dolderder Westhang des Adlisbergs in Zürich-Hottingen. bewohnt, von der Du schreibst, dann haben sie und Frau Betty | SpinnerElisabeth Spinner (geb. Leemann), Ehefrau des Kaufmanns Emil Jacob Spinner (Bleicherweg 68) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich, 1915, Teil I, S. 519], eine Nichte von Emilie Wedekind [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 255]. ja ganz Zürich zwischen sich liegen.

Tilly war mir während meiner ganzen Krankheit eine liebe unermüdliche Pflegerin. Besonders seit der Operation, wo es sich jeden zweiten Tag darum handelte, einen frischen Verband anzulegenWedekinds Tagebuch zufolge nahm bis zum Schreibdatum des Briefes sein Arzt Friedrich Scanzoni am 11., 13., 15., 17., 19., 21., 23., 25., 27., 30.1.1915 sowie am 3., 5. und 9.2.1915 einen Verbandswechsel vor, am 7. und 11.2.1915 machte dies Tilly Wedekind., entfaltete sie eine Geschicklichkeit, die auch vom Arzt bewundert wurde. Ich lernte Tilly während der Krankheit von einer ganz neuen Seite kennen und lieben. Den Kindern geht es | unberufen sehr gut. Anna Pamela hat viel Freude an ihrer Schule. Sie liest schon so geläufig daß sie mir die Zeitung vorlesen kann. Abends liest mir Tilly regelmäßig aus Büchern vorTilly Wedekind las ihrem Mann seit Kriegsbeginn laut seinem Tagebuch aus folgenden Büchern vor: vom 9. bis 13.8.1914: „Bismarcks Briefe“ (1914 oder frühere Ausgabe); vom 18. bis 21.8.1914: „Napoleon I. nach den Memoiren seines Kammerdieners Constant“ (1904); vom 23.8. bis 16.9.1914: Peter Krapotkin: „Memoiren eines Revolutionärs“ (1900); vom 19. bis 23.9.1914: Vladimir Semenov: „Raßplata. Kriegstagebuch über die Blockade von Port Arthur und die Ausreise der Flotte unter Rojestwenski“ (1908); am 28. und 29.9.1914: „Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin“ (1900); am 30.9. und 3.10.1914: Joseph Vilbort: „Das Werk des Herrn v. Bismarck. 1863-1866. Sadowa und der siebentägige Krieg.“ (1870); am 20. und 22.10.1914: Moritz Busch: „Tagebuchblätter 2. Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich 1870-1871 bis zur Rückkehr nach Berlin Wilhelmstraße 76. Denkwürdigkeiten aus den Jahren 1871 bis 1880. Varzin, Schönhausen, Friedrichsruh“ (1902); vom 23.10 bis 9.11.1914: Heinrich von Sybel: „Die Gründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“ (1901); am 30.10.1914 eine nicht näher identifizierte Publikation von Paul von Hoensbroech, möglicherweise „14 Jahre Jesuit“ (1909) [vgl. Wedekind an Paul von Hoensbroech, 21.10.1910]; am 6.11.1914: Ferdinand Lasalle: „Meine Vertheidigungs-Rede wider die Anklage der Verleitung zum Cassetten-Diebstahl gehalten am 11. August 1848 vor dem Königlichen Assissenhofe zu Cöln und den Geschwornen“ (1848); am 7.11.1914: „Kaiser Friedrichs Tagebücher über die Kriege 1866 und 1870-1871 sowie über seine Reisen nach dem Morgenlande und nach Spanien“ (1902); vom 10. bis 30.11.1914 sowie am 21. und 24.1.1915: Heinrich Friedjung: „Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859-1866“ (1897/98); vom 11. bis 17.1.1915: Friedrich Hebbel: „Tagebücher“ (1913 oder frühere Ausgabe); am 19. und 20.1.1915 ein nicht näher identifiziertes Werk von oder zu „Velasquez“; vom 25.1. bis 10.2.1915: Georg Brandes: „William Shakespeare“ (1896)., die ich zu meiner ArbeitWedekind notierte am 21.9.1914: „Plane ein Bismarkdrama“ [Tb]. Die Mehrzahl der von Tilly Wedekind vorgelesenen Bücher (s. o.) stammte aus diesem Kontext, sie dienten Wedekind als Quellen [vgl. KSA 8, S. 697-711] zu seinem historischen Schauspiel „Bismarck“ (1916). Erstmals dokumentiert ist sein Interesse an dem Bismarckstoff durch die Notate: „Tilly liest mir ‚Emser Depesche‘ vor“ [Tb 4.8.1914] und „Tilly liest Bismarks Brief an seine Frau 1870. bei Sedan“ [Tb 6.8.1914]. brauche, oft sehr trockene langweilige Stoffe, die ich schwerlich allein so rasch bewältigen würde. Mati scheint ja aus Frankreich nicht zurückgekommen zu sein. Was Du schreibst, von den zwei Zimmern | die sie mit ihrem Manne bewohnt, klingt nicht sehr tröstlich. Ich hoffe, daß Du in ihrer Abwesenheit wohl jemand aus Zürich bei dir haben wirst. Der Übergang von der Villa auf dem Dolder ins Steinbrüchli war sicher nicht leicht aber allmählich gehen wir ja schon dem Frühling entgegen. Hier in München haben wir herrliche Sonnentage, an denen mir das Spazierengehen eine große Erquickung ist. |

Im Herbst war Armin auf seiner Durchreiseam 12.11.1914 notierte Wedekind: „Am Abend kommen Armin sen. und Eva von Zürich.“ Armin Wedekind war mit seiner Tochter auf dem Weg zu seiner Schwester Erika in Dresden. nach Dresden mit Eva bei uns. Zwei sehr schöne Tage haben wir mit ihnen verlebt Armin ist von einem beneidensf/w/ert fröhlichen Naturell, so daß ich begreife, daß seine Patienten gesund werden, wenn sie ihn nur sehen.

Ich hoffe, liebe Mama, daß auch Du Dich recht wohl und munter fühlst. An Unterhaltung | und Anregung kann es Dir in Lenzburg sicher weniger fehlen als irgendwo anders. Das dachte ich mir bei meinem letstenSchreibversehen, statt: letzten. Aufenthalt bei DirWedekind war vom 6. bis 11. und vom 13. bis 19.10.1914 zu Besuch bei seiner Mutter in Lenzburg [vgl. Tb]., für den ich Dir herzlich dankbar bin und an den ich viel zurückdenke. Auch die Kinder sprechen viel von Lenzburg und von der lieben Großmutter.

Alle besonnenen Leute sehnen hier das Ende des Krieges herbei | natürlich nur unter Bedingungen, die unseren Erfolgen gerecht werden. Heute Freitag Abend ist ein Vortrag HardensFrank und Tilly Wedekind besuchten den Vortrag am Freitag, den 12.2.1915: „Harden Vortrag mit Tilly Hotel Continental mit Fr. Pringsheim Bruck|manns. Mit Harden bis 3½ Uhr bei Bruckmanns“ [Tb]. Die Presse berichtete unter der Überschrift: „Kriegsvortrag von Maximilian Harden“: „Freitag abend hielt im großen Saal der Tonhalle Maximilian Harden vor einem zahlreichen Publikum einen Kriegsvortrag mit etwa folgendem Gedankengang: Wir haben es nicht nötig, uns jetzt vor irgend ein Tribunal zu stellen und mit Rechtstüfteleien uns abzugeben, wo eine Welt von ungefähr 700 Millionen über unser Volk von 68 Millionen hergefallen ist. / Aus welchem maßlosen, tollen Haß aber ist dies geschehen? Weil des Deutschen Reiches Leistungen seit seinem 44jährigen Bestehen stärker und wirksamer sind als die einer anderen Nation, deshalb steht eine Welt wider uns in Waffen, eine Welt, die sich völlig über die Kräfte des Deutschen Reiches getäuscht hat, geblendet von den Irrlichtern des Hasses. […] Sechs Monate schon währt der Krieg, und kein Ermatten ist bei uns eingetreten. Das ist viel, so viel, daß es schwer ist, dies heute in seiner ganzen Weihe zu empfinden. […] Nur das eine Vertrauen muß herrschen, daß dieses Reich, das solche Menschen hat, nicht vernichtet werden kann. […] Harden schloss mit dem Appell: Wir müssen so leben und handeln, daß wir den Müttern, die das Schwerste erleiden, ins Auge sehen können, und wir müssen schwören, daß der Ertrag dieses Krieges wirklich so sein wird, daß jede Mutter, die ihren liebsten Sohn hingegeben, es als Trost empfinden muß.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 81, 14.2.1915, Vorabendblatt, S. 4], den Tilly und ich besuchen wollen. Ich bin sehr gespannt ob er etwas neues zu sagen weiß.

Nun lebe wohl, liebe Mama, und laß es Dir recht gut gehen. Tilly, die Kinder und ich senden Dir die herzlichsten Wünsche

und Grüße.

In Liebe und Dankbarkeit
Dein treuer Sohn
Frank.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg (Aargau)
Schweiz |

Absender: Frank Wedekind
München, Prinzregentenstraße 50.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14,5 x 18 cm. 8 Seiten beschrieben. Gelocht. Kuvert. 15,5 x 9,5 cm. 2 Seiten beschrieben. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Kuvert ist mit zwei aufgeklebten Briefmarken zu je 10 Pfennig frankiert. Der Brief wurde kriegsbedingt geöffnet und anschließend mit einem Aufkleber mit der Aufschrift: „Auslandsstelle des Bahnpostamtes 1 München.“ unter der Verschlusslasche wieder verschlossen. Ebenfalls unter der Verschlusslasche befindet sich der Posteingangsstempel.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Postausgangsstempel München: „4 – 5 N“ (= 16 bis 17 Uhr). Uhrzeit im Posteingangsstempel Lenzburg: „VII“ (= 7 Uhr).

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

(Band 2)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
317-319
Briefnummer:
436
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 377 (Nr. 201).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.2.1915. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

10.05.2024 17:32
Kennung: 5302

München, 11. Februar 1915 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie
 
 

Inhalt

München, den 11. Februar 1915.


Meine liebe Mama!

Empfang den herzlichsten Dank für Deine lieben herzlichen Zeilen vom 10 Januarnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 1.1.1915. Bei Wedekinds Datierung des verschollenen Briefes handelte es sich dem Briefkontext zufolge wohl um ein Schreibversehen.. Dein Brief war mir eine sehr große Freude während meiner Klinik ZeitWedekind war vom 29.12.1914 bis zum 9.1.1915 in der Klinik von Dr. med. Friedrich Scanzoni von Lichtenfels, Spezialarzt für Chirurgie und Betreiber der Chirurgischen Privatheilanstalt (Werneckstraße 16) [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 590], wo er sich einer Blinddarmoperation unterzog: „Werde mit dem Sanitätswagen in die Klinik gebracht und operiert.“ [Tb 29.12.1914] . Kurze Zeit darauf wurde ich wieder nach Hause gebrachtAm 9.1.1915 notierte Wedekind im Tagebuch: „Mit dem Sanitätswagen nach Hause gebracht.“ und bin jetzt so weit, daß ich wieder ausgehen kann. Heute AbendWedekind notierte: „Abends mit Tilly in M. v. Keith Dann HTR mit Martens und Friedenthal“ [Tb 11.2.1915]. wollen Tilly und ich uns den Marquis von | Keith ansehen, der hier im HoftheaterFrank und Tilly Wedekind besuchten eine Aufführung des „Marquis von Keith“ (Beginn 19.30 Uhr) am Königlichen Residenztheater (Generalintendant: Clemens Freiherr von und zu Franckenstein) [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 75, 11.2.1915, Vorabendblatt, S. 3]. Vorangegangen war dem der Besuch einer Vorstellung durch Wedekind alleine am 4.2.1915: „Im Residenztheater in M. von Keith. Tilly begleitet mich hin und holt mich ab.“ [Tb] Die Premiere dieser Inszenierung unter der Regie von Albert Steinrück, der auch die Titelrolle spielte, fand am 16.1.1915 statt, wie Wedekind auch im Tagebuch vermerkte. Steinrück hatte im Vorfeld darüber mit Wedekind korrespondiert [vgl. Albert Steinrück an Wedekind, 10.1.1915]. gegeben wird. Mit großer Freude hörte ich von den angenehmen Tagen die Du in Zürich bei Deiner Nichtevermutlich eine der Töchter von Emilie Wedekinds Cousine Emilie Leemann-Kammerer (Klausstr. 11) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich, 1915, Teil I, S. 322], Emilie oder Helene Leemann, aus Zürich. Die dritte Tochter, Elisabeth Leemann, war mit Emil Spinner verheiratet (s. u.). verlebt hast. Ich erinnere mich noch sehr gut wie sie in den achtziger Jahren in ihrem großen Rembrandthut und schlankem Kleid bei uns auf dem Schloß war. Wenn sie jetzt die herrliche Villa auf dem Dolderder Westhang des Adlisbergs in Zürich-Hottingen. bewohnt, von der Du schreibst, dann haben sie und Frau Betty | SpinnerElisabeth Spinner (geb. Leemann), Ehefrau des Kaufmanns Emil Jacob Spinner (Bleicherweg 68) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich, 1915, Teil I, S. 519], eine Nichte von Emilie Wedekind [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 255]. ja ganz Zürich zwischen sich liegen.

Tilly war mir während meiner ganzen Krankheit eine liebe unermüdliche Pflegerin. Besonders seit der Operation, wo es sich jeden zweiten Tag darum handelte, einen frischen Verband anzulegenWedekinds Tagebuch zufolge nahm bis zum Schreibdatum des Briefes sein Arzt Friedrich Scanzoni am 11., 13., 15., 17., 19., 21., 23., 25., 27., 30.1.1915 sowie am 3., 5. und 9.2.1915 einen Verbandswechsel vor, am 7. und 11.2.1915 machte dies Tilly Wedekind., entfaltete sie eine Geschicklichkeit, die auch vom Arzt bewundert wurde. Ich lernte Tilly während der Krankheit von einer ganz neuen Seite kennen und lieben. Den Kindern geht es | unberufen sehr gut. Anna Pamela hat viel Freude an ihrer Schule. Sie liest schon so geläufig daß sie mir die Zeitung vorlesen kann. Abends liest mir Tilly regelmäßig aus Büchern vorTilly Wedekind las ihrem Mann seit Kriegsbeginn laut seinem Tagebuch aus folgenden Büchern vor: vom 9. bis 13.8.1914: „Bismarcks Briefe“ (1914 oder frühere Ausgabe); vom 18. bis 21.8.1914: „Napoleon I. nach den Memoiren seines Kammerdieners Constant“ (1904); vom 23.8. bis 16.9.1914: Peter Krapotkin: „Memoiren eines Revolutionärs“ (1900); vom 19. bis 23.9.1914: Vladimir Semenov: „Raßplata. Kriegstagebuch über die Blockade von Port Arthur und die Ausreise der Flotte unter Rojestwenski“ (1908); am 28. und 29.9.1914: „Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin“ (1900); am 30.9. und 3.10.1914: Joseph Vilbort: „Das Werk des Herrn v. Bismarck. 1863-1866. Sadowa und der siebentägige Krieg.“ (1870); am 20. und 22.10.1914: Moritz Busch: „Tagebuchblätter 2. Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich 1870-1871 bis zur Rückkehr nach Berlin Wilhelmstraße 76. Denkwürdigkeiten aus den Jahren 1871 bis 1880. Varzin, Schönhausen, Friedrichsruh“ (1902); vom 23.10 bis 9.11.1914: Heinrich von Sybel: „Die Gründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“ (1901); am 30.10.1914 eine nicht näher identifizierte Publikation von Paul von Hoensbroech, möglicherweise „14 Jahre Jesuit“ (1909) [vgl. Wedekind an Paul von Hoensbroech, 21.10.1910]; am 6.11.1914: Ferdinand Lasalle: „Meine Vertheidigungs-Rede wider die Anklage der Verleitung zum Cassetten-Diebstahl gehalten am 11. August 1848 vor dem Königlichen Assissenhofe zu Cöln und den Geschwornen“ (1848); am 7.11.1914: „Kaiser Friedrichs Tagebücher über die Kriege 1866 und 1870-1871 sowie über seine Reisen nach dem Morgenlande und nach Spanien“ (1902); vom 10. bis 30.11.1914 sowie am 21. und 24.1.1915: Heinrich Friedjung: „Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859-1866“ (1897/98); vom 11. bis 17.1.1915: Friedrich Hebbel: „Tagebücher“ (1913 oder frühere Ausgabe); am 19. und 20.1.1915 ein nicht näher identifiziertes Werk von oder zu „Velasquez“; vom 25.1. bis 10.2.1915: Georg Brandes: „William Shakespeare“ (1896)., die ich zu meiner ArbeitWedekind notierte am 21.9.1914: „Plane ein Bismarkdrama“ [Tb]. Die Mehrzahl der von Tilly Wedekind vorgelesenen Bücher (s. o.) stammte aus diesem Kontext, sie dienten Wedekind als Quellen [vgl. KSA 8, S. 697-711] zu seinem historischen Schauspiel „Bismarck“ (1916). Erstmals dokumentiert ist sein Interesse an dem Bismarckstoff durch die Notate: „Tilly liest mir ‚Emser Depesche‘ vor“ [Tb 4.8.1914] und „Tilly liest Bismarks Brief an seine Frau 1870. bei Sedan“ [Tb 6.8.1914]. brauche, oft sehr trockene langweilige Stoffe, die ich schwerlich allein so rasch bewältigen würde. Mati scheint ja aus Frankreich nicht zurückgekommen zu sein. Was Du schreibst, von den zwei Zimmern | die sie mit ihrem Manne bewohnt, klingt nicht sehr tröstlich. Ich hoffe, daß Du in ihrer Abwesenheit wohl jemand aus Zürich bei dir haben wirst. Der Übergang von der Villa auf dem Dolder ins Steinbrüchli war sicher nicht leicht aber allmählich gehen wir ja schon dem Frühling entgegen. Hier in München haben wir herrliche Sonnentage, an denen mir das Spazierengehen eine große Erquickung ist. |

Im Herbst war Armin auf seiner Durchreiseam 12.11.1914 notierte Wedekind: „Am Abend kommen Armin sen. und Eva von Zürich.“ Armin Wedekind war mit seiner Tochter auf dem Weg zu seiner Schwester Erika in Dresden. nach Dresden mit Eva bei uns. Zwei sehr schöne Tage haben wir mit ihnen verlebt Armin ist von einem beneidensf/w/ert fröhlichen Naturell, so daß ich begreife, daß seine Patienten gesund werden, wenn sie ihn nur sehen.

Ich hoffe, liebe Mama, daß auch Du Dich recht wohl und munter fühlst. An Unterhaltung | und Anregung kann es Dir in Lenzburg sicher weniger fehlen als irgendwo anders. Das dachte ich mir bei meinem letstenSchreibversehen, statt: letzten. Aufenthalt bei DirWedekind war vom 6. bis 11. und vom 13. bis 19.10.1914 zu Besuch bei seiner Mutter in Lenzburg [vgl. Tb]., für den ich Dir herzlich dankbar bin und an den ich viel zurückdenke. Auch die Kinder sprechen viel von Lenzburg und von der lieben Großmutter.

Alle besonnenen Leute sehnen hier das Ende des Krieges herbei | natürlich nur unter Bedingungen, die unseren Erfolgen gerecht werden. Heute Freitag Abend ist ein Vortrag HardensFrank und Tilly Wedekind besuchten den Vortrag am Freitag, den 12.2.1915: „Harden Vortrag mit Tilly Hotel Continental mit Fr. Pringsheim Bruck|manns. Mit Harden bis 3½ Uhr bei Bruckmanns“ [Tb]. Die Presse berichtete unter der Überschrift: „Kriegsvortrag von Maximilian Harden“: „Freitag abend hielt im großen Saal der Tonhalle Maximilian Harden vor einem zahlreichen Publikum einen Kriegsvortrag mit etwa folgendem Gedankengang: Wir haben es nicht nötig, uns jetzt vor irgend ein Tribunal zu stellen und mit Rechtstüfteleien uns abzugeben, wo eine Welt von ungefähr 700 Millionen über unser Volk von 68 Millionen hergefallen ist. / Aus welchem maßlosen, tollen Haß aber ist dies geschehen? Weil des Deutschen Reiches Leistungen seit seinem 44jährigen Bestehen stärker und wirksamer sind als die einer anderen Nation, deshalb steht eine Welt wider uns in Waffen, eine Welt, die sich völlig über die Kräfte des Deutschen Reiches getäuscht hat, geblendet von den Irrlichtern des Hasses. […] Sechs Monate schon währt der Krieg, und kein Ermatten ist bei uns eingetreten. Das ist viel, so viel, daß es schwer ist, dies heute in seiner ganzen Weihe zu empfinden. […] Nur das eine Vertrauen muß herrschen, daß dieses Reich, das solche Menschen hat, nicht vernichtet werden kann. […] Harden schloss mit dem Appell: Wir müssen so leben und handeln, daß wir den Müttern, die das Schwerste erleiden, ins Auge sehen können, und wir müssen schwören, daß der Ertrag dieses Krieges wirklich so sein wird, daß jede Mutter, die ihren liebsten Sohn hingegeben, es als Trost empfinden muß.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 81, 14.2.1915, Vorabendblatt, S. 4], den Tilly und ich besuchen wollen. Ich bin sehr gespannt ob er etwas neues zu sagen weiß.

Nun lebe wohl, liebe Mama, und laß es Dir recht gut gehen. Tilly, die Kinder und ich senden Dir die herzlichsten Wünsche

und Grüße.

In Liebe und Dankbarkeit
Dein treuer Sohn
Frank.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg (Aargau)
Schweiz |

Absender: Frank Wedekind
München, Prinzregentenstraße 50.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14,5 x 18 cm. 8 Seiten beschrieben. Gelocht. Kuvert. 15,5 x 9,5 cm. 2 Seiten beschrieben. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Kuvert ist mit zwei aufgeklebten Briefmarken zu je 10 Pfennig frankiert. Der Brief wurde kriegsbedingt geöffnet und anschließend mit einem Aufkleber mit der Aufschrift: „Auslandsstelle des Bahnpostamtes 1 München.“ unter der Verschlusslasche wieder verschlossen. Ebenfalls unter der Verschlusslasche befindet sich der Posteingangsstempel.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Postausgangsstempel München: „4 – 5 N“ (= 16 bis 17 Uhr). Uhrzeit im Posteingangsstempel Lenzburg: „VII“ (= 7 Uhr).

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

(Band 2)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
317-319
Briefnummer:
436
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 377 (Nr. 201).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.2.1915. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

10.05.2024 17:32