Vergleichsansicht

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Kennung: 5056

München, 1. Januar 1891 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Liebe Mama, ich möchte dich auf den Knien bitten aus dem Ton meines Schreibens auf keine pesönlicheSchreibversehen, statt: persönliche. Stimmung dir gegenüber zu schließen. Ich möchte was ich eben geschrieben zerreißen und noch einmal von vorn anfangen; aber wer sagt mir daß es besser würde. ei/U/nd dennoch muß ich dir schreiben, da ich weiß daß ich dir vielfach u/U/nrecht gethan. Ich werde das an Doda sobald ich Gelegenheit finde wieder gut zu machen suchen. Über eines glaube ich dich immerhin beruhigen zu können. Was Doda auch thun mag, ich glaub nicht daß er der Mann ist um moralisch zu grunde zu gehen, geschweige denn physisch; dazu ist er schon viel zu besorgt | um sein Leben. Was ihm passiren könnte, ist das, daß er sich mal eines Tages umbringtDonald Wedekind nahm sich am 5.6.1908 das Leben., später, wenn er sich geistig ausgewachsen. Ich habe mich während seines Hierseins sehr gut mit ihm verstanden. Wir haben uns kaum ein einziges Mal gezankt. Dessen ungeachtet habe ich ihn unendlich bedauern gelernt. Ich kenne keinen Menschen der so wenig veranlagt ist glücklich zu sein wie er.

Ich bitte dich auch hinter meiner Stimmung nicht etwasSchreibversehen, statt: nicht etwa. Unzufriedenheit mit mir selber, Reue oder was derart zu suchen. Ich bin im Gegentheil concentrirter denn je. Darin liegt auch die Ursache, in dem fortwährenden Angespanntsein | und dem ewigen WartenWedekind hatte die als Privatdruck organisierte Publikation seines Lustspiels „Kinder und Narren“ noch für Ende 1890 erhofft, das Stück erschien jedoch erst im Januar 1891 [vgl. KSA 2, S. 630].. Es ist ja vorübergehend aber momentan kann ich dir mit dem besten Willen keinen eingehenderen Brief schreiben. Ich weiß ja so gut, daß wir uns wieder vollkommen verstehen, wenn wir uns wiedersehen, daß wir einander zu verstehen überhaupt nicht aufgehört – Ich habe dich dessen in meinem letzten Briefvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.12.1890. versichert und bin und bleibe fest in der Überzeugung. Ich weiß daß du gegenwärtig nach einem mitempfindenden herzlichen Worte dürstest, daß du dir in deiner Einsamkeit jedenfalls zuviel Gedanken machst, unnöthige Gedanken, die an Leib und Seele zehren ohne einem in der Welt etwas | zu nützen. Aber ich bin ja selber dem Verschmachten nahe und bitte dich darum nur inständig, mir meine Art und Weise zu verzeihen und dir so gut wie möglich über ZeitSchreibversehen (Auslassung), statt: über die Zeit. hinwegzuhelfen, wie ich mir auch darüber hinwegzuhelfen suchen muß. Seit Papas TodFriedrich Wilhelm Wedekind war am 11.10.1888 gestorben. sind noch kaum zwei Jahr vergangen. Was Wunder daß wir uns allesamt noch in einer Übergangsperiode befinden. Da heißt es in Gottes Namen se/den/ Muth nicht sinken lassen und seinen Pfad zu verfolgen wie das Maulthier zwischen seinen Scheuledern.

Also bitte nimm mir diesen Neujahrsbrief nicht übel. Er ist gewiß so herzlich gut gemeint | wie er herzlich schlecht geschrieben ist. Wenn du mir einen großen Gefallen thun willst, so schreibe mir wenn du gerade nichts besseres zu thun weißt, damit ich sehe, daß du mich nicht vielleicht dennoch falsch verstanden hast. Grüße mein geliebtes Mati viel tausendmal von mir und sei selber aufs herzlichste gegrüßt von deinem dir unverändert ergebenen und sich auf das Wiedersehn freuenden Sohn
Franklin
Akademiestraße 21 0. l.


Matis Bildvgl. die Photographie der 14jährigen Emilie (Mati) Wedekind [Münchner Stadtbibliothek/Monacensia. Nachlass Frank Wedekind. FW F 18; abgedruckt in: Vinçon 2021, Bd. 2, S. 325]. scheint mir einige Ähnlichkeit mit Hami zu haben wie er in seiner Glanzperiode aussah, so etwa im näm|lichen Alter. Gysi in Aarau Das 1843 in Aarau von Friedrich Gysi eröffnete Fotoatelier wurde seit 1863 von dessen Söhnen Otto und Arnold Gysi geführt, seit 1889 unter dem Namen Gysi & Cie unter Leitung von Otto Gysi jun.kenne ich als einen sehr schmeichelhaften Photographen. Indessen lebe ich der Überzeugung, daß er es diesmal nicht gethan hat, respective nicht thun konnte. Zum Schluß wünsche ich Dir und Mati ein recht, recht glückliches neues Jahr mit unerwarteten Freuden und einiger Behaglichkeit zwischendurch. – Während des Schreibens scheint sich der düstere Horizont meines Gemüthes nun doch einigermaßen entwölkt zu haben. Wenn du selber keine Zeit findest, dann schreibt mir vielleicht Mati einmal. Ich würde ihr sehr sehr dankbar dafür sein. – Meine Empfehlung an Herrn Zweifelvermutlich der Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel, Ehemann von Blanche Zweifel, der Wedekind mehrere Gedichte gewidmet hatte..

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 14 x 22,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Von fremder Hand (vermutlich Fritz Strich) ist mit Bleistift oben auf Seite 1 notiert: „An die Mutter. ohne Ort u Datum (etwa 30.12.89.)“ sowie am linken Rand „74“, darüber „5“. Auf Seite 2 ist im Text nach „ausgewachsen“ über der Zeile als Fußnotenreferenz eine durchgestrichene „86.“ und darüber „88“ notiert. Die Seiten sind oben mit Bleistift nummeriert mit „170a“, „170b“, „171a“, „171b“, „172a“ und „172b“.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 1.1.1891 ist als Ankerdatum gesetzt – den Angaben im Brief folgend, es handle sich um einen „Neujahrsbrief“, „kaum zwei Jahr“ nach dem Tod des Vaters, der am 11.10.1888 gestorben war.

  • Schreibort

    München
    1. Januar 1891 (Donnerstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
203-205
Briefnummer:
75
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief auf den 30.12.1889 datiert. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 238-240 (Nr. 109).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 1.1.1891. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

30.01.2024 13:27
Kennung: 5056

München, 1. Januar 1891 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie
 
 

Inhalt

Liebe Mama, ich möchte dich auf den Knien bitten aus dem Ton meines Schreibens auf keine pesönlicheSchreibversehen, statt: persönliche. Stimmung dir gegenüber zu schließen. Ich möchte was ich eben geschrieben zerreißen und noch einmal von vorn anfangen; aber wer sagt mir daß es besser würde. ei/U/nd dennoch muß ich dir schreiben, da ich weiß daß ich dir vielfach u/U/nrecht gethan. Ich werde das an Doda sobald ich Gelegenheit finde wieder gut zu machen suchen. Über eines glaube ich dich immerhin beruhigen zu können. Was Doda auch thun mag, ich glaub nicht daß er der Mann ist um moralisch zu grunde zu gehen, geschweige denn physisch; dazu ist er schon viel zu besorgt | um sein Leben. Was ihm passiren könnte, ist das, daß er sich mal eines Tages umbringtDonald Wedekind nahm sich am 5.6.1908 das Leben., später, wenn er sich geistig ausgewachsen. Ich habe mich während seines Hierseins sehr gut mit ihm verstanden. Wir haben uns kaum ein einziges Mal gezankt. Dessen ungeachtet habe ich ihn unendlich bedauern gelernt. Ich kenne keinen Menschen der so wenig veranlagt ist glücklich zu sein wie er.

Ich bitte dich auch hinter meiner Stimmung nicht etwasSchreibversehen, statt: nicht etwa. Unzufriedenheit mit mir selber, Reue oder was derart zu suchen. Ich bin im Gegentheil concentrirter denn je. Darin liegt auch die Ursache, in dem fortwährenden Angespanntsein | und dem ewigen WartenWedekind hatte die als Privatdruck organisierte Publikation seines Lustspiels „Kinder und Narren“ noch für Ende 1890 erhofft, das Stück erschien jedoch erst im Januar 1891 [vgl. KSA 2, S. 630].. Es ist ja vorübergehend aber momentan kann ich dir mit dem besten Willen keinen eingehenderen Brief schreiben. Ich weiß ja so gut, daß wir uns wieder vollkommen verstehen, wenn wir uns wiedersehen, daß wir einander zu verstehen überhaupt nicht aufgehört – Ich habe dich dessen in meinem letzten Briefvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.12.1890. versichert und bin und bleibe fest in der Überzeugung. Ich weiß daß du gegenwärtig nach einem mitempfindenden herzlichen Worte dürstest, daß du dir in deiner Einsamkeit jedenfalls zuviel Gedanken machst, unnöthige Gedanken, die an Leib und Seele zehren ohne einem in der Welt etwas | zu nützen. Aber ich bin ja selber dem Verschmachten nahe und bitte dich darum nur inständig, mir meine Art und Weise zu verzeihen und dir so gut wie möglich über ZeitSchreibversehen (Auslassung), statt: über die Zeit. hinwegzuhelfen, wie ich mir auch darüber hinwegzuhelfen suchen muß. Seit Papas TodFriedrich Wilhelm Wedekind war am 11.10.1888 gestorben. sind noch kaum zwei Jahr vergangen. Was Wunder daß wir uns allesamt noch in einer Übergangsperiode befinden. Da heißt es in Gottes Namen se/den/ Muth nicht sinken lassen und seinen Pfad zu verfolgen wie das Maulthier zwischen seinen Scheuledern.

Also bitte nimm mir diesen Neujahrsbrief nicht übel. Er ist gewiß so herzlich gut gemeint | wie er herzlich schlecht geschrieben ist. Wenn du mir einen großen Gefallen thun willst, so schreibe mir wenn du gerade nichts besseres zu thun weißt, damit ich sehe, daß du mich nicht vielleicht dennoch falsch verstanden hast. Grüße mein geliebtes Mati viel tausendmal von mir und sei selber aufs herzlichste gegrüßt von deinem dir unverändert ergebenen und sich auf das Wiedersehn freuenden Sohn
Franklin
Akademiestraße 21 0. l.


Matis Bildvgl. die Photographie der 14jährigen Emilie (Mati) Wedekind [Münchner Stadtbibliothek/Monacensia. Nachlass Frank Wedekind. FW F 18; abgedruckt in: Vinçon 2021, Bd. 2, S. 325]. scheint mir einige Ähnlichkeit mit Hami zu haben wie er in seiner Glanzperiode aussah, so etwa im näm|lichen Alter. Gysi in Aarau Das 1843 in Aarau von Friedrich Gysi eröffnete Fotoatelier wurde seit 1863 von dessen Söhnen Otto und Arnold Gysi geführt, seit 1889 unter dem Namen Gysi & Cie unter Leitung von Otto Gysi jun.kenne ich als einen sehr schmeichelhaften Photographen. Indessen lebe ich der Überzeugung, daß er es diesmal nicht gethan hat, respective nicht thun konnte. Zum Schluß wünsche ich Dir und Mati ein recht, recht glückliches neues Jahr mit unerwarteten Freuden und einiger Behaglichkeit zwischendurch. – Während des Schreibens scheint sich der düstere Horizont meines Gemüthes nun doch einigermaßen entwölkt zu haben. Wenn du selber keine Zeit findest, dann schreibt mir vielleicht Mati einmal. Ich würde ihr sehr sehr dankbar dafür sein. – Meine Empfehlung an Herrn Zweifelvermutlich der Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel, Ehemann von Blanche Zweifel, der Wedekind mehrere Gedichte gewidmet hatte..

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 14 x 22,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Von fremder Hand (vermutlich Fritz Strich) ist mit Bleistift oben auf Seite 1 notiert: „An die Mutter. ohne Ort u Datum (etwa 30.12.89.)“ sowie am linken Rand „74“, darüber „5“. Auf Seite 2 ist im Text nach „ausgewachsen“ über der Zeile als Fußnotenreferenz eine durchgestrichene „86.“ und darüber „88“ notiert. Die Seiten sind oben mit Bleistift nummeriert mit „170a“, „170b“, „171a“, „171b“, „172a“ und „172b“.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 1.1.1891 ist als Ankerdatum gesetzt – den Angaben im Brief folgend, es handle sich um einen „Neujahrsbrief“, „kaum zwei Jahr“ nach dem Tod des Vaters, der am 11.10.1888 gestorben war.

  • Schreibort

    München
    1. Januar 1891 (Donnerstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
203-205
Briefnummer:
75
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief auf den 30.12.1889 datiert. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 238-240 (Nr. 109).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 1.1.1891. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

30.01.2024 13:27