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Kennung: 5030

Berlin, 11. Juni 1889 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Berlin, GethinerstraßeSchreibversehen, statt: Genthinerstraße. 28
11.VI.89.


Liebe Mama

herzlichen Dank für Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 9.6.1889. und für die Besorgung des AtestesSchreibversehen, statt: Attests. Frank Wedekind benötigte für seine Anmeldung in Berlin einen Nachweis seiner Staatsangehörigkeit. Wedekinds Vater hatte in Kalifornien den amerikanischen Bürgerbrief erworben, so dass alle Familienmitglieder beim Zürcher US-Konsulat als amerikanische Staatsangehörige registriert und in einen amerikanischen Familienpass eingetragen waren [vgl. Rolf Kieser: Das Manifest von Hannover. Friedrich Wilhelm Wedekind und der „Amerikanisch-Norddeutsche Vertrag“. In: Frank Wedekind, geb. 1864 in Hannover. Bearbeitet von Carsten Niemann und Brigitta Weber mit Beiträgen von Rolf Kieser und Karljosef Kreter. Hannover 1995 (= prinzenstraße. Hannoversche Hefte zur Theatergeschichte. Doppelheft 4), S. 189, Anm. 26]. Das von der Mutter beschaffte Attest reichte den Berliner Behörden jedoch nicht aus [vgl. Tb 25.6.1889].. Ich habe große Nöthe um seinetwillen ausgestanden, ob sich nämlich die heilige Hermandatstudentensprachlich für Polizei, in Anlehnung an die Santa Hermandad, die Polizeiorganisation Kastiliens am Ende des 15. Jahrhunderts. damit zufrieden geben werde. Es scheint nun wirklich den Anschein zu haben, daß sie ein Auge zudrückt. Ich bin immerhin noch auf alles gefaßt.

Heute haben wir hier seit meinem Hiersein das erste größere Gewitter erlebt. Bisher herrschte eine Hitze, die geradezu lähmend wirkte. Tag und Nacht hatt’ ich in meinem Zimmer 22° R.22° Réaumur entsprechen 27,5° Celsius. Ich wohne nun allerdings 120 Stufen hoch | direct unter einem flachen Blechdach. Aber die tieferen Etagen sind noch heißer in Folge des Reflexes von der Asphaltpflasterung und mangelhaftem Luftzutritt. Ich bewohne ein hübsches helles großes Zimmer, sehr gediegen möblirt ohne überladen zu sein. Etw/in/ bischen weniger Eleganz und mehr Behaglichkeit, wie ich es in München fand wäre mir aber doch um vieles lieber. Die Berliner Bettstellen sind im allgemeinen etwas kurz. Ich begreife nicht wie sich die Märkischen Hünengestalten darin zurechtfinden. Was die Lage anlangt wohn ich ähnlich wie wir in Hannover wohnten, kaum eine Viertelstunde vom Thiergartender Große Tiergarten ist eine Parkanlage im Zentrum Berlins, die Wedekind „fast täglich“ [Frank Wedekind an Armin Wedekind, 17.6.1889] besuchte. und 20 Minuten vom Zoologischen Gartender Große Tiergarten ist eine Parkanlage im Zentrum Berlins, die Wedekind „fast täglich“ [Frank Wedekind an Armin Wedekind, 17.6.1889] besuchte. entfernt. Äußerst angenehm berührt mich die hiesige Kocherei, lauter heimatliche Gerüche, ReminiscenzenErinnerungen. aus frühester Kindheit und die willkommendstenSchreibversehen, statt: willkommensten. neuen Entdeckungen. | Dabei sind die einfachen Lebensbedürfnisse nicht theurer als anderswo. Zum Beispiel laß ich mich gerade um die Hälfte vom dem rasiren, was man in Lenzburg zahlt. Umso größer mächtiger A/a/ber tritt Einem die Versuchung auf Schritt und Tritt entgegen und wer noch d nicht die richtigenSchreibversehen, statt: richtige. Concentration gefunden, dem wird es recht schwer jeweili/e/n die nothwendigen Bedenken und Einwürfe zusammenzuklauben. Meine WirthinWedekind wohnte bei dem Königlichen Portier W. Pansegrau und seiner Frau [vgl. Berliner Adreßbuch 1890, Teil I, S. 894; Tb 1.7.1889]. Ihren Namen verwendete Wedekind für die Leiterin des Mädchenpensionats in „Kinder und Narren“ [vgl. KSA, 2, S. 710]. ist eine sehr energische kleine dicke Frau aus Hinterpommern. Doch scheint unter der rauhen Hülle doch ein recht menschlich schlagendes Herz ge/ver/borgen zu sein. Meinen Bekanntenkreis hab ich indessen noch nicht erweitert. undSchreibversehen, statt: erweitert und. gearbeitet hab ich auch erst beispiellos wenig ./–/ sozusagen gar nichts, doch wird unter dem Einfluß des Regens hoffentlich auch mein Kelch sich erschließen.

Frl. Herzog und Dr. WeltiÜber die Abreise Emilie Herzogs und ihres Verlobten Heinrich Welti notierte Wedekind: „Ich gehe auf den Bahnhof Friedrichstraße wo ich Welti und die Herzog bereits antreffe. Welti vertraut mir seine Braut an da er dritte Classe fährt. Ich bugsire sie in ein DamenCoupée und nehme Abschied. Muß aber noch verschiedentlich zwischen Beiden Botschaften hin und wieder tragen. Schließlich gucken beide zum Fenster hinaus, sie zweite er dritte Classe und nicken sich ein Wiedersehn zu. […] Die Herzog ruft mich noch mal zurück, ich solle Heinrich sagen, in Hannover müßten sie aussteigen und warten, eine Botschaft die er aufs freudigste begrüßt, da er dann wieder einige Zeit mit seiner Emilie zusammen sein kann. Er beauftragt mich, ihr zu sagen, er sei gleich im nächsten Wagen, hart an der Thür. Sie nickt mir freundlich zu für diese Meldung. Endlich braust der Zug hinaus.“ [Tb 1.7.1889] werden | Ende dieses Monats zu mehrwöchentlichem Aufenthalt in die Schweiz gehen. Ich habe sie nun auf eigene Faust ein mir eingeladen dich zu besuchen. Da sie aber in Aarburg wohnen, so wäre eine eintägige Tour nach Lenzburg doch nicht viel mehr als eine ungemüthliche HetzereiAarburg liegt 25 Kilometer westlich von Lenzburg.. Falls es nun dir, liebe Mama, passend und angenehm und nicht zuviel sein würde, so würd ich meinen Vorschlag, dich auf einige Tage zu dir zu kommen, mit Nachdruck wiederhoh/l/en, respective dich/sie/ in Deinem Namen einladen. Frl. Herzog würde Dir jedenfalls nicht nur eine angenehme sondern auch eine liebe Bekanntschaft sein. Sie ist im ganzen sehr anspruchslos, eine durch und durch gediegener KünstlerinDie schweizerische Opern- und Konzertsängerin Emilie Herzog war seit März 1889 am Königlichen Hoftheater Berlin engagiert., sogar mit einem leisen Anflug von Genialität. Sie ist liebenswürdig und heiter, gescheidt und ohne Zweifel die beste Seele, die unter Gottes Sonne einhergeht. Ihre Erschei-Schreibversehen (fehlende Fortsetzung beim Seitenwechsel), statt: Erscheinung. | ist etwas allzu winzig aber ihre Stimme von einer fast überirdischen Frische. Die Berliner sind offenbar ganz entzückt von ihr. Ich habe sie noch nicht singen hören ohne daß sie, den Löwenantheil de vom Beifall erndtete, was um so erstaunlicher ist, da sie durch ihr Spiel schwerlich irgend eine Seele begeistert. Ihre SoubrettenrollenRollenfach der französischen und deutschen Bühne. Eigentlich Zofe, Kammerjungfer, mit dem Nebenbegriff der List und Verschmitzheit, bezeichnet S[oubrette] jetzt eine muntere oder komische jugendliche Mädchenrolle und ist besonders in der modernen Operette u. Posse zu Bedeutung gelangt.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 15. Leipzig 1889, S. 48] sind so weit von aller Koketterie entfernt, daß sie meinen GefühlSchreibversehen, statt: meinem Gefühl. nach manchmal sogar ein wenig albern wird. Offenbar kann sie’s nicht anders. Im Umgang ist sie durchaus natürlich und einfach, so daß du ohne Zweifel deine helle Freude an ihr haben würdest. Ihr Bräutigam möchte für dich allerdings ein wenig schwerer zu verdauen sein. Er ist eben in erster Linie KritikerHeinrich Welti arbeitete als Theater-, Musik- und Literaturkritiker für verschiedene Zeitungen, darunter die „Münchner Neuesten Nachrichten“. und dann noch einmal Kritiker u. s.w. Dabei ist er aber im Grunde unglaublich harmlos, bei allem, was seine Person anlangt von einer fast vorsündfluthlichen Naivität. Beide zusammen sind | Menschen die es auch sehr gut verstehen, sich selbst zu unterhalten. In dieser Beziehung würden sie dir also keine unangenehme Last sein. Im Fall du also bereit wärst sie zu empfangen, so schreib mir bitte in den nächsten Tagen kurz darüber, damit ich nicht im letzten Augenblick ihrer Abreise damit zu kommen brauch. Sollte es Dir aber nicht passen, so machte das eben auch nicht viel. Deswegen frag ich ja bei dir an, damit dir/sich/ keine Unannehmlichkeiten herausstellen.

Freitagam 7.6.1889. kam Onkel Erich hierher. Bis Nachmittags 4 lagen wir zusammen in diversen Weißbierkneipenso auch rückblickend in Wedekinds Tagebuch vom 15.6.1889: „Bis Abends vier schleppt er mich von Weißbierkneipe zu Weißbierkneipe, wobei er fortwährend vergebens mit sich darüber in’s Klare zu kommen sucht in welcher das Bier besser und in welcher es schlechter ist. An ein Mittagessen denkt er nicht, dagegen muß ich ihn ins Nordlandpanorama begleiten. Auffallend ist mit welch weltmännischer Nonchalance er sich überall der naheliegenden Verführung überhebt, für mich auszulegen. Um vier Uhr steigt er aufs Tram und läßt mich mit unbehaglichstem Kopfweh zurück.“ herum, worauf er dann nach Plötzensee hinaus fuhr, wo sein ältester Sohn, Vetter Eduard in einem StiftDas 1858 von Johann Hinrich Wichern gegründete Evangelische Johannesstift war seit 1865 am Südufer des Plötzensees beheimatet. Es beherbergte ein Brüderhaus, eine Diakonenschule und ein Schulinternat, zudem auch das „Pädagogium für die Kinder höherer Stände“ [Geschichte des Evangelischen Johannesstiftes in Plötzensee-Berlin. Berlin 1894, S. 31] zählte, das Eduard Wedekind besuchte. erzogen wird. Montagder 10.6.1889. suchte ich ihn in PlötzenseeÜber seinen Besuch im Evangelischen Johannesstift im Gutsbezirk Plötzensee notierte Wedekind: „Am Pfingstmontag such ich Onkel Erich in Plötzensee auf. Vetter Eduard ist geistig und körperlich sehr zurückgeblieben. Er hat einen breiten knochigen Mongolenschädel mit abstehenden Ohren, und scheint seiner Figur nach nicht mehr als 10 Jahr zu zählen obschon er 14 ist.“ [Tb 15.6.1889] auf. Vetter Eduard ist von der Natur allerdings bedauerlich vernachlässigt worden. Er zählt 15 JahrEduard Wedekind hatte am 7.6.1889 seinen 15. Geburtstag, zu dem sein Vater angereist war. und macht geistig und körperlich den | Eindruck eines 10jährigen Jungen. Seine Schädelbildung hat etwas Mongolisches. Ohne Zweifel ist er ein herzensguter Kerl, besitzt aber durchaus kein Combinationsvermögen. Er hat sich jetzt vorgenommen Gärtner zu werden. Es war von erschütternder Komik, mitanzusehn wie Onkel Erich zwischen den verschiedenen Pastoren die der Anstalt vorstehen umherschwänzelteähnlich in Wedekinds Tagebuch: „Erschütternd lächerlich war die armensünderhafte Höflichkeit mit der sich Onkel Erich um die verschiedenen Pastöre und Pastorinnen drehte; kaum daß er sich, den Hut in der Hand von einem abgewand, so kreis[t] er auch schon mit der nämlichen Geste um den nächsten und kann dabei seiner Bücklinge niemals ein Ende finden.“ [Tb 15.6.1889], sich in Höflichkeiten und Complimenten überbot, überall ja ja sagte und selbst in der Einsamkeit nur im leist/e/sten Flüsterton an ihrer Autorität zu zweifeln wagte. Dazwischen die verschiedenen Ausbrüche von Verzweiflung, bald über Eduard, dann über ein Streichholz was in’s Gras fiel, schließlich über das Unglück in JonestownAm 31.5.1889 brach nach schweren Regenfällen der Damm der South Fork-Talsperre in Pennsylvania, so dass die 23 Kilometer talbwärts gelegene Stadt Johnstown überflutet wurde. Am 9. und 10.6.1889 erschienen Artikel in der Berliner Presse, in dem über das Ausmaß der Katastrophe berichtet wurde: „Ueber die Katastrophe von Johnstown laufen nun immer ausführlichere Nachrichten ein. Ein Telegramm des Newyork Herald schildert die Verwüstungen wie folgt: Von einer Bevölkerung von 50,000 Einwohnern, welche Johnstown vor dem Dammbruch zählte, sind bisher erst die Namen von 18,000 als am Leben verzeichnet worden, trotzdem die Listen seit Montag offen liegen und Jeder der Registrirung unterstützt. Hunderte von Leichen wurden heute aufgefunden und an tausend Personen bestattet.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 18, Nr. 288, 10.6.1889, S. (2)] und die Unarten des Schah von PersienAm 9.6.1889 traf Nasr-ed-Din Schah, seit 1848 König von Persien, zu einem Besuch in Berlin ein. Die Presse berichtete aus diesem Anlass u. a. über die aufwändigen Reisen des Schahs innerhalb Persiens: „Um unterwegs keine Bequemlichkeit zu entbehren, heißt er Alles mitgehen, was ihm das Leben verschönen kann, Haus- und Küchengeräthe, Teppiche, eine Musikkapelle und – ein großer Teil seiner Haremsdamen begleitet ihren Gebieter auf Pferden, Eseln, Mauleseln und Kameelen. Sein weiteres Gefolge bilden die Granden seines Reiches, sein ganzer Hofstaat. Viele Kilometer ist der Reisezug lang.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 18, Nr. 287, 9.6.1889, Morgen-Ausgabe, Erstes Beiblatt, S. (1)]. Natürlich läßt er dir seine Bewunderung, seine bedingungslose Bewunderung melden. Am nämlichen Nachmittag fand ein Campmeeting(amerik.) Gottesdienst im Freien. im Johannisstift | statt, an dem auch Hofprediger Stöcker redeteAdolf Stoecker war seit 1883 zweiter Hof- und Domprediger in Berlin. Zu seiner Predigt notierte Wedekind: „Darauf spricht der Held des Tages, Hofprediger Stöcker. Er ist von untersetzter Figur, hat einen breiten Doganenschädel, eine feine gerade Nase und scharfe kluge Augen ohne Begeisterung. Er macht keinen unangenehmen Eindruck. Er spricht in Berliner Dialect, katechisirt die Kinder, die sich im Vordergrund höchst ungenirt um ihn versammelt haben, halb aufmerksam halb geringschätzig, als seien sie durchaus noch nicht so ganz mit ihm einverstanden. Einige bekommen Streit während der Predigt, andere hören mit halbem Ohr hin und bohren sich gedankenvoll in der Nase. Zum Schluß seiner Ansprache geht Stöcker in ein schlecht accentuirtes Gebrüll über, welches offenbar den heiligen Geist dokumentiren soll. Nachdem er geendet herrscht Todtenstille.“ [Tb, 15.6.1889]. Als Gäste der Anstalt saßen Onkel Erich und ich am Vorstandstisch unter lauter Pastören und Pastorinnen nur un/du/rch wenige Personen vom Held des Tages getrennt. Stöcker macht keinen unangenehmen Eindruck. Er hielt eine Predigt à la Abraham a santa ClaraDie Kanzelreden des katholischen Barockpredigers waren berühmt für ihre „eigenartige volkstümliche Beredsamkeit“, besaßen „kräftigen, zuzeiten derben Witz, der um des Zwecks willen auch vor einer Unflätigkeit nicht zurückschrickt, ein gewisses Feuer der Beredsamkeit und eine von den Geschmacklosigkeiten der Zeit und seiner mönchischen Bildung wohl durchsetzte, aber im ganzen doch bewunderungswürdige Beherrschung der Sprache. Die Kanzelwirkung der Kapuziner, die sich nie gescheut hatten, drastische Bilder und Burlesken, Volksdialekt und gemeine Sprechweise zu Hilfe zu nehmen, verbindet sich bei A. mit Elementen litterarischer Bildung und höhern Absichten. Er scheint der Zuversicht gelebt zu haben, daß humoristische Wirkung seiner Schriften die erbauliche und moralische von selbst im Gefolge haben werde“ [Meyers Konervsations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 1. Leipzig 1889, S. 51]. im Berliner Dialect wobei er sich hauptsächlich an die Kinder wandte. Gestern Mittagam 10.6.1889. Die Abreise seines Onkels schilderte Wedekind auch im Tagebuch: „Darauf begeben wir uns in Hilsebeins Weißbierhalle, gerade dem Bahnhof gegenüber. Es ist 11 Uhr und um 12 fährt sein Zug. Sobald wir uns niedergelassen haben, wird Onkel Erich vom Reisefieber gepackt das sich von nun an von Minute zu Minute steigert. […] Im Bahnhof Friedrichstraße vergewissert er sich bei sämmtlichen der Reih nach bei sämmtlichen Bahnangestellten auf welchem Perron der Zug hält und als der Zug angefahren ist, läuft er wie ein gehetzter Haase längs des ganzen Zuges auf und nieder, bis ihn schließlich ein Conducteur mit Gewalt ins nächste Coupée bugsirt. Kaum sitzt er drin, so behauptet er, er sei zu spät gekommen, wir hätten nicht so lange bei Hilsebein sitzen sollen, nun habe er keinen Eckplatz bekommen. Endlich dampft er ab, nachdem er mir zum Wagenfenster hinaus noch einmal die Losungsworte unserer Gesprächsthemata zugerufen.“ [Tb 15.6.1889] dampfte Onkel Erich wieder nach Hannover ab, nachdem er den ganzen Morgen über in einer Aufregung gelebt er möchte den Zug verfehlen, obwohl wir von 10 Uhr an in einer Weißbierkneipe dicht neben dem Bahnhof gesessen. Von Mati, die eine exceptionelle Schönheit sein müsse, hätte er gern eine Photographie. Falls ihr eine übrig habt, so möchtet ihr sie ihm durch Willy oder mich zukommen lassen.

Was Donalds SkizzeDonald Wedekinds erste Publikation, die Erzählung „Der Gang nach der Teufelsbrücke“, war in der Berner Tageszeitung „Der Bund“ erschienen [vgl. Der Bund, Jg. 40, Nr. 148, 28.5.1889, S. (1-3) und Nr. 149, 29.5.1889, S. (1)]. Zuvor hatte er sie Frank Wedekind zur Durchsicht übersandt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 14.11.1889]. anlangt, so darfst du sie dem Verfasser wol nicht gut vorenthalten. Ich wüßte nicht wie sich das | rechtfertigenließe; dir gegenüber wol aber ihm gegenüber doch nur schwerlich, zumal da er darauf wartet. Ich bat WidmannHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Joseph Victor Widmann, 29.5.1889. Der Schweizer Literaturkritiker und Schriftsteller Joseph Victor Widmann war Literaturredakteur bei der Berner Zeitung „Der Bund“, dem Donald Wedekind vor seiner Abreise in die USA seine Erzählung zur Publikation angeboten hatte [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 11.12.1888]. seiner Zeit um Zusendung von ca. 10 Exemplaren. Ich weiß nun nicht wie viel ihr bekommen habt. Aber schick ihm jedenfalls möglichst viel, da sie für ihn unvergleichlich mehr Werth haben als für euch, und ein einziges Exemplar eines Blattes rasch aus den Fugen geht. Wenn du mir antwortest, so bist du vielleicht so freundlich, Dodas AdresseDonald Wedekind war im Februar 1889 über New York an die Westküste der USA gereist und kehrte erst Ende des Jahres zurück. Über seinen Reiseweg von Paris über New York, St. Louis, Kansas City und Santa Fé bis San Francisco berichtete er am 17.11.1889 in einem Brief an seine Schwester Emilie (Mati) [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 138]. beizufügen.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Meine herzlichsten Grüße an Willy und Mieze, desgleichen an EmmaArmin Wedekind hatte am 21.3.1889 Emma Frey, die Tochter des Bezirksarztes Gottlieb Frey, bei dem er assistiert hatte, geheiratet. Emma Wedekind war regelmäßig in Lenzburg zu Gast. und ganz besonders an Minna. Meine ganz ergebenste Empfehlung an Fräulein BrumkowJosephine Brunnckow, eine Bekannte Erika Wedekinds, die sie 1887 während ihres halbjährigen Aufenthalts im Lausanner Pensionat Duplan kennengelernt und die sie im Winter 1888/89 in Stettin besucht hatte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 139; 319]. Aktuell war sie offenbar zu Gast in Lenzburg. und meinen allerherzlichsten Gruß und Kuß an dich liebe Mama von deinem treuen Sohn
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 9 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14 x 22 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    11. Juni 1889 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
188-192
Briefnummer:
67
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief unvollständig ediert (ohne Kennzeichnung der ausgelassenen Passage). Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 224-228 (Nr. 101).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.6.1889. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

23.05.2024 14:20
Kennung: 5030

Berlin, 11. Juni 1889 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie
 
 

Inhalt

Berlin, GethinerstraßeSchreibversehen, statt: Genthinerstraße. 28
11.VI.89.


Liebe Mama

herzlichen Dank für Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 9.6.1889. und für die Besorgung des AtestesSchreibversehen, statt: Attests. Frank Wedekind benötigte für seine Anmeldung in Berlin einen Nachweis seiner Staatsangehörigkeit. Wedekinds Vater hatte in Kalifornien den amerikanischen Bürgerbrief erworben, so dass alle Familienmitglieder beim Zürcher US-Konsulat als amerikanische Staatsangehörige registriert und in einen amerikanischen Familienpass eingetragen waren [vgl. Rolf Kieser: Das Manifest von Hannover. Friedrich Wilhelm Wedekind und der „Amerikanisch-Norddeutsche Vertrag“. In: Frank Wedekind, geb. 1864 in Hannover. Bearbeitet von Carsten Niemann und Brigitta Weber mit Beiträgen von Rolf Kieser und Karljosef Kreter. Hannover 1995 (= prinzenstraße. Hannoversche Hefte zur Theatergeschichte. Doppelheft 4), S. 189, Anm. 26]. Das von der Mutter beschaffte Attest reichte den Berliner Behörden jedoch nicht aus [vgl. Tb 25.6.1889].. Ich habe große Nöthe um seinetwillen ausgestanden, ob sich nämlich die heilige Hermandatstudentensprachlich für Polizei, in Anlehnung an die Santa Hermandad, die Polizeiorganisation Kastiliens am Ende des 15. Jahrhunderts. damit zufrieden geben werde. Es scheint nun wirklich den Anschein zu haben, daß sie ein Auge zudrückt. Ich bin immerhin noch auf alles gefaßt.

Heute haben wir hier seit meinem Hiersein das erste größere Gewitter erlebt. Bisher herrschte eine Hitze, die geradezu lähmend wirkte. Tag und Nacht hatt’ ich in meinem Zimmer 22° R.22° Réaumur entsprechen 27,5° Celsius. Ich wohne nun allerdings 120 Stufen hoch | direct unter einem flachen Blechdach. Aber die tieferen Etagen sind noch heißer in Folge des Reflexes von der Asphaltpflasterung und mangelhaftem Luftzutritt. Ich bewohne ein hübsches helles großes Zimmer, sehr gediegen möblirt ohne überladen zu sein. Etw/in/ bischen weniger Eleganz und mehr Behaglichkeit, wie ich es in München fand wäre mir aber doch um vieles lieber. Die Berliner Bettstellen sind im allgemeinen etwas kurz. Ich begreife nicht wie sich die Märkischen Hünengestalten darin zurechtfinden. Was die Lage anlangt wohn ich ähnlich wie wir in Hannover wohnten, kaum eine Viertelstunde vom Thiergartender Große Tiergarten ist eine Parkanlage im Zentrum Berlins, die Wedekind „fast täglich“ [Frank Wedekind an Armin Wedekind, 17.6.1889] besuchte. und 20 Minuten vom Zoologischen Gartender Große Tiergarten ist eine Parkanlage im Zentrum Berlins, die Wedekind „fast täglich“ [Frank Wedekind an Armin Wedekind, 17.6.1889] besuchte. entfernt. Äußerst angenehm berührt mich die hiesige Kocherei, lauter heimatliche Gerüche, ReminiscenzenErinnerungen. aus frühester Kindheit und die willkommendstenSchreibversehen, statt: willkommensten. neuen Entdeckungen. | Dabei sind die einfachen Lebensbedürfnisse nicht theurer als anderswo. Zum Beispiel laß ich mich gerade um die Hälfte vom dem rasiren, was man in Lenzburg zahlt. Umso größer mächtiger A/a/ber tritt Einem die Versuchung auf Schritt und Tritt entgegen und wer noch d nicht die richtigenSchreibversehen, statt: richtige. Concentration gefunden, dem wird es recht schwer jeweili/e/n die nothwendigen Bedenken und Einwürfe zusammenzuklauben. Meine WirthinWedekind wohnte bei dem Königlichen Portier W. Pansegrau und seiner Frau [vgl. Berliner Adreßbuch 1890, Teil I, S. 894; Tb 1.7.1889]. Ihren Namen verwendete Wedekind für die Leiterin des Mädchenpensionats in „Kinder und Narren“ [vgl. KSA, 2, S. 710]. ist eine sehr energische kleine dicke Frau aus Hinterpommern. Doch scheint unter der rauhen Hülle doch ein recht menschlich schlagendes Herz ge/ver/borgen zu sein. Meinen Bekanntenkreis hab ich indessen noch nicht erweitert. undSchreibversehen, statt: erweitert und. gearbeitet hab ich auch erst beispiellos wenig ./–/ sozusagen gar nichts, doch wird unter dem Einfluß des Regens hoffentlich auch mein Kelch sich erschließen.

Frl. Herzog und Dr. WeltiÜber die Abreise Emilie Herzogs und ihres Verlobten Heinrich Welti notierte Wedekind: „Ich gehe auf den Bahnhof Friedrichstraße wo ich Welti und die Herzog bereits antreffe. Welti vertraut mir seine Braut an da er dritte Classe fährt. Ich bugsire sie in ein DamenCoupée und nehme Abschied. Muß aber noch verschiedentlich zwischen Beiden Botschaften hin und wieder tragen. Schließlich gucken beide zum Fenster hinaus, sie zweite er dritte Classe und nicken sich ein Wiedersehn zu. […] Die Herzog ruft mich noch mal zurück, ich solle Heinrich sagen, in Hannover müßten sie aussteigen und warten, eine Botschaft die er aufs freudigste begrüßt, da er dann wieder einige Zeit mit seiner Emilie zusammen sein kann. Er beauftragt mich, ihr zu sagen, er sei gleich im nächsten Wagen, hart an der Thür. Sie nickt mir freundlich zu für diese Meldung. Endlich braust der Zug hinaus.“ [Tb 1.7.1889] werden | Ende dieses Monats zu mehrwöchentlichem Aufenthalt in die Schweiz gehen. Ich habe sie nun auf eigene Faust ein mir eingeladen dich zu besuchen. Da sie aber in Aarburg wohnen, so wäre eine eintägige Tour nach Lenzburg doch nicht viel mehr als eine ungemüthliche HetzereiAarburg liegt 25 Kilometer westlich von Lenzburg.. Falls es nun dir, liebe Mama, passend und angenehm und nicht zuviel sein würde, so würd ich meinen Vorschlag, dich auf einige Tage zu dir zu kommen, mit Nachdruck wiederhoh/l/en, respective dich/sie/ in Deinem Namen einladen. Frl. Herzog würde Dir jedenfalls nicht nur eine angenehme sondern auch eine liebe Bekanntschaft sein. Sie ist im ganzen sehr anspruchslos, eine durch und durch gediegener KünstlerinDie schweizerische Opern- und Konzertsängerin Emilie Herzog war seit März 1889 am Königlichen Hoftheater Berlin engagiert., sogar mit einem leisen Anflug von Genialität. Sie ist liebenswürdig und heiter, gescheidt und ohne Zweifel die beste Seele, die unter Gottes Sonne einhergeht. Ihre Erschei-Schreibversehen (fehlende Fortsetzung beim Seitenwechsel), statt: Erscheinung. | ist etwas allzu winzig aber ihre Stimme von einer fast überirdischen Frische. Die Berliner sind offenbar ganz entzückt von ihr. Ich habe sie noch nicht singen hören ohne daß sie, den Löwenantheil de vom Beifall erndtete, was um so erstaunlicher ist, da sie durch ihr Spiel schwerlich irgend eine Seele begeistert. Ihre SoubrettenrollenRollenfach der französischen und deutschen Bühne. Eigentlich Zofe, Kammerjungfer, mit dem Nebenbegriff der List und Verschmitzheit, bezeichnet S[oubrette] jetzt eine muntere oder komische jugendliche Mädchenrolle und ist besonders in der modernen Operette u. Posse zu Bedeutung gelangt.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 15. Leipzig 1889, S. 48] sind so weit von aller Koketterie entfernt, daß sie meinen GefühlSchreibversehen, statt: meinem Gefühl. nach manchmal sogar ein wenig albern wird. Offenbar kann sie’s nicht anders. Im Umgang ist sie durchaus natürlich und einfach, so daß du ohne Zweifel deine helle Freude an ihr haben würdest. Ihr Bräutigam möchte für dich allerdings ein wenig schwerer zu verdauen sein. Er ist eben in erster Linie KritikerHeinrich Welti arbeitete als Theater-, Musik- und Literaturkritiker für verschiedene Zeitungen, darunter die „Münchner Neuesten Nachrichten“. und dann noch einmal Kritiker u. s.w. Dabei ist er aber im Grunde unglaublich harmlos, bei allem, was seine Person anlangt von einer fast vorsündfluthlichen Naivität. Beide zusammen sind | Menschen die es auch sehr gut verstehen, sich selbst zu unterhalten. In dieser Beziehung würden sie dir also keine unangenehme Last sein. Im Fall du also bereit wärst sie zu empfangen, so schreib mir bitte in den nächsten Tagen kurz darüber, damit ich nicht im letzten Augenblick ihrer Abreise damit zu kommen brauch. Sollte es Dir aber nicht passen, so machte das eben auch nicht viel. Deswegen frag ich ja bei dir an, damit dir/sich/ keine Unannehmlichkeiten herausstellen.

Freitagam 7.6.1889. kam Onkel Erich hierher. Bis Nachmittags 4 lagen wir zusammen in diversen Weißbierkneipenso auch rückblickend in Wedekinds Tagebuch vom 15.6.1889: „Bis Abends vier schleppt er mich von Weißbierkneipe zu Weißbierkneipe, wobei er fortwährend vergebens mit sich darüber in’s Klare zu kommen sucht in welcher das Bier besser und in welcher es schlechter ist. An ein Mittagessen denkt er nicht, dagegen muß ich ihn ins Nordlandpanorama begleiten. Auffallend ist mit welch weltmännischer Nonchalance er sich überall der naheliegenden Verführung überhebt, für mich auszulegen. Um vier Uhr steigt er aufs Tram und läßt mich mit unbehaglichstem Kopfweh zurück.“ herum, worauf er dann nach Plötzensee hinaus fuhr, wo sein ältester Sohn, Vetter Eduard in einem StiftDas 1858 von Johann Hinrich Wichern gegründete Evangelische Johannesstift war seit 1865 am Südufer des Plötzensees beheimatet. Es beherbergte ein Brüderhaus, eine Diakonenschule und ein Schulinternat, zudem auch das „Pädagogium für die Kinder höherer Stände“ [Geschichte des Evangelischen Johannesstiftes in Plötzensee-Berlin. Berlin 1894, S. 31] zählte, das Eduard Wedekind besuchte. erzogen wird. Montagder 10.6.1889. suchte ich ihn in PlötzenseeÜber seinen Besuch im Evangelischen Johannesstift im Gutsbezirk Plötzensee notierte Wedekind: „Am Pfingstmontag such ich Onkel Erich in Plötzensee auf. Vetter Eduard ist geistig und körperlich sehr zurückgeblieben. Er hat einen breiten knochigen Mongolenschädel mit abstehenden Ohren, und scheint seiner Figur nach nicht mehr als 10 Jahr zu zählen obschon er 14 ist.“ [Tb 15.6.1889] auf. Vetter Eduard ist von der Natur allerdings bedauerlich vernachlässigt worden. Er zählt 15 JahrEduard Wedekind hatte am 7.6.1889 seinen 15. Geburtstag, zu dem sein Vater angereist war. und macht geistig und körperlich den | Eindruck eines 10jährigen Jungen. Seine Schädelbildung hat etwas Mongolisches. Ohne Zweifel ist er ein herzensguter Kerl, besitzt aber durchaus kein Combinationsvermögen. Er hat sich jetzt vorgenommen Gärtner zu werden. Es war von erschütternder Komik, mitanzusehn wie Onkel Erich zwischen den verschiedenen Pastoren die der Anstalt vorstehen umherschwänzelteähnlich in Wedekinds Tagebuch: „Erschütternd lächerlich war die armensünderhafte Höflichkeit mit der sich Onkel Erich um die verschiedenen Pastöre und Pastorinnen drehte; kaum daß er sich, den Hut in der Hand von einem abgewand, so kreis[t] er auch schon mit der nämlichen Geste um den nächsten und kann dabei seiner Bücklinge niemals ein Ende finden.“ [Tb 15.6.1889], sich in Höflichkeiten und Complimenten überbot, überall ja ja sagte und selbst in der Einsamkeit nur im leist/e/sten Flüsterton an ihrer Autorität zu zweifeln wagte. Dazwischen die verschiedenen Ausbrüche von Verzweiflung, bald über Eduard, dann über ein Streichholz was in’s Gras fiel, schließlich über das Unglück in JonestownAm 31.5.1889 brach nach schweren Regenfällen der Damm der South Fork-Talsperre in Pennsylvania, so dass die 23 Kilometer talbwärts gelegene Stadt Johnstown überflutet wurde. Am 9. und 10.6.1889 erschienen Artikel in der Berliner Presse, in dem über das Ausmaß der Katastrophe berichtet wurde: „Ueber die Katastrophe von Johnstown laufen nun immer ausführlichere Nachrichten ein. Ein Telegramm des Newyork Herald schildert die Verwüstungen wie folgt: Von einer Bevölkerung von 50,000 Einwohnern, welche Johnstown vor dem Dammbruch zählte, sind bisher erst die Namen von 18,000 als am Leben verzeichnet worden, trotzdem die Listen seit Montag offen liegen und Jeder der Registrirung unterstützt. Hunderte von Leichen wurden heute aufgefunden und an tausend Personen bestattet.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 18, Nr. 288, 10.6.1889, S. (2)] und die Unarten des Schah von PersienAm 9.6.1889 traf Nasr-ed-Din Schah, seit 1848 König von Persien, zu einem Besuch in Berlin ein. Die Presse berichtete aus diesem Anlass u. a. über die aufwändigen Reisen des Schahs innerhalb Persiens: „Um unterwegs keine Bequemlichkeit zu entbehren, heißt er Alles mitgehen, was ihm das Leben verschönen kann, Haus- und Küchengeräthe, Teppiche, eine Musikkapelle und – ein großer Teil seiner Haremsdamen begleitet ihren Gebieter auf Pferden, Eseln, Mauleseln und Kameelen. Sein weiteres Gefolge bilden die Granden seines Reiches, sein ganzer Hofstaat. Viele Kilometer ist der Reisezug lang.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 18, Nr. 287, 9.6.1889, Morgen-Ausgabe, Erstes Beiblatt, S. (1)]. Natürlich läßt er dir seine Bewunderung, seine bedingungslose Bewunderung melden. Am nämlichen Nachmittag fand ein Campmeeting(amerik.) Gottesdienst im Freien. im Johannisstift | statt, an dem auch Hofprediger Stöcker redeteAdolf Stoecker war seit 1883 zweiter Hof- und Domprediger in Berlin. Zu seiner Predigt notierte Wedekind: „Darauf spricht der Held des Tages, Hofprediger Stöcker. Er ist von untersetzter Figur, hat einen breiten Doganenschädel, eine feine gerade Nase und scharfe kluge Augen ohne Begeisterung. Er macht keinen unangenehmen Eindruck. Er spricht in Berliner Dialect, katechisirt die Kinder, die sich im Vordergrund höchst ungenirt um ihn versammelt haben, halb aufmerksam halb geringschätzig, als seien sie durchaus noch nicht so ganz mit ihm einverstanden. Einige bekommen Streit während der Predigt, andere hören mit halbem Ohr hin und bohren sich gedankenvoll in der Nase. Zum Schluß seiner Ansprache geht Stöcker in ein schlecht accentuirtes Gebrüll über, welches offenbar den heiligen Geist dokumentiren soll. Nachdem er geendet herrscht Todtenstille.“ [Tb, 15.6.1889]. Als Gäste der Anstalt saßen Onkel Erich und ich am Vorstandstisch unter lauter Pastören und Pastorinnen nur un/du/rch wenige Personen vom Held des Tages getrennt. Stöcker macht keinen unangenehmen Eindruck. Er hielt eine Predigt à la Abraham a santa ClaraDie Kanzelreden des katholischen Barockpredigers waren berühmt für ihre „eigenartige volkstümliche Beredsamkeit“, besaßen „kräftigen, zuzeiten derben Witz, der um des Zwecks willen auch vor einer Unflätigkeit nicht zurückschrickt, ein gewisses Feuer der Beredsamkeit und eine von den Geschmacklosigkeiten der Zeit und seiner mönchischen Bildung wohl durchsetzte, aber im ganzen doch bewunderungswürdige Beherrschung der Sprache. Die Kanzelwirkung der Kapuziner, die sich nie gescheut hatten, drastische Bilder und Burlesken, Volksdialekt und gemeine Sprechweise zu Hilfe zu nehmen, verbindet sich bei A. mit Elementen litterarischer Bildung und höhern Absichten. Er scheint der Zuversicht gelebt zu haben, daß humoristische Wirkung seiner Schriften die erbauliche und moralische von selbst im Gefolge haben werde“ [Meyers Konervsations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 1. Leipzig 1889, S. 51]. im Berliner Dialect wobei er sich hauptsächlich an die Kinder wandte. Gestern Mittagam 10.6.1889. Die Abreise seines Onkels schilderte Wedekind auch im Tagebuch: „Darauf begeben wir uns in Hilsebeins Weißbierhalle, gerade dem Bahnhof gegenüber. Es ist 11 Uhr und um 12 fährt sein Zug. Sobald wir uns niedergelassen haben, wird Onkel Erich vom Reisefieber gepackt das sich von nun an von Minute zu Minute steigert. […] Im Bahnhof Friedrichstraße vergewissert er sich bei sämmtlichen der Reih nach bei sämmtlichen Bahnangestellten auf welchem Perron der Zug hält und als der Zug angefahren ist, läuft er wie ein gehetzter Haase längs des ganzen Zuges auf und nieder, bis ihn schließlich ein Conducteur mit Gewalt ins nächste Coupée bugsirt. Kaum sitzt er drin, so behauptet er, er sei zu spät gekommen, wir hätten nicht so lange bei Hilsebein sitzen sollen, nun habe er keinen Eckplatz bekommen. Endlich dampft er ab, nachdem er mir zum Wagenfenster hinaus noch einmal die Losungsworte unserer Gesprächsthemata zugerufen.“ [Tb 15.6.1889] dampfte Onkel Erich wieder nach Hannover ab, nachdem er den ganzen Morgen über in einer Aufregung gelebt er möchte den Zug verfehlen, obwohl wir von 10 Uhr an in einer Weißbierkneipe dicht neben dem Bahnhof gesessen. Von Mati, die eine exceptionelle Schönheit sein müsse, hätte er gern eine Photographie. Falls ihr eine übrig habt, so möchtet ihr sie ihm durch Willy oder mich zukommen lassen.

Was Donalds SkizzeDonald Wedekinds erste Publikation, die Erzählung „Der Gang nach der Teufelsbrücke“, war in der Berner Tageszeitung „Der Bund“ erschienen [vgl. Der Bund, Jg. 40, Nr. 148, 28.5.1889, S. (1-3) und Nr. 149, 29.5.1889, S. (1)]. Zuvor hatte er sie Frank Wedekind zur Durchsicht übersandt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 14.11.1889]. anlangt, so darfst du sie dem Verfasser wol nicht gut vorenthalten. Ich wüßte nicht wie sich das | rechtfertigenließe; dir gegenüber wol aber ihm gegenüber doch nur schwerlich, zumal da er darauf wartet. Ich bat WidmannHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Joseph Victor Widmann, 29.5.1889. Der Schweizer Literaturkritiker und Schriftsteller Joseph Victor Widmann war Literaturredakteur bei der Berner Zeitung „Der Bund“, dem Donald Wedekind vor seiner Abreise in die USA seine Erzählung zur Publikation angeboten hatte [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 11.12.1888]. seiner Zeit um Zusendung von ca. 10 Exemplaren. Ich weiß nun nicht wie viel ihr bekommen habt. Aber schick ihm jedenfalls möglichst viel, da sie für ihn unvergleichlich mehr Werth haben als für euch, und ein einziges Exemplar eines Blattes rasch aus den Fugen geht. Wenn du mir antwortest, so bist du vielleicht so freundlich, Dodas AdresseDonald Wedekind war im Februar 1889 über New York an die Westküste der USA gereist und kehrte erst Ende des Jahres zurück. Über seinen Reiseweg von Paris über New York, St. Louis, Kansas City und Santa Fé bis San Francisco berichtete er am 17.11.1889 in einem Brief an seine Schwester Emilie (Mati) [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 138]. beizufügen.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Meine herzlichsten Grüße an Willy und Mieze, desgleichen an EmmaArmin Wedekind hatte am 21.3.1889 Emma Frey, die Tochter des Bezirksarztes Gottlieb Frey, bei dem er assistiert hatte, geheiratet. Emma Wedekind war regelmäßig in Lenzburg zu Gast. und ganz besonders an Minna. Meine ganz ergebenste Empfehlung an Fräulein BrumkowJosephine Brunnckow, eine Bekannte Erika Wedekinds, die sie 1887 während ihres halbjährigen Aufenthalts im Lausanner Pensionat Duplan kennengelernt und die sie im Winter 1888/89 in Stettin besucht hatte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 139; 319]. Aktuell war sie offenbar zu Gast in Lenzburg. und meinen allerherzlichsten Gruß und Kuß an dich liebe Mama von deinem treuen Sohn
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 9 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14 x 22 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    11. Juni 1889 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
188-192
Briefnummer:
67
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief unvollständig ediert (ohne Kennzeichnung der ausgelassenen Passage). Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 224-228 (Nr. 101).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.6.1889. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

23.05.2024 14:20