Hochgeehrter Herr,
mit aufrichtiger großer Bewunderung habe ich soeben Ihren
Essay „Rejane“ gelesenWedekind hat den Essay im aktuellen Heft der von Maximilian Harden herausgegebenen Wochenschrift „Die Zukunft“ [vgl. Réjane. In: Die Zukunft, Bd. 21, Jg. 6, Nr. 5, 30.10.1897, S. 220-232] gelesen und unmittelbar nach der Lektüre den vorliegenden Brief geschrieben. Bei dem Essay handelt es sich um eine Theaterrezension. Maximilian Harden sah die Abschiedsvorstellung der berühmten französischen Schauspielerin Réjane (d.i. Gabrielle Charlotte Réju) am 15.10.1897 ‒ „ich muß morgen ins Theater (Réjane)“ [Hellige 1983, S. 305], schrieb er Walther Rathenau am 14.10.1897 ‒ im Lessingtheater, wo sie zum Abschluss ihres Gastspiels in Berlin die Hauptrolle in dem Dramas „La Douloureuse“ von Maurice Donnay spielte.. Es ist mehrfach darin von „Ironie auf der Bühnefreies Zitat aus dem genannten Essay (siehe oben). Maximilian Harden hatte geschrieben, Réjane habe eine „ironische Grundstimmung, die ihr erlaubte, mit einem Blick, einem aufleuchtenden Ton, einer raschen, kaum merkbaren Geberde die Komik der ernsten und den Ernst der komischen Vorgänge zu zeigen [...]. Ironie ist der Trost und die Wonne der Müden, denen [...] die festen Grenzen von Gut und Böse verwischt sind und die nun an nichts mehr glauben [...]. Der natürliche, gesunde Mensch kennt und versteht ironische Regungen nicht; wo sie sich melden, muß schon eine Kultur überreif geworden und mit Schimmelgespinnst bedeckt [...] sein. [...] Ironie ist die letzte Stütze der dem Tode Geweihten;“ ein „fader Fäulnißduft“ sei deshalb spürbar; er gestand der Schauspielerin allerdings zu: „Frau Réjane putzt die wurmstichige Schwäche nicht zum Heldenthum heraus, sie giebt ihre sittlich kranken Geschöpfe nicht für Gesunde“ [Réjane. In: Die Zukunft, Bd. 21, Jg. 6, Nr. 5, 30.10.1897, S. 224, 226f., 229, 232].“ die
Rede. Ich müßte Sie falsch verstehen, oder Sie schätzen und Sie verdammen
zugleich in dieser Ironie den echten menschlichen Humor, der, quasi in Fäulniß
übergegangen, seine positive Seite, seinen erhabenen Standpunkt eingebüßt hat.
Eine so verstandene Ironie war mir, | ‒
neben meinem ersten und hauptsächlichsten Bestreben, Schönheit auf der Bühne zu
creiren ‒ künstlerisches
Princip, als ich die Tragödie „Erdgeist“ schrieb. Wenn ich mir die Freiheit
nehme, Ihnen das Buch vorzulegenWedekind sandte Maximilian Harden als Beilage zum vorliegenden Brief die Erstausgabe „Der Erstgeist. Eine Tragödie“ (1895), die im Albert Langen Verlag erschienen ist [vgl. KSA 3/II, S. 858]., so glaube ich mich durch die Überzeugung
gerechtfertigt, daß Sie meine Ziele im vollsten Maße würdigen und daß, wenn Sie
das Stück nicht für bühnenwirksam halten, ich nicht mehr darüber im Zweifel
sein kann, daß ich meine Ziele nicht erreicht habe.
Im vergangenen Winter trug sich die Dramatische Gesellschaft
in Berlin | mit dem Gedanken, das Drama aufzuführen, hat dann aber davon
Abstand genommenDie im Herbst 1896 gegründete Dramatische Gesellschaft zu Berlin [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 493, 20.10.1896, Morgen-Ausgabe, S. 7], eine freie Bühnenvereinigung, die sich der Förderung des modernen Dramas verpflichtet sah, hatte um die Jahreswende 1896/97 erwogen, Wedekinds Stücke „Der Erdgeist“ und „Die junge Welt“ [vgl. KSA 1/II, S. 1308] aufzuführen, sich dann aber dagegen entschieden. Den Vorstand bildeten Ludwig Fulda und Bruno Wille, Beisitzer waren Otto Neumann-Hofer, Emil Lessing und Otto Erich Hartleben [vgl. KSA 1/II, S. 1308-1310], im Jahr darauf war Otto Erich Hartleben Vorsitzender, Theodor Entsch Schatzmeister [vgl. Beilage zur Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, Nr. 348, 18.10.1897, S. 3-4]. Wedekind verarbeitete 1897 in seinem Gedicht „Die Dramatische Gesellschaft“ [KSA 1/I, S. 381] seine Enttäuschung über die Ablehnung [vgl. KSA 1/II, S. 1307-1310]., und ich kann mich, so anmaßend es klingen mag, der Überzeugung
nicht erwehren, daß man eine Wirkung für ausgeschlossen hielt, weil man die
Wirkung, die man empfand für unbeabsichtigt ansah und dafür eine Wirkung
erwartete, die ich vermeide.
Vor einigen Tagen erlaubte ich mir, Ihnen ein älteres Stück„Die junge Welt“ (1897) ist eine Umarbeitung oder „grundlegende Überarbeitung“ [KSA 2, S. 630] des älteren Lustspiels „Kinder und Narren“ (1891) [vgl. KSA 2, S. 643]. „Die
Junge Welt“ zu übersendenHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Maximilian Harden, 28.10.1897. Wedekind sandte Maximilian Harden „Die junge Welt. Comödie in drei Aufzügen und einem Vorspiel“ (1897); das Stück war soeben bei W. Pauli’s Nachfolger (H. Jerosch) in Berlin erschienen [vgl. KSA 2, S. 646]., in dem ich nicht diese Principien verfolge, sondern
nur auf reinmenschlichen Humor ausgehe, auf eine Art spielenden Humors, wie er
in den Lustspielen des 16. Jahrhunderts waltet und wie ich ihn in der modernen
Literatur, wenigstens | auf moderne Stoffe verwandt, nicht vorfinde.
Dieses, geehrter Herr, sind meine Illusionen, die mich dazu
drängen, Ihnen meine Arbeiten vorzulegen, und die ich mir, wenn sie nicht
berechtigt sind, gerne zerstören lasse, was Sie als die für mich im vollsten
Sinne maßgebende Autorität, dadurch bewirken werden, daß Sie schweigend darüber
hinweg gehenMaximilian Hardens erste ausführliche Besprechung der Werke Wedekinds, darunter vor allem „Erdgeist“, erschien erst Jahre später in der „Zukunft“ vom 31.1.1903 [vgl. Martin 1996, S. 191-194].. Es bleibt mir dann nur noch die Pflicht, Sie wegen unnützer
Inanspruchnahme Ihrer Zeit um Entschuldigung zu bitten.
Ich ersuche Sie, geehrter Herr, die Versicherung meiner
größten Hochschätzung entgegennehmen zu wollen.
Frank Wedekind
Dresden, Walpurgisstraße 14.II. ‒ 30. Okt. 97.