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Kennung: 4874

Freiburg im Breisgau, 14. April 1884 (Montag), Brief

Autor*in

  • Barck, Anny

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Freiburg 14. April
Ostermontag


Werther Herr Franklin!

Ich will mich nicht weiter mit Entschuldigungen abgeben, es waren Hausfrauenpflichten, die mich nicht früher zum Antworten kommen ließen. Ihr „Verbrechen“ haben Sie durch den großen Briefvgl. Wedekind an Anny Barck, 23.2.–12.3.1884. hinlänglich gesühnt und erlasse ich Ihnen jede weitere Buße, selbst die Bedingung künftig früher zu schreiben, sonst müßte ich bei jedem kommenden Briefe denken, Sie schrieben nur deßhalb. Ganz im Stillen hoffe und wünsche ich zwar sehr, daß der Briefwechsel etwas eifriger werden mögen, und die beiderseitigen Pausen nicht mehr so lange andauern mögen! |

Ihr ausführlicher Brief gab mir Mancherlei zu denken und auch herzlich gelacht habe ich über einige Ihrer spöttischen Bemerkungen, vor allem über die Grabrede Ihrer Liebedie kurze Leidenschaft für die verheiratete Blanche Zweifel, von der Wedekind Anny Barck in seinem Brief berichtete.. Ich glaube immer Sie werden noch hie und da in den Fall kommen eine solche zu halten!! Nun lassen wir sie aber ruhen, die schöne Leidenschaft, sonst lebt sie am Ende gar noch einmal auf!

Für die freundliche Zusendung des Prolog’s meinen herzlichsten Dank; ich freute mich sehr und gab denselben in unserm Kränzchen auch zum Besten, allwo er sehr bewundert wurde; ich selbst will weiter keine Lobeserhebungen machen, denn wie ich von Minna erfuhr wurden s/S/ie so allgemein damit überschüttet und – „allzuviel ist ungesund“, sagt ein altes deutsches Sprichwort. Meine liebste Stelle | darin ist:

Was Ideales einst das HerzIm „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonsschüler“ heißt es: „Was Ideales einst das Herz durchglüht, / Verfliegt als eitel Traumbild mit den Jahren;“ [KSA 1/I, S. 115]. pp
Verfliegt als eitel Traumbild pp

was Sie doch wohl hoffentlich nicht aus eigener Erfahrung schrieben, das wäre doch noch zu früh. Das Leben winkt Ihnen so rosig entgegen (allen pessimistischen Anschauungen zum Trotz) haben Sie doch die schöne, freie Studentenzeit vor sich! O die schöne, goldene Jugendzeit! i/I/ch sehe uns Beide nun ganz deutlich im Garten bei den JohannisbeerenDas dürfte während Anny Barcks Besuch in Lenzburg Ende Juli und Anfang August 1883 gewesen sein, als sie Wedekind kennenlernte [vgl. Anny Barck an Frank Wedekind und Armin Wedekind, 6.8.1883]. stehen unsere pessimistischen Weltansichten tauschend; (und dabei eifrig Beeren essend) hinter uns hört man die beiden Bundeswinde Sturmwind u. Boreasdie Pseudonyme von Minna von Greyerz und Armin Wedekind im Freundschaftsbund „Fidelitas“, den Minna von Greyerz mit Armin und Frank Wedekind (Zephyr) – wohl am 14.10.1883 – gründete und dem Anny Barck (Glanzpunkt) und Mary Gaudard beitraten. ebenfalls eifrig verhandeln. Während ich nun so darüber nachdenke wundere ich mich nachträglich über i/I/hre Ansichten, bei Ihrer Jugend; das ist eigentlich viel zu früh, in Ihrem Alter sollte man | noch hoffnungs- und erwartungsvoll in die Zukunft schauen und höchstens ahnen daß die Rosen Dornen haben. Nun, daß Sie den Tod für einen gar so ungemüthlichen GesellenSo hatte Wedekind den Tod in seinem Brief genannt [vgl. Wedekind an Anny Barck, 23.2.–12.3.1884]. halten ist mir immerhin ein gutes Zeichen, daß Sie trotz des Pessimismus lebensfroh u. lebenslustig sind, wie es in der Jugend auch sein soll. Übrigens gar so ungemüthlich ist er doch nicht, der schwarze Geselle, für manches arme gequälte Menschenherz die letzte Hoffnung, wenn er end/wirk/lich das bringt was wir hernieden so oft vergeblich ersehnen: Ruhe und Frieden. Doch gehen wir zu einem andern Thema über. Sie sind der Ansicht, man könne die Kinder ganz gut ohne Religion erziehen, der Vater solle seinen Kindern eigentlich das höchste | Wesen sein; ich glaube da bin ich doch nicht so ganz Ihrer Meinung, ich halte die richtige Kindererziehung für etwas sehr Schwieriges und glaube daß die Religion doch etwas nützlich ist dabei; wenn die Kinder od. Menschen in ein gewisses Alter kommen, bilden sie sich doch eigene Ansichten auch in dieser Beziehung. Ich finde daß jede Religion od. jeder bestimmte Glaubensform, da wo sie von Herzen kommend und rein betrieben wird, nicht vernunftwidrig u. abergläubisch auftretend, viel Gutes stiftet u. einen guten Einfluß auf die Menschen ausübt. Ihre Parodie auf das VaterunserWedekinds Gebet „Lieber Papa, der Du bist auf Deinem Studirzimmer!“ hat mich eigentlich etwas verletzt; man soll das nicht verspotten was man/ande/rn heilig ist; nicht daß es mir auch heilig wäre, aber es war mir einstens heilig u. da bewahre ich noch etwas Pietät. Den frommen Kinderglauben, den ich nicht in sehr | hohem Maaße besessen, habe ich schon längst verloren und gehöre zu den Ungläubigen; ob ich in dem Grade Atheist bin wie Sie kann ich nicht bestimmen, denn ich kenne Ihre Ansichten darin noch viel weniger als Sie die meinen.

Meine etwas ironische FrageDie Randbemerkung, in der Anny Barck die Frage – so Wedekinds Behauptung – gestellt haben soll, ist nicht überliefert [vgl. Wedekind an Anny Barck, 23.2.–12.3.1884]. über das Wort „göttlich“ haben Sie wohl deßhalb nicht verstanden weil Sie sich nicht mehr erinnern konnten, wie unzählige Male Sie dasselbe in Ihrem ersten Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Anny Barck, 8.7.1883. angewandt haben; nun liebe ich dieses Wort auch sehr, aber nur da wo es am richtigen Platze ist, wenn es das bezeichnet was über die alltägliche Sphäre unseres Lebens hinausreicht, hasse aber die Anwendung desselben wie sie gegenwärtig Mode ist. Darum heißt es eben göttlich, daß nicht das alltägliche Menschliche damit bezeichnet werde. Ich hoffe, Sie nehmen mir | meine kleine spöttische Bemerkung nun nicht noch nachträglich übel.

Also auch Sie, lieber Bundesbruder bekamen einen kleinen Schreck über den Vorsatz meine Tagebücher zu verbrennen. Minna rieth mir sehr davon ab, nun Sie Alle Beide hegten viel zu große Erwartungen von dem Inhalt derselben. Das erste habe ich verbrannt und muß selbst gestehen es ist kein großer Verlust, es stand recht kindisches Zeug darin. Damals war ich von lauter schwarzen Gedanken heimgesucht, war selbst nicht ganz gesund u. so kam dann das AutodaféVerbrennung von Handschriften oder Büchern.. Was ich Ihnen damals aus meinem Tagebuch vorlas war ausnahmsweise darin, u. ist das einzige derart; für all die Stellen sei’s Poesie, sei’s Prosa habe ich ein besonderes Buch u. in meinem/n/ Tagebüchern | sind nur eigene Erlebnisse und eigene GedankeSchreibversehen, statt: Gedanken. niedergeschrieben, u. ersterer sind’s für meine Jahre mehr als genug. Ich habe auch seit bald einem Jahr kein Wort mehr hineingeschrieben, was zuletzt darin steht, hat mir vorderhand alle Lust genommen es nur wieder aufzuschlagen. Und dann – meine Briefe an MinnaÜberliefert ist nur ein Blatt des Briefes, auf dem Anny Barck für Wedekind Hermann Kletkes Gedicht „Heinrich Heine“ abgeschrieben hat [vgl. Anny Barck an Wedekind. Freiburg im Breisgau, 1.7.1883]. sind ja auch halbe Tagebücher denn wir schreiben uns ja so ziemlich Alles was unser Leben ausfüllt, und kann ich gar nicht sagen wie viel mir dieser rege geistige Verkehr mit unserm lieben Sturmwind werth ist. Ich habe keine Freundin hier, sehr liebe, ge/na/hestehende Bekannte, aber eine Freundin im wahren Sinn des Wortes nicht, u. wenn ich auch den mündlichen Gedankenaustausch sehr vermisse, habe ich doch immer den geistigen, lebhaften mit meiner lieben Minna. |

Sie fragen mich über mein Urtheil R. Baumbach’s. Der Dichter ist bei uns sehr in der Mode; ich erhielt zu Weihnacht zwei Sachen von ihm, „Frau Holle“ und „Zlatorog“ eine Alpensage in gebundener RedeweiseSowohl die in Leipzig erschienenen Sagen „Frau Holde“ (1880) und „Zlatorog“ (1878) von Rudolf Baumbach als auch der von der Metzlerschen Buchhandlung in Stuttgart verlegte Trompeter von Säkkingen (1853) Victor von Scheffels sind als Versepen abgefasst. à la Trompeter von Säkkingen. Sonst habe ich noch nichts von ihm gelesen, die beiden Erzählungen finde ich recht hübsch, aber so viel als aus ihm gemacht wirdDer Gegenwartsdichter Rudolf Baumbach zählte in den 1880er Jahren neben Victor von Scheffel und Julius Wolff zu den populärsten deutschen Dichtern [Heinz Otto Burger: Baumbach, Rudolf. In: Neue Deutsche Biographie Jg. 1, 1953, S. 654f.]., kann ich nicht finden. Bedeutendes habe ich nicht an ihm gefunden, schwärmen Sie für ihn oder stimmen Sie mir bei?

Daß das gefürchtete Examen glücklich bestandenAm 10.4.1884 hatte Wedekind bei der öffentlichen Zeugnisübergabe an der Kantonsschule Aarau das ersehnte Maturazeugnis erhalten. (jedenfalls nur in Folge meines Glückwunsch’svgl. Anny Barck an Frank Wedekind. Freiburg, 16.3.1884.) habe ich erfahren, nun ich zweifelte nicht daran, denn es wäre doch zu traurig gewesen hätte uns unser Bundesbruder keine Ehre gemacht. Bis wann reisen SieWedekind dürfte am 1.5.1884 Lenzburg verlassen haben. Sein Vater erlaubte ihm, ein Semester Literatur der neueren Sprachen an der Académie de Lausanne zu studieren, ehe er in München ein Studium der Rechte aufnehmen sollte. denn ab? Minna wird es ganz | sonderbar vorkommen, wenn der Kreis an den SonntagabendenIm Herbst 1883 hatte Armin Wedekind, der sein Medizinstudium in Göttingen fortsetzte, die Runde verlassen. Mary Gaudard und auch Anny Barck dürften zeitweise ebenfalls zum Kreis der Sonntagabendgäste Minna von Greyerz’ gehört haben. immer kleiner wird. So ist es halt im Leben, ein ständiges Kommen und Gehen! Würden Sie Medizin studiren, hätte ich unsere UniversitätDie Mitte des 15. Jahrhunderts gegründete Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau war in der Medizin breit aufgestellt, hielt aber im Bereich Neuere Sprachen nur ein sehr begrenztes Angebot vor [vgl. Ankündigung der Vorlesungen welche auf der Großherzoglich Badischen Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau gehalten werden. Sommersemester 1884, S. 4-7 (Medizin); S. 10f. (Romanische Philologie)]. angepriesen, aber für Ihr Fach ist es nichts hier. Der nächste Brief, den ich erhalten werde, kommt dann wohl aus Genfeine Falschinformation; Wedekind studierte in Lausanne, nicht in Genf. und erzählt mir von den frischen Eindrücken.

Nun komme ich aber endlich zum Schluße; grüßen Sie All die Ihrigen, Groß und Klein, herzlich von mir. Mit freundlichem Gruße
Ihre Bundesschwestermit dem Pseudonym „Glanzpunkt“ im Freundschaftsbund „Fidelitas“.
Anny Barck
[Zeichnung]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblätter. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die hinteren Doppelblätter hat Anny Barck in Tinte mit den Zahlen „2)“ und „3)“ nummeriert (hier nicht wiedergegeben). Unter ihren Namen am Ende der Grußzeile hat sie einen Regenbogen gezeichnet. Auf Seite 1 hat Wedekind mit Bleistift die Jahreszahl „84“ ergänzt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Schreibjahr (1884) ist durch den Briefinhalt sicher ermittelt: 1884 fiel Ostermontag auf den 14. April. Sein Maturazeugnis erhielt Wedekind am 10.4.1884.

  • Schreibort

    Freiburg im Breisgau
    14. April 1884 (Montag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Freiburg im Breisgau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 7
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Anny Barck an Frank Wedekind, 14.4.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

14.11.2023 00:51
Kennung: 4874

Freiburg im Breisgau, 14. April 1884 (Montag), Brief

Autor*in

  • Barck, Anny

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Freiburg 14. April
Ostermontag


Werther Herr Franklin!

Ich will mich nicht weiter mit Entschuldigungen abgeben, es waren Hausfrauenpflichten, die mich nicht früher zum Antworten kommen ließen. Ihr „Verbrechen“ haben Sie durch den großen Briefvgl. Wedekind an Anny Barck, 23.2.–12.3.1884. hinlänglich gesühnt und erlasse ich Ihnen jede weitere Buße, selbst die Bedingung künftig früher zu schreiben, sonst müßte ich bei jedem kommenden Briefe denken, Sie schrieben nur deßhalb. Ganz im Stillen hoffe und wünsche ich zwar sehr, daß der Briefwechsel etwas eifriger werden mögen, und die beiderseitigen Pausen nicht mehr so lange andauern mögen! |

Ihr ausführlicher Brief gab mir Mancherlei zu denken und auch herzlich gelacht habe ich über einige Ihrer spöttischen Bemerkungen, vor allem über die Grabrede Ihrer Liebedie kurze Leidenschaft für die verheiratete Blanche Zweifel, von der Wedekind Anny Barck in seinem Brief berichtete.. Ich glaube immer Sie werden noch hie und da in den Fall kommen eine solche zu halten!! Nun lassen wir sie aber ruhen, die schöne Leidenschaft, sonst lebt sie am Ende gar noch einmal auf!

Für die freundliche Zusendung des Prolog’s meinen herzlichsten Dank; ich freute mich sehr und gab denselben in unserm Kränzchen auch zum Besten, allwo er sehr bewundert wurde; ich selbst will weiter keine Lobeserhebungen machen, denn wie ich von Minna erfuhr wurden s/S/ie so allgemein damit überschüttet und – „allzuviel ist ungesund“, sagt ein altes deutsches Sprichwort. Meine liebste Stelle | darin ist:

Was Ideales einst das HerzIm „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonsschüler“ heißt es: „Was Ideales einst das Herz durchglüht, / Verfliegt als eitel Traumbild mit den Jahren;“ [KSA 1/I, S. 115]. pp
Verfliegt als eitel Traumbild pp

was Sie doch wohl hoffentlich nicht aus eigener Erfahrung schrieben, das wäre doch noch zu früh. Das Leben winkt Ihnen so rosig entgegen (allen pessimistischen Anschauungen zum Trotz) haben Sie doch die schöne, freie Studentenzeit vor sich! O die schöne, goldene Jugendzeit! i/I/ch sehe uns Beide nun ganz deutlich im Garten bei den JohannisbeerenDas dürfte während Anny Barcks Besuch in Lenzburg Ende Juli und Anfang August 1883 gewesen sein, als sie Wedekind kennenlernte [vgl. Anny Barck an Frank Wedekind und Armin Wedekind, 6.8.1883]. stehen unsere pessimistischen Weltansichten tauschend; (und dabei eifrig Beeren essend) hinter uns hört man die beiden Bundeswinde Sturmwind u. Boreasdie Pseudonyme von Minna von Greyerz und Armin Wedekind im Freundschaftsbund „Fidelitas“, den Minna von Greyerz mit Armin und Frank Wedekind (Zephyr) – wohl am 14.10.1883 – gründete und dem Anny Barck (Glanzpunkt) und Mary Gaudard beitraten. ebenfalls eifrig verhandeln. Während ich nun so darüber nachdenke wundere ich mich nachträglich über i/I/hre Ansichten, bei Ihrer Jugend; das ist eigentlich viel zu früh, in Ihrem Alter sollte man | noch hoffnungs- und erwartungsvoll in die Zukunft schauen und höchstens ahnen daß die Rosen Dornen haben. Nun, daß Sie den Tod für einen gar so ungemüthlichen GesellenSo hatte Wedekind den Tod in seinem Brief genannt [vgl. Wedekind an Anny Barck, 23.2.–12.3.1884]. halten ist mir immerhin ein gutes Zeichen, daß Sie trotz des Pessimismus lebensfroh u. lebenslustig sind, wie es in der Jugend auch sein soll. Übrigens gar so ungemüthlich ist er doch nicht, der schwarze Geselle, für manches arme gequälte Menschenherz die letzte Hoffnung, wenn er end/wirk/lich das bringt was wir hernieden so oft vergeblich ersehnen: Ruhe und Frieden. Doch gehen wir zu einem andern Thema über. Sie sind der Ansicht, man könne die Kinder ganz gut ohne Religion erziehen, der Vater solle seinen Kindern eigentlich das höchste | Wesen sein; ich glaube da bin ich doch nicht so ganz Ihrer Meinung, ich halte die richtige Kindererziehung für etwas sehr Schwieriges und glaube daß die Religion doch etwas nützlich ist dabei; wenn die Kinder od. Menschen in ein gewisses Alter kommen, bilden sie sich doch eigene Ansichten auch in dieser Beziehung. Ich finde daß jede Religion od. jeder bestimmte Glaubensform, da wo sie von Herzen kommend und rein betrieben wird, nicht vernunftwidrig u. abergläubisch auftretend, viel Gutes stiftet u. einen guten Einfluß auf die Menschen ausübt. Ihre Parodie auf das VaterunserWedekinds Gebet „Lieber Papa, der Du bist auf Deinem Studirzimmer!“ hat mich eigentlich etwas verletzt; man soll das nicht verspotten was man/ande/rn heilig ist; nicht daß es mir auch heilig wäre, aber es war mir einstens heilig u. da bewahre ich noch etwas Pietät. Den frommen Kinderglauben, den ich nicht in sehr | hohem Maaße besessen, habe ich schon längst verloren und gehöre zu den Ungläubigen; ob ich in dem Grade Atheist bin wie Sie kann ich nicht bestimmen, denn ich kenne Ihre Ansichten darin noch viel weniger als Sie die meinen.

Meine etwas ironische FrageDie Randbemerkung, in der Anny Barck die Frage – so Wedekinds Behauptung – gestellt haben soll, ist nicht überliefert [vgl. Wedekind an Anny Barck, 23.2.–12.3.1884]. über das Wort „göttlich“ haben Sie wohl deßhalb nicht verstanden weil Sie sich nicht mehr erinnern konnten, wie unzählige Male Sie dasselbe in Ihrem ersten Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Anny Barck, 8.7.1883. angewandt haben; nun liebe ich dieses Wort auch sehr, aber nur da wo es am richtigen Platze ist, wenn es das bezeichnet was über die alltägliche Sphäre unseres Lebens hinausreicht, hasse aber die Anwendung desselben wie sie gegenwärtig Mode ist. Darum heißt es eben göttlich, daß nicht das alltägliche Menschliche damit bezeichnet werde. Ich hoffe, Sie nehmen mir | meine kleine spöttische Bemerkung nun nicht noch nachträglich übel.

Also auch Sie, lieber Bundesbruder bekamen einen kleinen Schreck über den Vorsatz meine Tagebücher zu verbrennen. Minna rieth mir sehr davon ab, nun Sie Alle Beide hegten viel zu große Erwartungen von dem Inhalt derselben. Das erste habe ich verbrannt und muß selbst gestehen es ist kein großer Verlust, es stand recht kindisches Zeug darin. Damals war ich von lauter schwarzen Gedanken heimgesucht, war selbst nicht ganz gesund u. so kam dann das AutodaféVerbrennung von Handschriften oder Büchern.. Was ich Ihnen damals aus meinem Tagebuch vorlas war ausnahmsweise darin, u. ist das einzige derart; für all die Stellen sei’s Poesie, sei’s Prosa habe ich ein besonderes Buch u. in meinem/n/ Tagebüchern | sind nur eigene Erlebnisse und eigene GedankeSchreibversehen, statt: Gedanken. niedergeschrieben, u. ersterer sind’s für meine Jahre mehr als genug. Ich habe auch seit bald einem Jahr kein Wort mehr hineingeschrieben, was zuletzt darin steht, hat mir vorderhand alle Lust genommen es nur wieder aufzuschlagen. Und dann – meine Briefe an MinnaÜberliefert ist nur ein Blatt des Briefes, auf dem Anny Barck für Wedekind Hermann Kletkes Gedicht „Heinrich Heine“ abgeschrieben hat [vgl. Anny Barck an Wedekind. Freiburg im Breisgau, 1.7.1883]. sind ja auch halbe Tagebücher denn wir schreiben uns ja so ziemlich Alles was unser Leben ausfüllt, und kann ich gar nicht sagen wie viel mir dieser rege geistige Verkehr mit unserm lieben Sturmwind werth ist. Ich habe keine Freundin hier, sehr liebe, ge/na/hestehende Bekannte, aber eine Freundin im wahren Sinn des Wortes nicht, u. wenn ich auch den mündlichen Gedankenaustausch sehr vermisse, habe ich doch immer den geistigen, lebhaften mit meiner lieben Minna. |

Sie fragen mich über mein Urtheil R. Baumbach’s. Der Dichter ist bei uns sehr in der Mode; ich erhielt zu Weihnacht zwei Sachen von ihm, „Frau Holle“ und „Zlatorog“ eine Alpensage in gebundener RedeweiseSowohl die in Leipzig erschienenen Sagen „Frau Holde“ (1880) und „Zlatorog“ (1878) von Rudolf Baumbach als auch der von der Metzlerschen Buchhandlung in Stuttgart verlegte Trompeter von Säkkingen (1853) Victor von Scheffels sind als Versepen abgefasst. à la Trompeter von Säkkingen. Sonst habe ich noch nichts von ihm gelesen, die beiden Erzählungen finde ich recht hübsch, aber so viel als aus ihm gemacht wirdDer Gegenwartsdichter Rudolf Baumbach zählte in den 1880er Jahren neben Victor von Scheffel und Julius Wolff zu den populärsten deutschen Dichtern [Heinz Otto Burger: Baumbach, Rudolf. In: Neue Deutsche Biographie Jg. 1, 1953, S. 654f.]., kann ich nicht finden. Bedeutendes habe ich nicht an ihm gefunden, schwärmen Sie für ihn oder stimmen Sie mir bei?

Daß das gefürchtete Examen glücklich bestandenAm 10.4.1884 hatte Wedekind bei der öffentlichen Zeugnisübergabe an der Kantonsschule Aarau das ersehnte Maturazeugnis erhalten. (jedenfalls nur in Folge meines Glückwunsch’svgl. Anny Barck an Frank Wedekind. Freiburg, 16.3.1884.) habe ich erfahren, nun ich zweifelte nicht daran, denn es wäre doch zu traurig gewesen hätte uns unser Bundesbruder keine Ehre gemacht. Bis wann reisen SieWedekind dürfte am 1.5.1884 Lenzburg verlassen haben. Sein Vater erlaubte ihm, ein Semester Literatur der neueren Sprachen an der Académie de Lausanne zu studieren, ehe er in München ein Studium der Rechte aufnehmen sollte. denn ab? Minna wird es ganz | sonderbar vorkommen, wenn der Kreis an den SonntagabendenIm Herbst 1883 hatte Armin Wedekind, der sein Medizinstudium in Göttingen fortsetzte, die Runde verlassen. Mary Gaudard und auch Anny Barck dürften zeitweise ebenfalls zum Kreis der Sonntagabendgäste Minna von Greyerz’ gehört haben. immer kleiner wird. So ist es halt im Leben, ein ständiges Kommen und Gehen! Würden Sie Medizin studiren, hätte ich unsere UniversitätDie Mitte des 15. Jahrhunderts gegründete Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau war in der Medizin breit aufgestellt, hielt aber im Bereich Neuere Sprachen nur ein sehr begrenztes Angebot vor [vgl. Ankündigung der Vorlesungen welche auf der Großherzoglich Badischen Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau gehalten werden. Sommersemester 1884, S. 4-7 (Medizin); S. 10f. (Romanische Philologie)]. angepriesen, aber für Ihr Fach ist es nichts hier. Der nächste Brief, den ich erhalten werde, kommt dann wohl aus Genfeine Falschinformation; Wedekind studierte in Lausanne, nicht in Genf. und erzählt mir von den frischen Eindrücken.

Nun komme ich aber endlich zum Schluße; grüßen Sie All die Ihrigen, Groß und Klein, herzlich von mir. Mit freundlichem Gruße
Ihre Bundesschwestermit dem Pseudonym „Glanzpunkt“ im Freundschaftsbund „Fidelitas“.
Anny Barck
[Zeichnung]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblätter. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die hinteren Doppelblätter hat Anny Barck in Tinte mit den Zahlen „2)“ und „3)“ nummeriert (hier nicht wiedergegeben). Unter ihren Namen am Ende der Grußzeile hat sie einen Regenbogen gezeichnet. Auf Seite 1 hat Wedekind mit Bleistift die Jahreszahl „84“ ergänzt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Schreibjahr (1884) ist durch den Briefinhalt sicher ermittelt: 1884 fiel Ostermontag auf den 14. April. Sein Maturazeugnis erhielt Wedekind am 10.4.1884.

  • Schreibort

    Freiburg im Breisgau
    14. April 1884 (Montag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Freiburg im Breisgau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 7
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Anny Barck an Frank Wedekind, 14.4.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

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In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
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Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

14.11.2023 00:51