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Kennung: 4871

München, 23. Oktober 1909 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wilke, Adolf von
 
 

Inhalt

München, den 23. Oktober 1909.

Prinzregentenstraße 50.


Verehrter Herr DoktorDr. jur. Adolf von Wilke, zusammen mit Eugen Zimmermann Geschäftsführer des Verlags der Neuen Gesellschaftlichen Correspondenz in Berlin (Eichhornstraße 6) [vgl. Berliner Adreßbuch 1910, Teil I, S. 2066], in dem der Band mit Wedekinds Antwort auf eine Umfrage zur Todesstrafe (nur der reine Mitteilungstext mit faksimilierter Unterschrift) veröffentlicht wurde [vgl. Für oder wider die Todesstrafe? Eine Umfrage bei den führenden Geistern unserer Zeit. Mit einem Titelbilde von Lovis Corinth. Berlin 1910, S. 50-52]. Wedekind hat Begegnungen mit ihm in Berlin im Tagebuch notiert – so am 9.10.1906 („Abends mit Tilly bei Frederich wo wir Dr. Wilke und Frau und Korinth treffen“), 4.11.1907 („Abends mit A.v.Wilke Hohenzollern“), 25.6.1908 („Nachmittag besuche ich Harden und treffe v. Wilke und Herrn Zimmermann bei ihm“) oder 18.10.1910 („Frederich allein mit A. v. Wilke und Frauen“).!

An eine baldige Abschaffung der Todesstrafe in irgend einem Kulturlande kann ich kaum mehr glauben, seitdem ich in den Jahren 1879–80 ihre WiedereinführungDurch einen am 18.5.1879 „herbeigeführten Volksentscheid“ wurde „die Todesstrafe in der Schweiz wieder eingeführt.“ [KSA 5/III, S. 384] in der Schweiz, wo sie seit 1848 aufgehoben„1848 wurde die Todesstrafe für politische Vergehen“ in der Schweiz „abgeschafft und 1874 generell verboten.“ [KSA 5/III, S. 384] war, miterlebt habe. Meiner Ansicht nach wird unter den Kulturländern das erste, das zu ihrer Abschaffung gelangt, Rußland, das letzte Deutschland sein.

Der glühendste Anhänger der Todesstrafe ist natürlich derjenige, der den Mörder am meisten fürchtet, der Kleinbürger, der an seinen Ersparnissen hängt, und der ist politisch doch fast überall ausschlaggebend; ein Mensch, der über sämtliche Schätze moderner Bildung verfügt, ohne einen einzigen Gedanken selber zu Ende denken zu können.

Für mich ist die Frage der Todesstrafe ausschließlich eine Frage für den Richtenden, niemals für den Gerichteten, denn sterben müssen wir ja schließlich alle einmal. Und was dem einen sin Uhl istSprichwort: „Einen sin Ul is’n annern sin Nachtigall.“ [Wander 1867-1880, Bd. 1, Sp. 904] (‚was dem einen seine Eule, ist dem anderen seine Nachtigall‘ = des einen Freud, des anderen Leid), möglicherweise nach dem Roman Fritz Reuters: „Wat den einen sin Ul is, ist den annern sin Nachtigall.“ [Fritz Reuter: Ut mine Stromtid. Roman. Berlin 1859, S. 70], das ist dem anderen sin Nachtigall. Eine gerichtlich vorausbestimmte, fachmännisch ausgeführte Tötung, die dem hilflosen Landstreicher als das Entsetzen aller Entsetzen erscheint, kann für den geistig hochstehenden Besitzer seelischer Reichtümer doch wohl kaum etwas Furchtbareres haben, als der Tod durch ein Eisenbahnunglück.

Meiner Überzeugung nach ist jede mehrjährige Freiheitsberaubung in unseren heutigen Gefängnissen grausamer als die Todesstrafe. Außerdem werden in den Gefängnissen unter großem Kostenaufwand Existenzen bewahrt und bewacht, die für sich selbst noch in weit höherem Grade als für die Gesellschaft nur mehr einen Minuswert haben. Ihr einziger positiver Wert ist ein rein ideeller, theoretischer, phantastischer, in der Art wie der Wert der LöwenFlorenz, dessen Wappentier der Löwe war, hielt sich wie andere italienische Städte in der Renaissance „gern lebendige Löwen“ und „diese Löwengruben befanden sich in oder bei den Staatspalästen, so in Perugia und Florenz [...]. Diese Thiere [...] hielten [...] einen gewissen Schrecken unter dem Volke wach.“ [Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. 2. Aufl. Leipzig 1869, S. 229] im mittelalterlichen Florenz oder der BärenIn Bern war der „Bärengraben mit lebenden Bären“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 2. Leipzig 1905, S. 709] eine Sehenswürdigkeit von großer „Popularität“ [Iwan von Tschudi: Der Turist in der Schweiz. St. Gallen 1885, S. 65]. im heutigen Berner Stadtgraben: Sie leben nur und müssen leben als die greifbaren Zeugen unseres Gerechtigkeitsgefühls.

Die Vermenschlichung unserer Strafanstalten, wie sie in Amerika in vollem Gang ist, ihre immer intimere Annäherung an das Irrenhaus, das scheint mir ein unvergleichlich wichtigeres, dankbareres und leichter zu erreichendes Ziel zu sein, als die Beseitigung einer Strafe, mit der die zivilisierte Welt zu zwei Dritteilen noch auf unabsehbare Zeiten hinaus eines ihrer teuersten und kraftvollsten Schutzheiligtümer zu verlieren fürchtet.

Mit den besten Empfehlungen und herzlichen Grüßen
Ihr
ergebener
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    23. Oktober 1909 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Werke. Neunter Band. Dramen, Entwürfe, Aufsätze aus dem Nachlaß

Autor:
Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller Verlag
Jahrgang:
1920
Seitenangabe:
382-383
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief mit der in Kastenklammern gesetzten Überschrift „Über Abschaffung der Todesstrafe“ und dem darunter gesetzten Hinweis „(Antwort auf eine Rundfrage)“ überschrieben. – Neuedition des Mitteilungstextes nach der Fassung in der Sammlung „Für oder wider die Todesstrafe? Eine Umfrage bei den führenden Geistern unserer Zeit“ (1910; siehe Erläuterungen): KSA 5/II, S. 394-395.
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Adolf von Wilke, 23.10.1909. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

31.10.2023 22:17
Kennung: 4871

München, 23. Oktober 1909 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wilke, Adolf von
 
 

Inhalt

München, den 23. Oktober 1909.

Prinzregentenstraße 50.


Verehrter Herr DoktorDr. jur. Adolf von Wilke, zusammen mit Eugen Zimmermann Geschäftsführer des Verlags der Neuen Gesellschaftlichen Correspondenz in Berlin (Eichhornstraße 6) [vgl. Berliner Adreßbuch 1910, Teil I, S. 2066], in dem der Band mit Wedekinds Antwort auf eine Umfrage zur Todesstrafe (nur der reine Mitteilungstext mit faksimilierter Unterschrift) veröffentlicht wurde [vgl. Für oder wider die Todesstrafe? Eine Umfrage bei den führenden Geistern unserer Zeit. Mit einem Titelbilde von Lovis Corinth. Berlin 1910, S. 50-52]. Wedekind hat Begegnungen mit ihm in Berlin im Tagebuch notiert – so am 9.10.1906 („Abends mit Tilly bei Frederich wo wir Dr. Wilke und Frau und Korinth treffen“), 4.11.1907 („Abends mit A.v.Wilke Hohenzollern“), 25.6.1908 („Nachmittag besuche ich Harden und treffe v. Wilke und Herrn Zimmermann bei ihm“) oder 18.10.1910 („Frederich allein mit A. v. Wilke und Frauen“).!

An eine baldige Abschaffung der Todesstrafe in irgend einem Kulturlande kann ich kaum mehr glauben, seitdem ich in den Jahren 1879–80 ihre WiedereinführungDurch einen am 18.5.1879 „herbeigeführten Volksentscheid“ wurde „die Todesstrafe in der Schweiz wieder eingeführt.“ [KSA 5/III, S. 384] in der Schweiz, wo sie seit 1848 aufgehoben„1848 wurde die Todesstrafe für politische Vergehen“ in der Schweiz „abgeschafft und 1874 generell verboten.“ [KSA 5/III, S. 384] war, miterlebt habe. Meiner Ansicht nach wird unter den Kulturländern das erste, das zu ihrer Abschaffung gelangt, Rußland, das letzte Deutschland sein.

Der glühendste Anhänger der Todesstrafe ist natürlich derjenige, der den Mörder am meisten fürchtet, der Kleinbürger, der an seinen Ersparnissen hängt, und der ist politisch doch fast überall ausschlaggebend; ein Mensch, der über sämtliche Schätze moderner Bildung verfügt, ohne einen einzigen Gedanken selber zu Ende denken zu können.

Für mich ist die Frage der Todesstrafe ausschließlich eine Frage für den Richtenden, niemals für den Gerichteten, denn sterben müssen wir ja schließlich alle einmal. Und was dem einen sin Uhl istSprichwort: „Einen sin Ul is’n annern sin Nachtigall.“ [Wander 1867-1880, Bd. 1, Sp. 904] (‚was dem einen seine Eule, ist dem anderen seine Nachtigall‘ = des einen Freud, des anderen Leid), möglicherweise nach dem Roman Fritz Reuters: „Wat den einen sin Ul is, ist den annern sin Nachtigall.“ [Fritz Reuter: Ut mine Stromtid. Roman. Berlin 1859, S. 70], das ist dem anderen sin Nachtigall. Eine gerichtlich vorausbestimmte, fachmännisch ausgeführte Tötung, die dem hilflosen Landstreicher als das Entsetzen aller Entsetzen erscheint, kann für den geistig hochstehenden Besitzer seelischer Reichtümer doch wohl kaum etwas Furchtbareres haben, als der Tod durch ein Eisenbahnunglück.

Meiner Überzeugung nach ist jede mehrjährige Freiheitsberaubung in unseren heutigen Gefängnissen grausamer als die Todesstrafe. Außerdem werden in den Gefängnissen unter großem Kostenaufwand Existenzen bewahrt und bewacht, die für sich selbst noch in weit höherem Grade als für die Gesellschaft nur mehr einen Minuswert haben. Ihr einziger positiver Wert ist ein rein ideeller, theoretischer, phantastischer, in der Art wie der Wert der LöwenFlorenz, dessen Wappentier der Löwe war, hielt sich wie andere italienische Städte in der Renaissance „gern lebendige Löwen“ und „diese Löwengruben befanden sich in oder bei den Staatspalästen, so in Perugia und Florenz [...]. Diese Thiere [...] hielten [...] einen gewissen Schrecken unter dem Volke wach.“ [Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. 2. Aufl. Leipzig 1869, S. 229] im mittelalterlichen Florenz oder der BärenIn Bern war der „Bärengraben mit lebenden Bären“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 2. Leipzig 1905, S. 709] eine Sehenswürdigkeit von großer „Popularität“ [Iwan von Tschudi: Der Turist in der Schweiz. St. Gallen 1885, S. 65]. im heutigen Berner Stadtgraben: Sie leben nur und müssen leben als die greifbaren Zeugen unseres Gerechtigkeitsgefühls.

Die Vermenschlichung unserer Strafanstalten, wie sie in Amerika in vollem Gang ist, ihre immer intimere Annäherung an das Irrenhaus, das scheint mir ein unvergleichlich wichtigeres, dankbareres und leichter zu erreichendes Ziel zu sein, als die Beseitigung einer Strafe, mit der die zivilisierte Welt zu zwei Dritteilen noch auf unabsehbare Zeiten hinaus eines ihrer teuersten und kraftvollsten Schutzheiligtümer zu verlieren fürchtet.

Mit den besten Empfehlungen und herzlichen Grüßen
Ihr
ergebener
Frank Wedekind.

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Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    23. Oktober 1909 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Werke. Neunter Band. Dramen, Entwürfe, Aufsätze aus dem Nachlaß

Autor:
Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller Verlag
Jahrgang:
1920
Seitenangabe:
382-383
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief mit der in Kastenklammern gesetzten Überschrift „Über Abschaffung der Todesstrafe“ und dem darunter gesetzten Hinweis „(Antwort auf eine Rundfrage)“ überschrieben. – Neuedition des Mitteilungstextes nach der Fassung in der Sammlung „Für oder wider die Todesstrafe? Eine Umfrage bei den führenden Geistern unserer Zeit“ (1910; siehe Erläuterungen): KSA 5/II, S. 394-395.
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Adolf von Wilke, 23.10.1909. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

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Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

31.10.2023 22:17