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Kennung: 4848

Eppan, 13. Oktober 1897 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Bierbaum, Otto Julius

Koautoren*in

  • Meier-Graefe, Julius

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Wir bitten Sie um freundliches Gehör für folgende Darlegung. Sie behandelt ein Vorkommniß, das unseres Erachtens sehr dazu angethan ist, in den Reihen des deutschen Schriftthums, soweit es künstlerische Zwecke verfolgt, mit Aufmerksamkeit betrachtet zu werden.

Wir haben uns deshalb zu einer UmfrageDie von Otto Julius Bierbaum und Julius Meier-Graefe veranstaltete Umfrage „Ueber das Denunzieren. Urtheile deutscher Dichter“ wurde am 7.11.1897 in der „Frankfurter Zeitung“ abgedruckt (siehe zum Erstdruck des offenen Briefes) – mit Wedekinds Antwort [vgl. Wedekind an Otto Julius Bierbaum, Julius Meier-Graefe, 18.10.1897]. entschlossen, die wir an fünfzig43 Antworten auf die Umfrage (siehe oben) – das sind „alle Antworten“, wie in einer Fußnote erklärt ist – wurden in alphabetischer Reihenfolge abgedruckt; sie stammen von Peter Altenberg, Hermann Bahr, Max Bernstein, Karl Bleibtreu, Michael Georg Conrad, Anna Croissant-Rust, Georg Ebers, Ernst Eckstein, Otto Ernst, Gustav Falke, Ilse Frapan, Ludwig Fulda, Marie Eugenie delle Grazie, Eduard Grisebach, Julius Grosse, Klaus Groth, Otto Erich Hartleben, Hermann Heiberg, Karl Henckell, Wilhelm Hertz, Paul Heyse, Hans Hoffmann, Arno Holz, Hugo von Hofmannsthal, Ricarda Huch, Wilhelm Jensen, Detlev von Liliencron, Hermann Lingg, Wilhelm von Polenz, Heinrich von Reder, Gabriele Reuter, Peter Rosegger, Paul Scheerbart, Emil von Schoeneich-Carolath, Friedrich Spielhagen, Carl Spitteler, Maurice von Stern, Bertha von Suttner, Johannes Trojan, Richard Voß, Frank Wedekind, Adolf von Wilbrandt, Joseph Victor Widmann, Ernst von Wolzogen. hervorragende Vertreter dieses Schriftthums ohne Unterschied des Alters und der künstlerischen Standpunkte richten. Wir geben uns der Hoffnung hin, daß auch Sie zu dieser Frage Stellung nehmen werden, und wir bitten Sie, sich dazu der beiliegenden Karte zu bedienen, wenn Sie nicht etwa vorziehen sollten, sich ausführlicher zu äußern. Ehe wir an die Darlegung des FallesDie Presse hatte über den Berliner Zensurprozess gegen Richard Dehmels Gedichtband „Weib und Welt“ (1896), erschienen bei Schuster & Loeffler in Berlin), berichtet: „Die erste Strafkammer des Landgerichts I hatte sich dieser Tage mit dem Buche ‚Weib und Welt‘ des bekannten Lyrikers Richard Dehmel im objectiven Verfahren zu befassen. Der in seinen Mußestunden auch schriftstellernde Referendar Börries von Münchhausen hatte Veranlassung genommen, einige der in jenem Buche enthaltenen Gedichte als ‚unzüchtig und gotteslästerlich‘ der Staatsanwaltschaft zu denunciren. Der als Interessent bei dem Verfahren anwesende Dichter vertheidigte seine Geisteskinder gegen die ihnen widerfahrene Charakteristik mit dem Aufwande seiner ganzen Beredsamkeit und versicherte, daß weder er noch seine Verleger eine ungünstige Entscheidung für möglich hielten. Aber, wie so manchmal im Rechtsleben, das Unerwartete wurde Ereigniß, denn der Gerichtshof erkannte – indem er im Uebrigen die Denunciation für unbegründet erklärte – auf Unbrauchbarmachung eines der Gedichte. Der Dichter hat durch Rechtsanwalt Paul Jonas hiergegen die Revision einlegen lassen.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 413, 4.9.1897, Morgen-Ausgabe, S. (5)] gehen, halten wir es für nöthig, ausdrücklich zu erklären, daß wir, indem wir Ihr Interesse für ihn erbitten, selbstverständlich alles Persönliche von ihm ausscheiden.

Es handelt sich um die Thatsache, daß vor kurzem ein deutsches Gericht auf Grund einer Denunziation eines deutschen Schriftstellers in die Lage versetzt worden ist, sich mit einem Erzeugnisse der poetischen Literatur zu befassen. Das denunzirte Werk ist das Gedichtbuch „Weib und Welt“ von Richard Dehmel, der Denunziant ist der Schriftsteller Börries Frh. von Münchhausen in Göttingen. Das Einschreiten des Staatsanwaltes (als Folge jener Denunziation ausdrücklich anerkannt), das UrtheilDas Landgericht I in Berlin verfügte im Zensurprozess gegen Richard Dehmel (siehe oben), sein Gedicht „Venus Consolatrix“ (lat. ‚Venus als Trösterin‘) im beanstandeten Band [vgl. Richard Dehmel: Weib und Welt. Berlin 1896, S. 119-121] sei in den Exemplaren zu schwärzen. 1901 in der zweiten Auflage war das Gedicht mit entsprechendem Vermerk nicht mehr abgedruckt. des Gerichtes (auf Tilgung eines der angeschuldigten Gedichte lautend und einstweilen in Folge der eingelegten Revision nicht rechtskräftig), die Anwendungvon zwei in Zensurprozessen oft maßgeblichen Paragrafen des Reichsstrafgesetzbuches: § 166 (Gotteslästerung) und § 184 (Verbreitung ‚unzüchtiger Schriften‘). der Gotteslästerungs- und Unzuchtsparagraphen auf ein künstlerisches Erzeugniß: alles dies bleibt ebenso außerhalb des Rahmens unserer Umfrage, wie die Person des Denunzianten und der Werth oder Unwerth des denunzirten Buches. Sie beschränkt sich lediglich auf die Thatsache, daß hier die Denunziation als ein Kampfmittel gegen einen antipathiaschen Berufsgenossen angewandt erscheint. In einer Zeit, in der das künstlerische Schaffen ohnehin von vielen Seiten aus unkünstlerischen Gründen niedergehalten und polizeilich bevormundet wird, scheint es uns von Werth zu sein, Stimmen verschiedenster Art darüber zu vernehmen, ob Angeberei auf literarischem Gebiete als erlaubt und ehrenhaft gelten darf. Wir sthenDruckfehler, recte: stehen. nicht an, mit aller Offenheit zu bekennen, daß wir auf einmüthige Brandmarkung einer solchen Handlungsweise hoffen, und wir erblicken den praktischen Zweck dieser Umfrage darin, daß die übereinstimmende Verwerfung des Denunziantenthums in Kunstdingen dazu beitragen werde, alle die davon abzuschrecken, die etwa gleicher Gesinnung wie der genannte Herr sein sollten. Auch für diesen selber wird es, glauben wir, nur eine wohlverdiente Zurechtweisung sein, wenn er erfährt, wie eine solche Handlungsweise von den verschiedensten Vertretern des schöpferischen Schriftthums jeden Alters in Deutschland beurtheilt wird. Der Umstand, daß es den Anschein haben könnte, als würde ihm, dem noch sehr jungen und unbekannten Manne, dadurch eine unverhältnißmäßige Bedeutung beigelegt, kann uns von unserem Schritte nicht abhalten, die wir, selbst noch zu den Jüngeren gehörend, es mit besonderer Beschämung empfinden, daß eine Angriffsart, die auch zu den Zeiten des heftigsten KampfesAnspielung auf die Auseinandersetzungen im literarischen Feld der 1880er Jahre, als Vertreter der frühen Moderne (die sogenannten ‚Jüngsten‘) sich gegen in der Gründerzeit etablierte literarische Konventionen stellten. zwischen den sogenannten Alten und Jungen stets verschmäht worden ist, nun von einem geübt wird, der mit zur dichtenden Jugend gehören will. Daß es sich in dem vorliegenden Falle wirklich um ein Hinübertragen ästhetischer Gegensätze auf forensischesgerichtliches. Gebiet handelt, geht aus dem Umstand hervor, daß die Denunziation unter Einsendung einer von dem Denunzianten verfaßten feindseligen und theilweise ehrenrührigen Kritik des denunzirten Buches geschehen ist.

Wir formuliren unsere Umfrage, deren Beantwortung wir unter Abdruck dieses Briefes in einer Zeitung von Rang veröffentlichen werden, wie folgt:

Welches ist Ihrer Meinung über die gerichtliche Denunziation in Kunstdingen überhaupt und besonders über die Verwerthung als Kampfmittel gegen literarische Standesgenossen?

Indem wir Sie bitten, Ihre uns sehr werthvolle Antwort uns bis spätestens 25. October zukommen zu lassen, zeichnen wir mit ausgezeichneter
Hochachtung
Otto Julius Bierbaum. Julius Meier-Graefe.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert. Ein maschinenschriftliches Anschreiben (2 Blatt auf einem Doppelblatt, 4 Seiten beschrieben), datiert auf „Mitte Oktober 1897“ in „Schloss Englar in Eppan, Südtirol und Paris, rue Pergolèse 37“ mit der Anrede „Hochgeehrter Herr!“ (handschriftlich von Otto Julius Bierbaum und Julius Meier-Graefe mit Tinte unterzeichnet), ist an einen anderen Adressaten überliefert – an Gerhart Hauptmann [Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Gerhart Hauptmann, GH Br NL A: Bierbaum, Otto, 2, 1-2].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 13.10.1897 ist als Ankerdatum gesetzt – das früheste mögliche Schreibdatum des nicht überlieferten abgesandten Briefs (einen Tag für den Postweg gerechnet), abgeleitet von der frühesten Datierung (14.10.1897) in den abgedruckten datierten Antworten auf die Umfrage (siehe zum Erstdruck). Schreibort dürfte Schloss Englar in Eppan gewesen sein, der Aufenthaltsort von Otto Julius Bierbaum, nicht Paris, wo Julius Meier-Graefe lebte; beide Orte sind in der Umfrage und im Anschreiben an Gerhart Hauptmann (siehe zur Materialität) angegeben.

  • Schreibort

    Eppan
    13. Oktober 1897 (Mittwoch)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Eppan
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Dresden
    Datum unbekannt

Erstdruck

Frankfurter Zeitung

Verlag:
Frankfurt am Main: Frankfurter Societäts-Druckerei
Datum der Zeitung:
0 0
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Ueber das Denunzieren. Urtheile deutscher Dichter, mitgetheilt von Otto Julius Bierbaum (Schloß Englar) und Julius Meier-Graefe (Paris). In: Frankfurter Zeitung, Jg. 42, Nr. 309, 7.11.1897, 1. Morgenblatt, S. 1. Dem offenen Brief ist der Hinweis vorangestellt: „Im Folgenden übergeben wir der Oeffentlichkeit das Ergebnis einer Umfrage, die wir innerhalb des poetischen deutschen Schriftthums veranstaltet haben. Da ihr Grund und ihre Absichten in dem Brief enthalten sind, mit dem wir sie begleitet, so setzen wir diesen in seinem Wortlaute hier voran. Er lautete:“ Dem offenen Brief folgt ein weiterer Hinweis – „Die uns zugegangenen Antworten lauten:“ – und anschließend die genannten Antworten [S. 1-3].
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Otto Julius Bierbaum, Julius Meier-Graefe an Frank Wedekind, 13.10.1897. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

27.04.2024 10:33
Kennung: 4848

Eppan, 13. Oktober 1897 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Bierbaum, Otto Julius

Koautoren*in

  • Meier-Graefe, Julius

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Wir bitten Sie um freundliches Gehör für folgende Darlegung. Sie behandelt ein Vorkommniß, das unseres Erachtens sehr dazu angethan ist, in den Reihen des deutschen Schriftthums, soweit es künstlerische Zwecke verfolgt, mit Aufmerksamkeit betrachtet zu werden.

Wir haben uns deshalb zu einer UmfrageDie von Otto Julius Bierbaum und Julius Meier-Graefe veranstaltete Umfrage „Ueber das Denunzieren. Urtheile deutscher Dichter“ wurde am 7.11.1897 in der „Frankfurter Zeitung“ abgedruckt (siehe zum Erstdruck des offenen Briefes) – mit Wedekinds Antwort [vgl. Wedekind an Otto Julius Bierbaum, Julius Meier-Graefe, 18.10.1897]. entschlossen, die wir an fünfzig43 Antworten auf die Umfrage (siehe oben) – das sind „alle Antworten“, wie in einer Fußnote erklärt ist – wurden in alphabetischer Reihenfolge abgedruckt; sie stammen von Peter Altenberg, Hermann Bahr, Max Bernstein, Karl Bleibtreu, Michael Georg Conrad, Anna Croissant-Rust, Georg Ebers, Ernst Eckstein, Otto Ernst, Gustav Falke, Ilse Frapan, Ludwig Fulda, Marie Eugenie delle Grazie, Eduard Grisebach, Julius Grosse, Klaus Groth, Otto Erich Hartleben, Hermann Heiberg, Karl Henckell, Wilhelm Hertz, Paul Heyse, Hans Hoffmann, Arno Holz, Hugo von Hofmannsthal, Ricarda Huch, Wilhelm Jensen, Detlev von Liliencron, Hermann Lingg, Wilhelm von Polenz, Heinrich von Reder, Gabriele Reuter, Peter Rosegger, Paul Scheerbart, Emil von Schoeneich-Carolath, Friedrich Spielhagen, Carl Spitteler, Maurice von Stern, Bertha von Suttner, Johannes Trojan, Richard Voß, Frank Wedekind, Adolf von Wilbrandt, Joseph Victor Widmann, Ernst von Wolzogen. hervorragende Vertreter dieses Schriftthums ohne Unterschied des Alters und der künstlerischen Standpunkte richten. Wir geben uns der Hoffnung hin, daß auch Sie zu dieser Frage Stellung nehmen werden, und wir bitten Sie, sich dazu der beiliegenden Karte zu bedienen, wenn Sie nicht etwa vorziehen sollten, sich ausführlicher zu äußern. Ehe wir an die Darlegung des FallesDie Presse hatte über den Berliner Zensurprozess gegen Richard Dehmels Gedichtband „Weib und Welt“ (1896), erschienen bei Schuster & Loeffler in Berlin), berichtet: „Die erste Strafkammer des Landgerichts I hatte sich dieser Tage mit dem Buche ‚Weib und Welt‘ des bekannten Lyrikers Richard Dehmel im objectiven Verfahren zu befassen. Der in seinen Mußestunden auch schriftstellernde Referendar Börries von Münchhausen hatte Veranlassung genommen, einige der in jenem Buche enthaltenen Gedichte als ‚unzüchtig und gotteslästerlich‘ der Staatsanwaltschaft zu denunciren. Der als Interessent bei dem Verfahren anwesende Dichter vertheidigte seine Geisteskinder gegen die ihnen widerfahrene Charakteristik mit dem Aufwande seiner ganzen Beredsamkeit und versicherte, daß weder er noch seine Verleger eine ungünstige Entscheidung für möglich hielten. Aber, wie so manchmal im Rechtsleben, das Unerwartete wurde Ereigniß, denn der Gerichtshof erkannte – indem er im Uebrigen die Denunciation für unbegründet erklärte – auf Unbrauchbarmachung eines der Gedichte. Der Dichter hat durch Rechtsanwalt Paul Jonas hiergegen die Revision einlegen lassen.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 413, 4.9.1897, Morgen-Ausgabe, S. (5)] gehen, halten wir es für nöthig, ausdrücklich zu erklären, daß wir, indem wir Ihr Interesse für ihn erbitten, selbstverständlich alles Persönliche von ihm ausscheiden.

Es handelt sich um die Thatsache, daß vor kurzem ein deutsches Gericht auf Grund einer Denunziation eines deutschen Schriftstellers in die Lage versetzt worden ist, sich mit einem Erzeugnisse der poetischen Literatur zu befassen. Das denunzirte Werk ist das Gedichtbuch „Weib und Welt“ von Richard Dehmel, der Denunziant ist der Schriftsteller Börries Frh. von Münchhausen in Göttingen. Das Einschreiten des Staatsanwaltes (als Folge jener Denunziation ausdrücklich anerkannt), das UrtheilDas Landgericht I in Berlin verfügte im Zensurprozess gegen Richard Dehmel (siehe oben), sein Gedicht „Venus Consolatrix“ (lat. ‚Venus als Trösterin‘) im beanstandeten Band [vgl. Richard Dehmel: Weib und Welt. Berlin 1896, S. 119-121] sei in den Exemplaren zu schwärzen. 1901 in der zweiten Auflage war das Gedicht mit entsprechendem Vermerk nicht mehr abgedruckt. des Gerichtes (auf Tilgung eines der angeschuldigten Gedichte lautend und einstweilen in Folge der eingelegten Revision nicht rechtskräftig), die Anwendungvon zwei in Zensurprozessen oft maßgeblichen Paragrafen des Reichsstrafgesetzbuches: § 166 (Gotteslästerung) und § 184 (Verbreitung ‚unzüchtiger Schriften‘). der Gotteslästerungs- und Unzuchtsparagraphen auf ein künstlerisches Erzeugniß: alles dies bleibt ebenso außerhalb des Rahmens unserer Umfrage, wie die Person des Denunzianten und der Werth oder Unwerth des denunzirten Buches. Sie beschränkt sich lediglich auf die Thatsache, daß hier die Denunziation als ein Kampfmittel gegen einen antipathiaschen Berufsgenossen angewandt erscheint. In einer Zeit, in der das künstlerische Schaffen ohnehin von vielen Seiten aus unkünstlerischen Gründen niedergehalten und polizeilich bevormundet wird, scheint es uns von Werth zu sein, Stimmen verschiedenster Art darüber zu vernehmen, ob Angeberei auf literarischem Gebiete als erlaubt und ehrenhaft gelten darf. Wir sthenDruckfehler, recte: stehen. nicht an, mit aller Offenheit zu bekennen, daß wir auf einmüthige Brandmarkung einer solchen Handlungsweise hoffen, und wir erblicken den praktischen Zweck dieser Umfrage darin, daß die übereinstimmende Verwerfung des Denunziantenthums in Kunstdingen dazu beitragen werde, alle die davon abzuschrecken, die etwa gleicher Gesinnung wie der genannte Herr sein sollten. Auch für diesen selber wird es, glauben wir, nur eine wohlverdiente Zurechtweisung sein, wenn er erfährt, wie eine solche Handlungsweise von den verschiedensten Vertretern des schöpferischen Schriftthums jeden Alters in Deutschland beurtheilt wird. Der Umstand, daß es den Anschein haben könnte, als würde ihm, dem noch sehr jungen und unbekannten Manne, dadurch eine unverhältnißmäßige Bedeutung beigelegt, kann uns von unserem Schritte nicht abhalten, die wir, selbst noch zu den Jüngeren gehörend, es mit besonderer Beschämung empfinden, daß eine Angriffsart, die auch zu den Zeiten des heftigsten KampfesAnspielung auf die Auseinandersetzungen im literarischen Feld der 1880er Jahre, als Vertreter der frühen Moderne (die sogenannten ‚Jüngsten‘) sich gegen in der Gründerzeit etablierte literarische Konventionen stellten. zwischen den sogenannten Alten und Jungen stets verschmäht worden ist, nun von einem geübt wird, der mit zur dichtenden Jugend gehören will. Daß es sich in dem vorliegenden Falle wirklich um ein Hinübertragen ästhetischer Gegensätze auf forensischesgerichtliches. Gebiet handelt, geht aus dem Umstand hervor, daß die Denunziation unter Einsendung einer von dem Denunzianten verfaßten feindseligen und theilweise ehrenrührigen Kritik des denunzirten Buches geschehen ist.

Wir formuliren unsere Umfrage, deren Beantwortung wir unter Abdruck dieses Briefes in einer Zeitung von Rang veröffentlichen werden, wie folgt:

Welches ist Ihrer Meinung über die gerichtliche Denunziation in Kunstdingen überhaupt und besonders über die Verwerthung als Kampfmittel gegen literarische Standesgenossen?

Indem wir Sie bitten, Ihre uns sehr werthvolle Antwort uns bis spätestens 25. October zukommen zu lassen, zeichnen wir mit ausgezeichneter
Hochachtung
Otto Julius Bierbaum. Julius Meier-Graefe.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert. Ein maschinenschriftliches Anschreiben (2 Blatt auf einem Doppelblatt, 4 Seiten beschrieben), datiert auf „Mitte Oktober 1897“ in „Schloss Englar in Eppan, Südtirol und Paris, rue Pergolèse 37“ mit der Anrede „Hochgeehrter Herr!“ (handschriftlich von Otto Julius Bierbaum und Julius Meier-Graefe mit Tinte unterzeichnet), ist an einen anderen Adressaten überliefert – an Gerhart Hauptmann [Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Gerhart Hauptmann, GH Br NL A: Bierbaum, Otto, 2, 1-2].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 13.10.1897 ist als Ankerdatum gesetzt – das früheste mögliche Schreibdatum des nicht überlieferten abgesandten Briefs (einen Tag für den Postweg gerechnet), abgeleitet von der frühesten Datierung (14.10.1897) in den abgedruckten datierten Antworten auf die Umfrage (siehe zum Erstdruck). Schreibort dürfte Schloss Englar in Eppan gewesen sein, der Aufenthaltsort von Otto Julius Bierbaum, nicht Paris, wo Julius Meier-Graefe lebte; beide Orte sind in der Umfrage und im Anschreiben an Gerhart Hauptmann (siehe zur Materialität) angegeben.

  • Schreibort

    Eppan
    13. Oktober 1897 (Mittwoch)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Eppan
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Dresden
    Datum unbekannt

Erstdruck

Frankfurter Zeitung

Verlag:
Frankfurt am Main: Frankfurter Societäts-Druckerei
Datum der Zeitung:
0 0
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Ueber das Denunzieren. Urtheile deutscher Dichter, mitgetheilt von Otto Julius Bierbaum (Schloß Englar) und Julius Meier-Graefe (Paris). In: Frankfurter Zeitung, Jg. 42, Nr. 309, 7.11.1897, 1. Morgenblatt, S. 1. Dem offenen Brief ist der Hinweis vorangestellt: „Im Folgenden übergeben wir der Oeffentlichkeit das Ergebnis einer Umfrage, die wir innerhalb des poetischen deutschen Schriftthums veranstaltet haben. Da ihr Grund und ihre Absichten in dem Brief enthalten sind, mit dem wir sie begleitet, so setzen wir diesen in seinem Wortlaute hier voran. Er lautete:“ Dem offenen Brief folgt ein weiterer Hinweis – „Die uns zugegangenen Antworten lauten:“ – und anschließend die genannten Antworten [S. 1-3].
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Otto Julius Bierbaum, Julius Meier-Graefe an Frank Wedekind, 13.10.1897. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

27.04.2024 10:33