Vergleichsansicht

Bitte wählen Sie je ein Dokument für die linke und rechte Seite über die Eingabefelder aus.

Kennung: 4707

München, 27. Dezember 1911 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Gruber, Max von
  • Münchner Zensurbeirat, (Gremium)
 
 

Inhalt

An jedes einzelne Mitglied des Münchner ZensurbeiratesDer Münchner Polizeipräsident Julius von der Heydte hatte Anfang 1908 ein aus Münchner Honoratioren zusammengesetztes Gremium (Schriftsteller, Theaterleute, Universitätsprofessoren, Oberstudienräte) berufen, um seine „zensurpolitischen Entscheidungen durch den Rat der Gutachter zu legitimieren.“ [Vinçon 2014, S. 213] Nach der ersten Besprechung am 20.3.1908 war der Münchner Zensurbeirat konstituiert, dessen Vorsitzender der Münchner Polizeipräsident war und der bis zur Aufhebung der Theaterzensur am 21.11.1918 in teils wechselnder, teils konstanter Zusammensetzung bestehen blieb [vgl. Meyer 1982, S. 86]. Der Münchner Zensurbeirat sprach sich wiederholt mehrheitlich gegen die Aufführung von Wedekinds Dramen aus [vgl. KSA 5/III, S. 776f.]; „Objekt und Opfer der Zensurverbote war regelmäßig Frank Wedekind.“ [Meyer 1982, S. 68] Wedekind hat seinen auch jeweils privat versandten offenen Brief „Sieben Fragen“ nur an 12 Mitglieder des Zensurbeirats adressiert (sie sind alle namentlich genannt); er „führte [...] nur die Hälfte der Mitglieder auf [...] prominente Namen [...] fehlten, von denen er wußte, daß sie dem Beirat angehörten“; es „muß in der von Wedekind getroffenen Auswahl eine Absicht gelegen haben, die [...] nicht mehr erkennbar ist.“ [Meyer 1982, S. 259], an die Herren:
Hofschauspieler Basilvgl. Wedekind an Fritz Basil, 27.12.1911., Geheimer Hofrat Crusiusvgl. Wedekind an Otto Crusius, 27.12.1911., Medizinalrat Dr. GruberProf. Dr. med. Max von Gruber (1908 zum Ritter geadelt) in München (Prinzenstraße 10), Königlicher Obermedizinalrat, Universitätsprofessor, Vorsteher des Hygiene-Instituts, Kaiserlich-Königlicher österreichischer Hofrat und Mitglied der Akademie der Wissenschaften [vgl. Adreßbuch für München und Umgebung 1912, Teil I, S. 201], war Mitglied des Münchner Zensurbeirats [vgl. Meyer 1982, S. 86]., Schulrat Dr. Kerschensteinervgl. Wedekind an Georg Kerschensteiner, 27.12.1911., Hofrat Professor Dr. Kraepelinvgl. Wedekind an Emil Kraepelin, 27.12.1911., Professor Graf Du Moulin-Eckartvgl. Wedekind an Richard Du Moulin-Eckart, 27.12.1911., Professor Dr. Munckervgl. Wedekind an Franz Muncker, 27.12.1911., Intendant Ritter v. Possartvgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911., Oberregisseur Savitsvgl. Wedekind an Jocza Savits, 27.12.1911., Professor Stadlervgl. Wedekind an Anton von Stadler, 27.12.1911., Professor Dr. Sulger-Gebingvgl. Wedekind an Emil Sulger-Gebing, 27.12.1911., Professor Dr. Vollvgl. Wedekind an Karl Voll, 27.12.1911.,
beehre ich mich, öffentlich folgende Fragen zu richten:

1. Frage: Kennen Sie meinen EinakterWedekinds Stück „Die Zensur. Theodizee in einem Akt“ (1908), in dem sich in der 2. Szene der Literat Walter Buridan (Verfasser eines Trauerspiels „Pandora“) und der Sekretär des Beichtvaters Dr. Cajetan Prantl über Theaterzensur unterhalten und über die „sittlichen Empfindungen“ [KSA 6, S. 219] des Theaterpublikums unterschiedlicher Ansicht sind.Die Zensur“ und wissen Sie, was ich darin über die Beziehungen zwischen Sittlichkeit und Schauspiel gesagt habe?

Was haben Sie über die Beziehungen zwischen Sittlichkeit und Schauspiel geschrieben oder veröffentlicht, woraus ich meine Ansichten über diesen Gegenstand korrigieren könnte?

2. Frage: Wie vereinbaren Sie es mit dem Charakter des anständigen Menschen, einen Kollegen oder gar Konkurrenten eventuell zu schädigen durch ein Gutachten, das niemals zur Kenntnis der Oeffentlichkeit gelangt, das vor Ihrem Kollegen oder Konkurrenten aufs strengsteim einzigen überlieferten Originalbrief, den Wedekind an Mitglieder des Münchner Zensurbeirats sandte, handschriftlich ergänzt [vgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911]. geheim gehalten wird, gegen das sich zu verteidigen Ihr Kollege oder Konkurrent nicht die allergeringste Möglichkeit hat?

3. Frage: Billigen Sie das Inquisitionsprinzipdas „dem Inquisitionsprozeß [...] zugrunde liegende Prinzip, daß Beweise und Beweismittel vom Gericht und nicht, wie beim Verhandlungsprinzip [...], von den Parteien aufgesucht und beschafft werden.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 9, Leipzig 1907, S. 856] Es beruht auf dem Ausschluss der Öffentlichkeit, auf strenger Geheimhaltung dem Betroffenen gegenüber, dem damit Verteidigungsmöglichkeiten genommen sind; verfolgende und urteilende Instanz sind identisch. Wedekind hat in den „Sieben Fragen“ die „als Gegendiskurs zur Aufklärung geläufige Inquisitionsmetapher“ [Martin 2018a, S. 26] rhetorisch aufgenommen, um gegen Zensur als Phänomen struktureller Gewalt anzugehen, verkörpert im Münchner Zensurbeirat, den er auch in seinen „satirischen Gedichten“ [KSA 5/III, S. 777] „Zensurbeirat“ [vgl. KSA 1/I, S. 587f.], im Druck „Münchner Zensurbeirat“ [vgl. KSA 1/I, S. 682f.], und „Herr von der Heydte“ [vgl. KSA 1/I, S. 592-594] verspottete. „Der besondere Witz“ der im offenen Brief formulierten sieben Fragen „liegt darin, dass es scharf formulierte Fragen sind und Wedekind somit das der Inquisition eigene Verfahren der ‚peinlichen Befragung‘ für seine Zwecke anwandte. Er betrieb zudem mit diesen Fragen das Gegenteil von Geheimhaltung, einem für das Inquisitionsprinzip konstitutiven Element, indem er mit ihnen in die Öffentlichkeit und in die Offensive ging.“ [Martin 2018a, S. 33f.], das von der Münchner Polizeibehörde in Zensurangelegenheiten insofern Anwendung findet, als die Beweise nicht von dem zu Beurteilenden, sondern vom Richter aufgesucht und beschafft werden, als die Gründe, die die Entscheidung bestimmen, vor dem Beurteilten aufs strengste verheimlicht werden, als dem Beurteilten jede Möglichkeit, sich zu erklären oder zu verteidigen, benommen ist?

4. Frage: Welcher wesentliche Unterschied besteht zwischen dem Geheimverfahren eines Inquisitionsgerichtesein Gericht im Zusammenhang der Inquisition im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, das insbesondere Häresie verfolgte und das Inquisitionsprinzip (siehe oben) anwandte. und demjenigen des Münchner Zensurbeirates?

5 Frage: Welche Gründe haben Sie dafür anzuführen, daß ich, Frank Wedekind, dem Münchner Zensurbeirat nicht angehöre, sondern für diese Institution nur als Begutachteter, nur als Be- und Verurteilter in Betracht komme?

6. Frage: Da das Verhältnis vom Gutachter zum Begutachteten, zwischen Ihnen und mir kein gegenseitiges, sondern ein durchaus einseitiges ist, wollen Sie mir die Frage verzeihen, durch welches besondere Verdienst Ihrerseits und durch welches besondere Verschulden meinerseits Sie diese für mich sehr nachteilige Einseitigkeit für begründet und gerechtfertigt halten?

7. Frage: Da ich in Ihren persönlichen Mut keinen Zweifel setze, frage ich Sie, ob Sie mir die Ehre erweisen wollen, mir gegenüber für die Urteile einzutreten, die Sie zu Handen der Münchner Polizeibehörde über meine Theaterstücke gefällt haben.

Wenn ja, wie lauteten Ihre Urteile?

Diese sieben Fragen wurden durch die beschimpfende menschenunwürdige Behandlungsweise veranlaßt, die ich mir seit drei Jahrenseit 1908, als im Frühjahr der Münchner Zensurbeirat gegründet wurde (siehe oben). von der Münchner Zensurbehörde bieten lassen muß und die sich nach der Aussage des Münchner PolizeipräsidentenJulius von der Heydte, der Münchner Polizeipräsident, hatte Anfang 1908 den Münchner Zensurbeirat initiiert (siehe oben). Wedekind hatte ihn am 2.6.1911 in München aufgesucht: „Audienz [...] beim Polizeipräsidenten“ [Tb]. auf die Urteile gründet, die der Zensurbeirat über meine literarischen Arbeiten gefällt hat.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert. Der Erstdruck in den „Münchner Neuesten Nachrichten“, der „den Text vollständig wiedergibt“ [KSA 5/III, S. 776], hat aus dem maschinschriftlich zugesandten Brief – „Das Typoskript wurde mehrfach ausgefertigt und sowohl an jedes Mitglied des Münchner Zensurbeirates als auch an die Presse verschickt“ [KSA 5/III, S. 775] – auch eine handschriftliche Einfügung („aufs strengste“) übernommen, wie anhand des einzigen Exemplars zu belegen ist, das von den an 12 Mitglieder des Münchner Zensurbeirats abgesandten Briefes überliefert ist [vgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 27.12.1911 ist als Ankerdatum gesetzt – das späteste mögliche Schreibdatum, da der Brief noch abgeschrieben und das Typoskript vervielfacht werden musste, das Wedekind dem Tagebuch zufolge am 28.12.1911 an die zwölf namentlich genannten Empfänger – darunter Max von Gruber – sowie als Beilage an Zeitungen sandte („7 Zensurfragen expediert“) und der offene Brief zuerst am 29.12.1911 erschien („Zensurbeirat-Fragen erschienen“) – in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ (im Vorabendblatt einen Tag vordatiert); den Plan zu dem offenen und jeweils einzeln verschickten Brief an Mitglieder des Münchner Zensurbeirats dürfte Wedekind am 12.12.1911 – sich mit Franz Blei und Carl Sternheim beratend – gefasst haben („Mit Blei Sternheim im Café Protest besprochen“).

Erstdruck

Münchner Neueste Nachrichten

Verlag:
München: Knorr und Hirth
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 608, 30.12.1911, Vorabendblatt, S. 3 (Rubrik: „Literatur und Wissenschaft“). Das Vorabendblatt der „Münchner Neuesten Nachrichten“ erschien jeweils vordatiert am Vorabend (hier am 29.12.1911). Redaktionelle Einleitung: „An den Münchner Zensurbeirat richtet Frank Wedekind sieben Fragen. Sein Schreiben lautet:“ – Den Tag darauf erschien der offene Brief im „Berliner Tageblatt“ [vgl. KSA 5/III, S. 778f.] sowie in weiteren Zeitungen in Hamburg und Wien [vgl. Martin 2018a, S. 33], „ferner Zeitungen in [...] Dresden, Düsseldorf, [...] Königsberg, Nürnberg“ [Meyer 1982, S. 259]. Das „Berliner Tageblatt“ kürzte leicht und referierte den Inhalt des ursprünglich abschließenden Absatzes sowie den die Adressaten nennenden ersten Absatz [vgl. Frank Wedekind und der Münchener Zensurbeirat. In: Berliner Tageblatt, Jg. 40, Nr. 662, 30.12.1911, Abend-Ausgabe, S. (3)]. Der „Hamburgische Correspondent“ (Rubrik: „Kleines Feuilleton“) brachte den vollständigen Text, redaktionell eingeleitet: „Frank Wedekind, dessen Stücke in München seit drei Jahren durch die Zensur verboten sind, ist infolgedessen sehr nervös geworden, wie aus dem folgenden Schreiben hervorgeht, das er an den Münchner Zensur-Beirat richtet:“ [Hamburgischer Correspondent, Jg. 181, Nr. 662, 30.12.1911, Abend-Ausgabe, Beilage, S. 2] Die „Neue Hamburger Zeitung“ (Rubrik: „Kunst und Wissenschaft“) brachte redaktionell eingeleitet in Auswahl die Fragen 2, 6 und 7 sowie den Schlussabsatz [vgl. Frank Wedekind und die Zensur. In: Neue Hamburger Zeitung, Jg. 16, Nr. 610, 30.12.1911, Abend-Ausgabe, S. (2)]. Das „Neue Wiener Tagblatt“ (Rubrik: „Theater, Kunst und Literatur“) zitierte die Fragen 1, 2, 4, 5 sowie den Schlussabsatz und referierte die Fragen 3, 6 und 7 in redaktionellen Text eingebettet, in dem es heißt: „Aus München wird uns telegraphiert: Frank Wedekind, der in letzter Zeit wiederholt die Presse zu Hilfe genommen hat, um gegen gewisse literarische und künstlerische Mißstände anzukämpfen, unter denen besonders er persönlich als Schriftsteller zu leiden hatte, veröffentlicht heute an die Adresse des Münchner Zensurbeirates sieben Fragen, die an jedes einzelne Mitglied dieses Beirates gerichtet sind. Es sind dies die Herren [...]. Beachtenswert ist, daß Max Halbe sein Amt als Zensurbeirat zurückgelegt hat.“ [Wedekind und die Münchner Zensur. In: Neues Wiener Tagblatt, Jg. 45, Nr. 358, 30.12.1911, S. 14] Gekürzt und in redaktionellen Text eingebettet erschien der offene Brief einen Tag später auch andernorts [vgl. Fragen Frank Wedekinds. In: Dresdner neueste Nachrichten, Nr. 355, 31.12.1911, 1. Ausgabe, S. 3]. Die konservative Münchner „Allgemeine Zeitung“ brachte ihn einige Tage später kritisch kommentiert in einen Artikel integriert [vgl. Coelestinus: Frank Wedekind und die Zensur. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 115, Nr. 1, 6.1.1912, S. 11-12]. – Neuedition (nach dem erhaltenen Typoskript des vervielfältigten Briefes, das an Ernst von Possart ging): KSA 5/II, S. 426-427.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Max von Gruber, (Gremium) Münchner Zensurbeirat, 27.12.1911. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

17.07.2023 09:50
Kennung: 4707

München, 27. Dezember 1911 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Gruber, Max von
  • Münchner Zensurbeirat, (Gremium)
 
 

Inhalt

An jedes einzelne Mitglied des Münchner ZensurbeiratesDer Münchner Polizeipräsident Julius von der Heydte hatte Anfang 1908 ein aus Münchner Honoratioren zusammengesetztes Gremium (Schriftsteller, Theaterleute, Universitätsprofessoren, Oberstudienräte) berufen, um seine „zensurpolitischen Entscheidungen durch den Rat der Gutachter zu legitimieren.“ [Vinçon 2014, S. 213] Nach der ersten Besprechung am 20.3.1908 war der Münchner Zensurbeirat konstituiert, dessen Vorsitzender der Münchner Polizeipräsident war und der bis zur Aufhebung der Theaterzensur am 21.11.1918 in teils wechselnder, teils konstanter Zusammensetzung bestehen blieb [vgl. Meyer 1982, S. 86]. Der Münchner Zensurbeirat sprach sich wiederholt mehrheitlich gegen die Aufführung von Wedekinds Dramen aus [vgl. KSA 5/III, S. 776f.]; „Objekt und Opfer der Zensurverbote war regelmäßig Frank Wedekind.“ [Meyer 1982, S. 68] Wedekind hat seinen auch jeweils privat versandten offenen Brief „Sieben Fragen“ nur an 12 Mitglieder des Zensurbeirats adressiert (sie sind alle namentlich genannt); er „führte [...] nur die Hälfte der Mitglieder auf [...] prominente Namen [...] fehlten, von denen er wußte, daß sie dem Beirat angehörten“; es „muß in der von Wedekind getroffenen Auswahl eine Absicht gelegen haben, die [...] nicht mehr erkennbar ist.“ [Meyer 1982, S. 259], an die Herren:
Hofschauspieler Basilvgl. Wedekind an Fritz Basil, 27.12.1911., Geheimer Hofrat Crusiusvgl. Wedekind an Otto Crusius, 27.12.1911., Medizinalrat Dr. GruberProf. Dr. med. Max von Gruber (1908 zum Ritter geadelt) in München (Prinzenstraße 10), Königlicher Obermedizinalrat, Universitätsprofessor, Vorsteher des Hygiene-Instituts, Kaiserlich-Königlicher österreichischer Hofrat und Mitglied der Akademie der Wissenschaften [vgl. Adreßbuch für München und Umgebung 1912, Teil I, S. 201], war Mitglied des Münchner Zensurbeirats [vgl. Meyer 1982, S. 86]., Schulrat Dr. Kerschensteinervgl. Wedekind an Georg Kerschensteiner, 27.12.1911., Hofrat Professor Dr. Kraepelinvgl. Wedekind an Emil Kraepelin, 27.12.1911., Professor Graf Du Moulin-Eckartvgl. Wedekind an Richard Du Moulin-Eckart, 27.12.1911., Professor Dr. Munckervgl. Wedekind an Franz Muncker, 27.12.1911., Intendant Ritter v. Possartvgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911., Oberregisseur Savitsvgl. Wedekind an Jocza Savits, 27.12.1911., Professor Stadlervgl. Wedekind an Anton von Stadler, 27.12.1911., Professor Dr. Sulger-Gebingvgl. Wedekind an Emil Sulger-Gebing, 27.12.1911., Professor Dr. Vollvgl. Wedekind an Karl Voll, 27.12.1911.,
beehre ich mich, öffentlich folgende Fragen zu richten:

1. Frage: Kennen Sie meinen EinakterWedekinds Stück „Die Zensur. Theodizee in einem Akt“ (1908), in dem sich in der 2. Szene der Literat Walter Buridan (Verfasser eines Trauerspiels „Pandora“) und der Sekretär des Beichtvaters Dr. Cajetan Prantl über Theaterzensur unterhalten und über die „sittlichen Empfindungen“ [KSA 6, S. 219] des Theaterpublikums unterschiedlicher Ansicht sind.Die Zensur“ und wissen Sie, was ich darin über die Beziehungen zwischen Sittlichkeit und Schauspiel gesagt habe?

Was haben Sie über die Beziehungen zwischen Sittlichkeit und Schauspiel geschrieben oder veröffentlicht, woraus ich meine Ansichten über diesen Gegenstand korrigieren könnte?

2. Frage: Wie vereinbaren Sie es mit dem Charakter des anständigen Menschen, einen Kollegen oder gar Konkurrenten eventuell zu schädigen durch ein Gutachten, das niemals zur Kenntnis der Oeffentlichkeit gelangt, das vor Ihrem Kollegen oder Konkurrenten aufs strengsteim einzigen überlieferten Originalbrief, den Wedekind an Mitglieder des Münchner Zensurbeirats sandte, handschriftlich ergänzt [vgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911]. geheim gehalten wird, gegen das sich zu verteidigen Ihr Kollege oder Konkurrent nicht die allergeringste Möglichkeit hat?

3. Frage: Billigen Sie das Inquisitionsprinzipdas „dem Inquisitionsprozeß [...] zugrunde liegende Prinzip, daß Beweise und Beweismittel vom Gericht und nicht, wie beim Verhandlungsprinzip [...], von den Parteien aufgesucht und beschafft werden.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 9, Leipzig 1907, S. 856] Es beruht auf dem Ausschluss der Öffentlichkeit, auf strenger Geheimhaltung dem Betroffenen gegenüber, dem damit Verteidigungsmöglichkeiten genommen sind; verfolgende und urteilende Instanz sind identisch. Wedekind hat in den „Sieben Fragen“ die „als Gegendiskurs zur Aufklärung geläufige Inquisitionsmetapher“ [Martin 2018a, S. 26] rhetorisch aufgenommen, um gegen Zensur als Phänomen struktureller Gewalt anzugehen, verkörpert im Münchner Zensurbeirat, den er auch in seinen „satirischen Gedichten“ [KSA 5/III, S. 777] „Zensurbeirat“ [vgl. KSA 1/I, S. 587f.], im Druck „Münchner Zensurbeirat“ [vgl. KSA 1/I, S. 682f.], und „Herr von der Heydte“ [vgl. KSA 1/I, S. 592-594] verspottete. „Der besondere Witz“ der im offenen Brief formulierten sieben Fragen „liegt darin, dass es scharf formulierte Fragen sind und Wedekind somit das der Inquisition eigene Verfahren der ‚peinlichen Befragung‘ für seine Zwecke anwandte. Er betrieb zudem mit diesen Fragen das Gegenteil von Geheimhaltung, einem für das Inquisitionsprinzip konstitutiven Element, indem er mit ihnen in die Öffentlichkeit und in die Offensive ging.“ [Martin 2018a, S. 33f.], das von der Münchner Polizeibehörde in Zensurangelegenheiten insofern Anwendung findet, als die Beweise nicht von dem zu Beurteilenden, sondern vom Richter aufgesucht und beschafft werden, als die Gründe, die die Entscheidung bestimmen, vor dem Beurteilten aufs strengste verheimlicht werden, als dem Beurteilten jede Möglichkeit, sich zu erklären oder zu verteidigen, benommen ist?

4. Frage: Welcher wesentliche Unterschied besteht zwischen dem Geheimverfahren eines Inquisitionsgerichtesein Gericht im Zusammenhang der Inquisition im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, das insbesondere Häresie verfolgte und das Inquisitionsprinzip (siehe oben) anwandte. und demjenigen des Münchner Zensurbeirates?

5 Frage: Welche Gründe haben Sie dafür anzuführen, daß ich, Frank Wedekind, dem Münchner Zensurbeirat nicht angehöre, sondern für diese Institution nur als Begutachteter, nur als Be- und Verurteilter in Betracht komme?

6. Frage: Da das Verhältnis vom Gutachter zum Begutachteten, zwischen Ihnen und mir kein gegenseitiges, sondern ein durchaus einseitiges ist, wollen Sie mir die Frage verzeihen, durch welches besondere Verdienst Ihrerseits und durch welches besondere Verschulden meinerseits Sie diese für mich sehr nachteilige Einseitigkeit für begründet und gerechtfertigt halten?

7. Frage: Da ich in Ihren persönlichen Mut keinen Zweifel setze, frage ich Sie, ob Sie mir die Ehre erweisen wollen, mir gegenüber für die Urteile einzutreten, die Sie zu Handen der Münchner Polizeibehörde über meine Theaterstücke gefällt haben.

Wenn ja, wie lauteten Ihre Urteile?

Diese sieben Fragen wurden durch die beschimpfende menschenunwürdige Behandlungsweise veranlaßt, die ich mir seit drei Jahrenseit 1908, als im Frühjahr der Münchner Zensurbeirat gegründet wurde (siehe oben). von der Münchner Zensurbehörde bieten lassen muß und die sich nach der Aussage des Münchner PolizeipräsidentenJulius von der Heydte, der Münchner Polizeipräsident, hatte Anfang 1908 den Münchner Zensurbeirat initiiert (siehe oben). Wedekind hatte ihn am 2.6.1911 in München aufgesucht: „Audienz [...] beim Polizeipräsidenten“ [Tb]. auf die Urteile gründet, die der Zensurbeirat über meine literarischen Arbeiten gefällt hat.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert. Der Erstdruck in den „Münchner Neuesten Nachrichten“, der „den Text vollständig wiedergibt“ [KSA 5/III, S. 776], hat aus dem maschinschriftlich zugesandten Brief – „Das Typoskript wurde mehrfach ausgefertigt und sowohl an jedes Mitglied des Münchner Zensurbeirates als auch an die Presse verschickt“ [KSA 5/III, S. 775] – auch eine handschriftliche Einfügung („aufs strengste“) übernommen, wie anhand des einzigen Exemplars zu belegen ist, das von den an 12 Mitglieder des Münchner Zensurbeirats abgesandten Briefes überliefert ist [vgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 27.12.1911 ist als Ankerdatum gesetzt – das späteste mögliche Schreibdatum, da der Brief noch abgeschrieben und das Typoskript vervielfacht werden musste, das Wedekind dem Tagebuch zufolge am 28.12.1911 an die zwölf namentlich genannten Empfänger – darunter Max von Gruber – sowie als Beilage an Zeitungen sandte („7 Zensurfragen expediert“) und der offene Brief zuerst am 29.12.1911 erschien („Zensurbeirat-Fragen erschienen“) – in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ (im Vorabendblatt einen Tag vordatiert); den Plan zu dem offenen und jeweils einzeln verschickten Brief an Mitglieder des Münchner Zensurbeirats dürfte Wedekind am 12.12.1911 – sich mit Franz Blei und Carl Sternheim beratend – gefasst haben („Mit Blei Sternheim im Café Protest besprochen“).

Erstdruck

Münchner Neueste Nachrichten

Verlag:
München: Knorr und Hirth
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 608, 30.12.1911, Vorabendblatt, S. 3 (Rubrik: „Literatur und Wissenschaft“). Das Vorabendblatt der „Münchner Neuesten Nachrichten“ erschien jeweils vordatiert am Vorabend (hier am 29.12.1911). Redaktionelle Einleitung: „An den Münchner Zensurbeirat richtet Frank Wedekind sieben Fragen. Sein Schreiben lautet:“ – Den Tag darauf erschien der offene Brief im „Berliner Tageblatt“ [vgl. KSA 5/III, S. 778f.] sowie in weiteren Zeitungen in Hamburg und Wien [vgl. Martin 2018a, S. 33], „ferner Zeitungen in [...] Dresden, Düsseldorf, [...] Königsberg, Nürnberg“ [Meyer 1982, S. 259]. Das „Berliner Tageblatt“ kürzte leicht und referierte den Inhalt des ursprünglich abschließenden Absatzes sowie den die Adressaten nennenden ersten Absatz [vgl. Frank Wedekind und der Münchener Zensurbeirat. In: Berliner Tageblatt, Jg. 40, Nr. 662, 30.12.1911, Abend-Ausgabe, S. (3)]. Der „Hamburgische Correspondent“ (Rubrik: „Kleines Feuilleton“) brachte den vollständigen Text, redaktionell eingeleitet: „Frank Wedekind, dessen Stücke in München seit drei Jahren durch die Zensur verboten sind, ist infolgedessen sehr nervös geworden, wie aus dem folgenden Schreiben hervorgeht, das er an den Münchner Zensur-Beirat richtet:“ [Hamburgischer Correspondent, Jg. 181, Nr. 662, 30.12.1911, Abend-Ausgabe, Beilage, S. 2] Die „Neue Hamburger Zeitung“ (Rubrik: „Kunst und Wissenschaft“) brachte redaktionell eingeleitet in Auswahl die Fragen 2, 6 und 7 sowie den Schlussabsatz [vgl. Frank Wedekind und die Zensur. In: Neue Hamburger Zeitung, Jg. 16, Nr. 610, 30.12.1911, Abend-Ausgabe, S. (2)]. Das „Neue Wiener Tagblatt“ (Rubrik: „Theater, Kunst und Literatur“) zitierte die Fragen 1, 2, 4, 5 sowie den Schlussabsatz und referierte die Fragen 3, 6 und 7 in redaktionellen Text eingebettet, in dem es heißt: „Aus München wird uns telegraphiert: Frank Wedekind, der in letzter Zeit wiederholt die Presse zu Hilfe genommen hat, um gegen gewisse literarische und künstlerische Mißstände anzukämpfen, unter denen besonders er persönlich als Schriftsteller zu leiden hatte, veröffentlicht heute an die Adresse des Münchner Zensurbeirates sieben Fragen, die an jedes einzelne Mitglied dieses Beirates gerichtet sind. Es sind dies die Herren [...]. Beachtenswert ist, daß Max Halbe sein Amt als Zensurbeirat zurückgelegt hat.“ [Wedekind und die Münchner Zensur. In: Neues Wiener Tagblatt, Jg. 45, Nr. 358, 30.12.1911, S. 14] Gekürzt und in redaktionellen Text eingebettet erschien der offene Brief einen Tag später auch andernorts [vgl. Fragen Frank Wedekinds. In: Dresdner neueste Nachrichten, Nr. 355, 31.12.1911, 1. Ausgabe, S. 3]. Die konservative Münchner „Allgemeine Zeitung“ brachte ihn einige Tage später kritisch kommentiert in einen Artikel integriert [vgl. Coelestinus: Frank Wedekind und die Zensur. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 115, Nr. 1, 6.1.1912, S. 11-12]. – Neuedition (nach dem erhaltenen Typoskript des vervielfältigten Briefes, das an Ernst von Possart ging): KSA 5/II, S. 426-427.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Max von Gruber, (Gremium) Münchner Zensurbeirat, 27.12.1911. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

17.07.2023 09:50