An jedes einzelne Mitglied des Münchner ZensurbeiratesDer Münchner Polizeipräsident Julius von der Heydte hatte Anfang 1908 ein aus Münchner Honoratioren zusammengesetztes Gremium (Schriftsteller, Theaterleute, Universitätsprofessoren, Oberstudienräte) berufen, um seine „zensurpolitischen Entscheidungen durch den Rat der Gutachter zu legitimieren.“ [Vinçon 2014, S. 213] Nach der ersten Besprechung am 20.3.1908 war der Münchner Zensurbeirat konstituiert, dessen Vorsitzender der Münchner Polizeipräsident war und der bis zur Aufhebung der Theaterzensur am 21.11.1918 in teils wechselnder, teils konstanter Zusammensetzung bestehen blieb [vgl. Meyer 1982, S. 86]. Der Münchner Zensurbeirat sprach sich wiederholt mehrheitlich gegen die Aufführung von Wedekinds Dramen aus [vgl. KSA 5/III, S. 776f.]; „Objekt und Opfer der Zensurverbote war regelmäßig Frank Wedekind.“ [Meyer 1982, S. 68] Wedekind hat seinen auch jeweils privat versandten offenen Brief „Sieben Fragen“ nur an 12 Mitglieder des Zensurbeirats adressiert (sie sind alle namentlich genannt); er „führte [...] nur die Hälfte der Mitglieder auf [...] prominente Namen [...] fehlten, von denen er wußte, daß sie dem Beirat angehörten“; es „muß in der von Wedekind getroffenen Auswahl eine Absicht gelegen haben, die [...] nicht mehr erkennbar ist.“ [Meyer 1982, S. 259], an
die Herren:
Hofschauspieler BasilFritz Basil (Pseudonym für Friedrich Meyer) in München (Widenmayerstraße 4) [vgl. Adreßbuch für München und Umgebung 1912, Teil I, S. 26], Regisseur und Schauspieler am Münchner Hoftheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 551f.], bei dem Wedekind in früheren Jahren Schauspielunterricht genommen (siehe Wedekinds Korrespondenz mit ihm seit 1904) und ihm sein Stück „Der Stein der Weisen“ (1909) gewidmet hatte [vgl. KSA 6, S. 234], war Mitglied im Münchner Zensurbeirat [vgl. Meyer 1982, S. 91]. Wedekind pflegte nach wie vor freundschaftliche Kontakte mit ihm und hat sich mit ihm getroffen – dem Tagebuch zufolge zuletzt am 18.8.1911 („Abend bei Basil“), 9.9.1911 („Franziskaner mit Basil“) und 18.9.1911 („Im Franziskaner mit Basil“)., Geheimer Hofrat Crusiusvgl. Wedekind an Otto Crusius, 27.12.1911., Medizinalrat Dr. Grubervgl. Wedekind an Max von Gruber, 27.12.1911.,
Schulrat Dr. Kerschensteinervgl. Wedekind an Georg Kerschensteiner, 27.12.1911., Hofrat Professor Dr. Kraepelinvgl. Wedekind an Emil Kraepelin, 27.12.1911., Professor Graf Du
Moulin-Eckartvgl. Wedekind an Richard Du Moulin-Eckart, 27.12.1911., Professor Dr. Munckervgl. Wedekind an Franz Muncker, 27.12.1911., Intendant Ritter v. Possartvgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911.,
Oberregisseur Savitsvgl. Wedekind an Jocza Savits, 27.12.1911., Professor Stadlervgl. Wedekind an Anton von Stadler, 27.12.1911., Professor Dr. Sulger-Gebingvgl. Wedekind an Emil Sulger-Gebing, 27.12.1911., Professor
Dr. Vollvgl. Wedekind an Karl Voll, 27.12.1911.,
beehre ich mich, öffentlich folgende Fragen zu richten:
1. Frage: Kennen Sie meinen EinakterWedekinds Stück „Die Zensur. Theodizee in einem Akt“ (1908), in dem sich in der 2. Szene der Literat Walter Buridan (Verfasser eines Trauerspiels „Pandora“) und der Sekretär des Beichtvaters Dr. Cajetan Prantl über Theaterzensur unterhalten und über die „sittlichen Empfindungen“ [KSA 6, S. 219] des Theaterpublikums unterschiedlicher Ansicht sind. „Die Zensur“ und wissen
Sie, was ich darin über die Beziehungen zwischen Sittlichkeit und Schauspiel
gesagt habe?
Was haben Sie über die Beziehungen zwischen Sittlichkeit und
Schauspiel geschrieben oder veröffentlicht, woraus ich meine Ansichten über
diesen Gegenstand korrigieren könnte?
2. Frage: Wie vereinbaren Sie es mit dem Charakter des
anständigen Menschen, einen Kollegen oder gar Konkurrenten eventuell zu
schädigen durch ein Gutachten, das niemals zur Kenntnis der Oeffentlichkeit
gelangt, das vor Ihrem Kollegen oder Konkurrenten aufs strengsteim einzigen überlieferten Originalbrief, den Wedekind an Mitglieder des Münchner Zensurbeirats sandte, handschriftlich ergänzt [vgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911]. geheim
gehalten wird, gegen das sich zu verteidigen Ihr Kollege oder Konkurrent nicht
die allergeringste Möglichkeit hat?
3. Frage: Billigen Sie das Inquisitionsprinzipdas „dem Inquisitionsprozeß [...] zugrunde liegende Prinzip, daß Beweise und Beweismittel vom Gericht und nicht, wie beim Verhandlungsprinzip [...], von den Parteien aufgesucht und beschafft werden.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 9, Leipzig 1907, S. 856] Es beruht auf dem Ausschluss der Öffentlichkeit, auf strenger Geheimhaltung dem Betroffenen gegenüber, dem damit Verteidigungsmöglichkeiten genommen sind; verfolgende und urteilende Instanz sind identisch. Wedekind hat in den „Sieben Fragen“ die „als Gegendiskurs zur Aufklärung geläufige Inquisitionsmetapher“ [Martin 2018a, S. 26] rhetorisch aufgenommen, um gegen Zensur als Phänomen struktureller Gewalt anzugehen, verkörpert im Münchner Zensurbeirat, den er auch in seinen „satirischen Gedichten“ [KSA 5/III, S. 777] „Zensurbeirat“ [vgl. KSA 1/I, S. 587f.], im Druck „Münchner Zensurbeirat“ [vgl. KSA 1/I, S. 682f.], und „Herr von der Heydte“ [vgl. KSA 1/I, S. 592-594] verspottete. „Der besondere Witz“ der im offenen Brief formulierten sieben Fragen „liegt darin, dass es scharf formulierte Fragen sind und Wedekind somit das der Inquisition eigene Verfahren der ‚peinlichen Befragung‘ für seine Zwecke anwandte. Er betrieb zudem mit diesen Fragen das Gegenteil von Geheimhaltung, einem für das Inquisitionsprinzip konstitutiven Element, indem er mit ihnen in die Öffentlichkeit und in die Offensive ging.“ [Martin 2018a, S. 33f.], das von der
Münchner Polizeibehörde in Zensurangelegenheiten insofern Anwendung findet, als
die Beweise nicht von dem zu Beurteilenden, sondern vom Richter aufgesucht und
beschafft werden, als die Gründe, die die Entscheidung bestimmen, vor dem
Beurteilten aufs strengste verheimlicht werden, als dem Beurteilten jede
Möglichkeit, sich zu erklären oder zu verteidigen, benommen ist?
4. Frage: Welcher wesentliche Unterschied besteht zwischen
dem Geheimverfahren eines Inquisitionsgerichtesein Gericht im Zusammenhang der Inquisition im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, das insbesondere Häresie verfolgte und das Inquisitionsprinzip (siehe oben) anwandte. und demjenigen des Münchner
Zensurbeirates?
5 Frage: Welche Gründe haben Sie dafür anzuführen, daß ich, Frank Wedekind, dem Münchner Zensurbeirat nicht angehöre, sondern für diese
Institution nur als Begutachteter, nur als Be- und Verurteilter in Betracht
komme?
6. Frage: Da das Verhältnis vom Gutachter zum Begutachteten,
zwischen Ihnen und mir kein gegenseitiges, sondern ein durchaus einseitiges
ist, wollen Sie mir die Frage verzeihen, durch welches besondere Verdienst
Ihrerseits und durch welches besondere Verschulden meinerseits Sie diese für
mich sehr nachteilige Einseitigkeit für begründet und gerechtfertigt halten?
7. Frage: Da ich in Ihren persönlichen Mut keinen Zweifel
setze, frage ich Sie, ob Sie mir die Ehre erweisen wollen, mir gegenüber für
die Urteile einzutreten, die Sie zu Handen der Münchner Polizeibehörde über
meine Theaterstücke gefällt haben.
Wenn ja, wie lauteten Ihre Urteile?
Diese sieben Fragen wurden durch die beschimpfende
menschenunwürdige Behandlungsweise veranlaßt, die ich mir seit drei Jahrenseit 1908, als im Frühjahr der Münchner Zensurbeirat gegründet wurde (siehe oben). von
der Münchner Zensurbehörde bieten lassen muß und die sich nach der Aussage des
Münchner PolizeipräsidentenJulius von der Heydte, der Münchner Polizeipräsident, hatte Anfang 1908 den Münchner Zensurbeirat initiiert (siehe oben). Wedekind hatte ihn am 2.6.1911 in München aufgesucht: „Audienz [...] beim Polizeipräsidenten“ [Tb]. auf die Urteile gründet, die der Zensurbeirat über
meine literarischen Arbeiten gefällt hat.