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Kennung: 4440

Berlin, 11. Dezember 1906 - 13. Dezember 1906, Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kraus, Karl

Inhalt

Lieber Herr Kraus,

ich hätte Ihnen schon vor einigen Tagen geschrieben wenn ich Zeit für die Sammlung gehabt hätte, die ich dazu gebraucheim Erstdruck: gebrauche (übersehen wurde die Streichung „ge“).. Ich gebe Ihnen gerne zu, daß ein Verhalten wie meines an jenem Abendam 28.11.1906, der zweite Abend des Besuchs von Karl Kraus in Berlin, von Wedekind als „Skandal mit Kraus“ [Tb] charakterisiert. Karl Kraus kam am 27.11.1906 in Berlin an, um „Frühlings Erwachen“ in den Kammerspielen des Deutschen Theater zu sehen; nach der Vorstellung war Wedekind mit ihm allein im Weinhaus Zum Treppchen (Unter den Linden 56): „Am Vormittag kommt Karl Kraus. Fr. Erw. [...] Nachher mit Kraus bei Treppchen“ [Tb]. Der zweite Abend verlief spannungsreich, was Karl Kraus betraf. Frank und Tilly Wedekind haben mit ihm zunächst im Deutschen Theater eine „Erdgeist“-Vorstellung besucht, anschließend war man gemeinsam in der Weinstube Eugen Steinert (Kurfürstendamm 22), mit dabei der Marionettenkünstler Paul Brann (der atmosphärisch keine Rolle gespielt zu haben scheint) und der Sänger Emil Gerhäuser, wobei Karl Kraus offenbar missgestimmt war und gegen später nicht mitging in die Weinstube Steinert und Hansen (Albrechtstraße 24/25). Wedekind notierte am 28.11.1906: „Erdgeist. Nachher mit Tilly Kraus Gerhäuser und Brann bei Steinert. Skandal mit Kraus. Wir andern gehen nachher noch zu Steinert und Hansen.“ [Tb] Karl Kraus kommentierte das Geschehen, insbesondere Wedekinds Verhalten (einschließlich seiner von Kraus aus dem Gedächtnis zitierten Ausdrucksweise), detailliert in der Fußnote zum Erstdruck des vorliegenden Briefs (siehe das Zitat bei den Hinweisen zum Erstdruck), „zugleich seine ausführlichste Äußerung zum ‚Menschen‘ Wedekind“ [Nottscheid 2008, S. 193]. in das Gebiet GesellschaftlicherSchreibversehen, statt: gesellschaftlicher. – So auch im Erstdruck korrigiert. Unmöglichkeiten gehört, es schien mir aber offen und ehrlich das einzige Mittel um zu einer ungezwungenen angeregten Unterhaltung zu gelangen | nachim Erstdruck: gelangen, nach. der ich ein sehr großes Bedürfnis hatte, ein Bedürfnis, das ich mit vollem Recht auch bei Gerhäuser voraussetzte, da wir uns die seltenen Male, die wir uns treffen immerim Erstdruck: treffen, immer. in sehr angeregter ungezwungnerim Erstdruck: ungezwungener. Weise unterhalten. An jenem Abend hatte ich die feste Überzeugung, daß Sie mit voller Absicht darauf ausgingen uns an einer solchen Unterhaltung zu hindern, da ich selber sehr wohl weiß wie man sich verhält, wenn man keine Stimmung und kein allgemeines Gespräch aufkommen lassen will; und da Sie außer|dem trotz meiner Fragen keine Äußerung taten, die einer solchen Absicht wiedersprochenSchreibversehen, statt: widersprochen. – So auch im Erstdruck korrigiert. hätte. Ich kann Ihnen versichern daß ich von Gerhäusers Eintreffen an wie auf Kohlen saß und es giebtim Erstdruck: gibt. doch wohl nichts Höhnischeres in der Welt als ein Vergnügen, welches keines ist. Heute bei ruhigerer Überlegung glaube ich nicht mehr daran, daß Sie eine derartige Absicht hatten, denn was hätte das für einen Zweck gehabt. Aber ebenso wenig hatte ich die Absicht, Sie irgendwiefehlt im Erstdruck. zu beleidigen oder zu kränken.

Soweit hatte ich geschriebenDie vorangehenden Ausführungen wurden am 11.12.1906 verfasst (siehe die Hinweise zur Datierung des Briefbeginns), ab hier ist der Brief am 13.12.1906 weitergeschrieben worden., | lieber Herr Kraus, als meine Tilly mir ein Mädchen schenktePamela Wedekind, das erste Kind von Frank und Tilly Wedekind, wurde am 12.12.1906 morgens in der Berliner Wohnung (Kurfürstenstraße 125) geboren – nach einer von starken Wehen der Mutter geprägten Nacht, die am 11.12.1906 begonnen hatten. Frank Wedekind notierte das Geschehen um die Niederkunft am 11.12.1906 („Um 9 Uhr Abend kommt die Hebamme. [...] Ich bleibe zu Hause“) und 12.12.1906 („Um 6 Uhr weckt mich Tilly durch ihr geschrei [...] um 8 Uhr ist Anna Pamela geboren [...]. Um Mittag tritt die Schwester an. Abends kommt Gerhäuser“) im Tagebuch, Tilly Wedekind schilderte es in ihren Lebenserinnerungen: „Es war der 11. Dezember, als die Wehen begannen. [...] Abends kam die Hebamme. [...] Im Laufe des Abends wurden die Wehen häufiger und heftiger. Ich jammerte und schrie. Frank [...] saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb. Ab vier Uhr morgens wurde es arg. Ich schrie. [...] Gegen Morgen steigerten sich die Schmerzen ins Unerträgliche, und um 8 Uhr war das Kind da: eine Tochter.“ [Wedekind 1969, S. 98], dem ich den Namen Anna Pamela gab. Ich habe nur noch zu wiederholen, daß ich Sie an jenem Abend nur deshalb nicht aufforderte in die zweite Weinstube mitzukommen, weil ich nicht gerne auf die Unterhaltung Gerhäusers verzichten wollte, die für mich etwas ungemein Nervenberuhigendes, wohlthuendesim Erstdruck: Wohltuendes. hat. Eben kommt Ihre FackelHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Kraus an Wedekind, 11.12.1906. – Im übersandten „Fackel“-Heft Nr. 213 vom 11.12.1906 ist Wedekind nicht erwähnt.. Ich werde sie erst lesen, wenn ich diese Zeilen abgeschickt habe. Ich sende Ihnen die herzlichsten Grüße
Ihr
Fr Wedekind.


13.12.6.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13 x 17 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Karl Kraus hat mit Bleistift eine Passage auf den Seiten 3 bis 4 („Soweit“ bis „wohlthuendes hat.“) eingeklammert (mit runden Klammern) und vor das dann Folgende („Eben“) eine eckige Öffnungskammer („[“) gesetzt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Die Datierungsüberlegung zum Schreibbeginn stützt sich auf den Briefinhalt (im Brief erwähnt ist die Geburt der Tochter Pamela am 12.12.1906) in Verbindung mit dem Tagebuch vom 11.12.1906 („Um 9 Uhr Abend kommt die Hebamme. [...] Ich bleibe zu Hause“) und 12.12.1906 („Um 6 Uhr weckt mich Tilly durch ihr geschrei [...] um 8 Uhr ist Anna Pamela geboren [...]. Um Mittag tritt die Schwester an. Abends kommt Gerhäuser“) sowie Tilly Wedekinds Erinnerung an diese Nacht: „Es war der 11. Dezember, als die Wehen begannen. [...] Abends kam die Hebamme. [...] Im Laufe des Abends wurden die Wehen häufiger und heftiger. Ich jammerte und schrie. Frank [...] saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb. Ab vier Uhr morgens wurde es arg. Ich schrie. [...] Gegen Morgen steigerten sich die Schmerzen ins Unerträgliche, und um 8 Uhr war das Kind da“ [Wedekind 1969, S. 98].

Erstdruck

Briefe Frank Wedekinds

Titel des Aufsatzes:
Briefe Frank Wedekinds
Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Karl Kraus
Verlag:
Wien: Verlag "Die Fackel"
Jahrgang:
1920
Seitenangabe:
127-129
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Die Fackel, Jg. 21, Nr. 521-530, Januar 1920, S. 127-129. Im Erstdruck ist der Brief mit dem Hinweis „Aus Berlin“ sowie mit einer ausführlichen Fußnote versehen. Nach „aufkommen lassen will“ ist angemerkt: „Das war es; nur daß er’s eben doch nicht wußte. Der in jeder Lebensäußerung, selbst im Drang nach Gewöhnlichkeit, ungewöhnliche Mann war als Gesellschafter die Kontrolluhr des Behagens. Er verstand keinen Spaß, wenns die Gemütlichkeit galt, und war so sehr von der Berechtigung ihres Anspruchs durchdrungen, daß ihn nichts hindern konnte, eine ungezwungene Unterhaltung zu erzwingen. Als das ‚einzige Mittel zu ihr zu gelangen‘ schien ihm allen Ernstes die Methode, ihre Entfaltung mit gemessenem Anstand und wenn’s sein mußte, mit strengem Tadel zu beobachten, abzuklopfen, wenn ein Ton zu laut, anzufeuern, wenn er zu matt war. Da konnte denn sein Dämon, der es schwer zu tragen schien, auf die Zimmertemperatur angewiesen zu sein, und dessen stärkste Bejahung das Wort ‚Verdammt!‘ war, ihm und dem gutwilligen Partner mit Ermahnungen zusetzen, die dann aber auch als Anweisungen wirkten: ‚Sie langweilen sich‘, ‚Sie sind müde‘, ‚Sie sind abgespannt‘ oder: ‚Sie stören die Unterhaltung‘, ‚Was haben Sie gegen Gerhäuser?‘ ‚Sie sind furchtbar ablehnend gegen Gerhäuser!‘ Man war es natürlich nicht und hatte gar nichts gegen ihn, aber es war, als ob jener Dämon von vornherein gewillt gewesen wäre, sich schützend vor den möglichst undämonischen Gegenspieler zu stellen, den er nicht so sehr zur Unterhaltung, als zur Abwendung der Gefahr, daß sie gestört werden könnte, zu brauchen schien. Er saß wirklich ‚von seinem Eintreffen an wie auf Kohlen‘. Natürlich wäre solche Unterhaltung auch ohne Entschuldigungsbrief nicht bösartiger verlaufen als sie ihrer Natur nach mußte, da es nur nötig war, den äußern Sachverhalt festzustellen und den innern zu respektieren, ohne die eigene Persönlichkeit schützen zu müssen. Mit tiefer Rührung denke ich an eben diese Augenblicke fragwürdigster Geselligkeit zurück, weil sie das Gefühl von einer Einsamkeit zutrugen und den erschütternden Eindruck jener grauenhaften Angst vor der Langeweile des Lebens, aus der der merkwürdigste Geist der neuen Literatur gewirkt hat und die er just zwischen den Wänden einer spießbürgerlichen Weinstube bewältigen zu müssen wähnte. Die sonderbare Mechanik, mit der sich dieser Seelensturm behalf, der Hang nach Lebenskonvention bis zu einer fast zeremoniellen Einhaltung des Ablaufs menschlicher Dinge – ‚Soweit hatte ich geschrieben, als ...‘ – ist ganz gewiß auch identisch mit dem Rätsel seiner sprachharten Dialoge, die eine Verabredung sind; in der die gewichtigsten Inhalte an einander vorbeireden und von deren papierner und hölzerner Hülle sich das lebendigste Feuer nährt. Der Mann, der im Kanzleistil mit der Natur sprechen konnte, war mir nie liebenswerter als – bei dem letzten Lebenszufall auf dem Zürcher Postamt –, da der Vaterstolz des Graugewordenen Anna Pamela anwies, sich in ihrer zehnjährigen Damenhaftigkeit mir zu präsentieren.“– Neuedition: Nottscheid 2008, S. 90 (Nr. 69).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Wienbibliothek im Rathaus

Felderstraße 1
1082 Wien
Österreich

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Karl-Kraus-Archiv
Signatur des Dokuments:
H.I.N. 139740
Standort:
Wienbibliothek im Rathaus (Wien)

Danksagung

Wir danken der Wienbibliothek im Rathaus für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstückes.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Karl Kraus, 11.12.1906 - 13.12.1906. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (22.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

29.04.2023 21:58
Kennung: 4440

Berlin, 11. Dezember 1906 - 13. Dezember 1906, Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kraus, Karl
 
 

Inhalt

Lieber Herr Kraus,

ich hätte Ihnen schon vor einigen Tagen geschrieben wenn ich Zeit für die Sammlung gehabt hätte, die ich dazu gebraucheim Erstdruck: gebrauche (übersehen wurde die Streichung „ge“).. Ich gebe Ihnen gerne zu, daß ein Verhalten wie meines an jenem Abendam 28.11.1906, der zweite Abend des Besuchs von Karl Kraus in Berlin, von Wedekind als „Skandal mit Kraus“ [Tb] charakterisiert. Karl Kraus kam am 27.11.1906 in Berlin an, um „Frühlings Erwachen“ in den Kammerspielen des Deutschen Theater zu sehen; nach der Vorstellung war Wedekind mit ihm allein im Weinhaus Zum Treppchen (Unter den Linden 56): „Am Vormittag kommt Karl Kraus. Fr. Erw. [...] Nachher mit Kraus bei Treppchen“ [Tb]. Der zweite Abend verlief spannungsreich, was Karl Kraus betraf. Frank und Tilly Wedekind haben mit ihm zunächst im Deutschen Theater eine „Erdgeist“-Vorstellung besucht, anschließend war man gemeinsam in der Weinstube Eugen Steinert (Kurfürstendamm 22), mit dabei der Marionettenkünstler Paul Brann (der atmosphärisch keine Rolle gespielt zu haben scheint) und der Sänger Emil Gerhäuser, wobei Karl Kraus offenbar missgestimmt war und gegen später nicht mitging in die Weinstube Steinert und Hansen (Albrechtstraße 24/25). Wedekind notierte am 28.11.1906: „Erdgeist. Nachher mit Tilly Kraus Gerhäuser und Brann bei Steinert. Skandal mit Kraus. Wir andern gehen nachher noch zu Steinert und Hansen.“ [Tb] Karl Kraus kommentierte das Geschehen, insbesondere Wedekinds Verhalten (einschließlich seiner von Kraus aus dem Gedächtnis zitierten Ausdrucksweise), detailliert in der Fußnote zum Erstdruck des vorliegenden Briefs (siehe das Zitat bei den Hinweisen zum Erstdruck), „zugleich seine ausführlichste Äußerung zum ‚Menschen‘ Wedekind“ [Nottscheid 2008, S. 193]. in das Gebiet GesellschaftlicherSchreibversehen, statt: gesellschaftlicher. – So auch im Erstdruck korrigiert. Unmöglichkeiten gehört, es schien mir aber offen und ehrlich das einzige Mittel um zu einer ungezwungenen angeregten Unterhaltung zu gelangen | nachim Erstdruck: gelangen, nach. der ich ein sehr großes Bedürfnis hatte, ein Bedürfnis, das ich mit vollem Recht auch bei Gerhäuser voraussetzte, da wir uns die seltenen Male, die wir uns treffen immerim Erstdruck: treffen, immer. in sehr angeregter ungezwungnerim Erstdruck: ungezwungener. Weise unterhalten. An jenem Abend hatte ich die feste Überzeugung, daß Sie mit voller Absicht darauf ausgingen uns an einer solchen Unterhaltung zu hindern, da ich selber sehr wohl weiß wie man sich verhält, wenn man keine Stimmung und kein allgemeines Gespräch aufkommen lassen will; und da Sie außer|dem trotz meiner Fragen keine Äußerung taten, die einer solchen Absicht wiedersprochenSchreibversehen, statt: widersprochen. – So auch im Erstdruck korrigiert. hätte. Ich kann Ihnen versichern daß ich von Gerhäusers Eintreffen an wie auf Kohlen saß und es giebtim Erstdruck: gibt. doch wohl nichts Höhnischeres in der Welt als ein Vergnügen, welches keines ist. Heute bei ruhigerer Überlegung glaube ich nicht mehr daran, daß Sie eine derartige Absicht hatten, denn was hätte das für einen Zweck gehabt. Aber ebenso wenig hatte ich die Absicht, Sie irgendwiefehlt im Erstdruck. zu beleidigen oder zu kränken.

Soweit hatte ich geschriebenDie vorangehenden Ausführungen wurden am 11.12.1906 verfasst (siehe die Hinweise zur Datierung des Briefbeginns), ab hier ist der Brief am 13.12.1906 weitergeschrieben worden., | lieber Herr Kraus, als meine Tilly mir ein Mädchen schenktePamela Wedekind, das erste Kind von Frank und Tilly Wedekind, wurde am 12.12.1906 morgens in der Berliner Wohnung (Kurfürstenstraße 125) geboren – nach einer von starken Wehen der Mutter geprägten Nacht, die am 11.12.1906 begonnen hatten. Frank Wedekind notierte das Geschehen um die Niederkunft am 11.12.1906 („Um 9 Uhr Abend kommt die Hebamme. [...] Ich bleibe zu Hause“) und 12.12.1906 („Um 6 Uhr weckt mich Tilly durch ihr geschrei [...] um 8 Uhr ist Anna Pamela geboren [...]. Um Mittag tritt die Schwester an. Abends kommt Gerhäuser“) im Tagebuch, Tilly Wedekind schilderte es in ihren Lebenserinnerungen: „Es war der 11. Dezember, als die Wehen begannen. [...] Abends kam die Hebamme. [...] Im Laufe des Abends wurden die Wehen häufiger und heftiger. Ich jammerte und schrie. Frank [...] saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb. Ab vier Uhr morgens wurde es arg. Ich schrie. [...] Gegen Morgen steigerten sich die Schmerzen ins Unerträgliche, und um 8 Uhr war das Kind da: eine Tochter.“ [Wedekind 1969, S. 98], dem ich den Namen Anna Pamela gab. Ich habe nur noch zu wiederholen, daß ich Sie an jenem Abend nur deshalb nicht aufforderte in die zweite Weinstube mitzukommen, weil ich nicht gerne auf die Unterhaltung Gerhäusers verzichten wollte, die für mich etwas ungemein Nervenberuhigendes, wohlthuendesim Erstdruck: Wohltuendes. hat. Eben kommt Ihre FackelHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Kraus an Wedekind, 11.12.1906. – Im übersandten „Fackel“-Heft Nr. 213 vom 11.12.1906 ist Wedekind nicht erwähnt.. Ich werde sie erst lesen, wenn ich diese Zeilen abgeschickt habe. Ich sende Ihnen die herzlichsten Grüße
Ihr
Fr Wedekind.


13.12.6.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13 x 17 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Karl Kraus hat mit Bleistift eine Passage auf den Seiten 3 bis 4 („Soweit“ bis „wohlthuendes hat.“) eingeklammert (mit runden Klammern) und vor das dann Folgende („Eben“) eine eckige Öffnungskammer („[“) gesetzt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Die Datierungsüberlegung zum Schreibbeginn stützt sich auf den Briefinhalt (im Brief erwähnt ist die Geburt der Tochter Pamela am 12.12.1906) in Verbindung mit dem Tagebuch vom 11.12.1906 („Um 9 Uhr Abend kommt die Hebamme. [...] Ich bleibe zu Hause“) und 12.12.1906 („Um 6 Uhr weckt mich Tilly durch ihr geschrei [...] um 8 Uhr ist Anna Pamela geboren [...]. Um Mittag tritt die Schwester an. Abends kommt Gerhäuser“) sowie Tilly Wedekinds Erinnerung an diese Nacht: „Es war der 11. Dezember, als die Wehen begannen. [...] Abends kam die Hebamme. [...] Im Laufe des Abends wurden die Wehen häufiger und heftiger. Ich jammerte und schrie. Frank [...] saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb. Ab vier Uhr morgens wurde es arg. Ich schrie. [...] Gegen Morgen steigerten sich die Schmerzen ins Unerträgliche, und um 8 Uhr war das Kind da“ [Wedekind 1969, S. 98].

Erstdruck

Briefe Frank Wedekinds

Titel des Aufsatzes:
Briefe Frank Wedekinds
Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Karl Kraus
Verlag:
Wien: Verlag "Die Fackel"
Jahrgang:
1920
Seitenangabe:
127-129
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Die Fackel, Jg. 21, Nr. 521-530, Januar 1920, S. 127-129. Im Erstdruck ist der Brief mit dem Hinweis „Aus Berlin“ sowie mit einer ausführlichen Fußnote versehen. Nach „aufkommen lassen will“ ist angemerkt: „Das war es; nur daß er’s eben doch nicht wußte. Der in jeder Lebensäußerung, selbst im Drang nach Gewöhnlichkeit, ungewöhnliche Mann war als Gesellschafter die Kontrolluhr des Behagens. Er verstand keinen Spaß, wenns die Gemütlichkeit galt, und war so sehr von der Berechtigung ihres Anspruchs durchdrungen, daß ihn nichts hindern konnte, eine ungezwungene Unterhaltung zu erzwingen. Als das ‚einzige Mittel zu ihr zu gelangen‘ schien ihm allen Ernstes die Methode, ihre Entfaltung mit gemessenem Anstand und wenn’s sein mußte, mit strengem Tadel zu beobachten, abzuklopfen, wenn ein Ton zu laut, anzufeuern, wenn er zu matt war. Da konnte denn sein Dämon, der es schwer zu tragen schien, auf die Zimmertemperatur angewiesen zu sein, und dessen stärkste Bejahung das Wort ‚Verdammt!‘ war, ihm und dem gutwilligen Partner mit Ermahnungen zusetzen, die dann aber auch als Anweisungen wirkten: ‚Sie langweilen sich‘, ‚Sie sind müde‘, ‚Sie sind abgespannt‘ oder: ‚Sie stören die Unterhaltung‘, ‚Was haben Sie gegen Gerhäuser?‘ ‚Sie sind furchtbar ablehnend gegen Gerhäuser!‘ Man war es natürlich nicht und hatte gar nichts gegen ihn, aber es war, als ob jener Dämon von vornherein gewillt gewesen wäre, sich schützend vor den möglichst undämonischen Gegenspieler zu stellen, den er nicht so sehr zur Unterhaltung, als zur Abwendung der Gefahr, daß sie gestört werden könnte, zu brauchen schien. Er saß wirklich ‚von seinem Eintreffen an wie auf Kohlen‘. Natürlich wäre solche Unterhaltung auch ohne Entschuldigungsbrief nicht bösartiger verlaufen als sie ihrer Natur nach mußte, da es nur nötig war, den äußern Sachverhalt festzustellen und den innern zu respektieren, ohne die eigene Persönlichkeit schützen zu müssen. Mit tiefer Rührung denke ich an eben diese Augenblicke fragwürdigster Geselligkeit zurück, weil sie das Gefühl von einer Einsamkeit zutrugen und den erschütternden Eindruck jener grauenhaften Angst vor der Langeweile des Lebens, aus der der merkwürdigste Geist der neuen Literatur gewirkt hat und die er just zwischen den Wänden einer spießbürgerlichen Weinstube bewältigen zu müssen wähnte. Die sonderbare Mechanik, mit der sich dieser Seelensturm behalf, der Hang nach Lebenskonvention bis zu einer fast zeremoniellen Einhaltung des Ablaufs menschlicher Dinge – ‚Soweit hatte ich geschrieben, als ...‘ – ist ganz gewiß auch identisch mit dem Rätsel seiner sprachharten Dialoge, die eine Verabredung sind; in der die gewichtigsten Inhalte an einander vorbeireden und von deren papierner und hölzerner Hülle sich das lebendigste Feuer nährt. Der Mann, der im Kanzleistil mit der Natur sprechen konnte, war mir nie liebenswerter als – bei dem letzten Lebenszufall auf dem Zürcher Postamt –, da der Vaterstolz des Graugewordenen Anna Pamela anwies, sich in ihrer zehnjährigen Damenhaftigkeit mir zu präsentieren.“– Neuedition: Nottscheid 2008, S. 90 (Nr. 69).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Wienbibliothek im Rathaus

Felderstraße 1
1082 Wien
Österreich

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Karl-Kraus-Archiv
Signatur des Dokuments:
H.I.N. 139740
Standort:
Wienbibliothek im Rathaus (Wien)

Danksagung

Wir danken der Wienbibliothek im Rathaus für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstückes.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Karl Kraus, 11.12.1906 - 13.12.1906. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (22.11.2024).

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Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

29.04.2023 21:58