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Mein
lieber, alter Franklin!
Es ist lange her, seit wir uns nicht mehr gesehen; seit wir
die Straßen Aarau’s unsicher gemacht & auf Deiner Bude Frank Wedekind wohnte in den Schuljahren 1879/80 und 1880/81 zusammen mit seinem Bruder Armin zur Pension im geräumigen Haus der Familie Rauchenstein im Zentrum Aaraus (Halden, Nr. 261)., im nobelsten Quartier & beim noch
noblern PhilisterPensionsgeber; Professor Friedrich Rauchenstein, Altphilologe und ehemals Lehrer an der Kantonsschule Aarau, beherbergte die Brüder Wedekind und betreute sie auch bei ihren Schulaufgaben [vgl. Johann Friedrich Rauchenstein an Frank Wedekind, 18.4.1881]. Opium geschmaucht.
Die Ironie
der Weltgeschichte hat es gewollt, daß das Haus, wo Du ehmals in der Halde residirtest, nun ein Marthahaus Einrichtung zum „präventiven Schutz vor den Gefahren der Prostitution“ [HLS, Stichwort „Freundinnen junger Mädchen (FJM)“]. Auf Anregung des internationalen Vereins FJM gründeten seit Mitte der 1880er Jahre auch Schweizer Sektionen Marthahäuser „für stellenlose junge Mädchen, namentlich Dienstboten, aber auch für Arbeiterinnen, die eine Stelle haben und in einem geordneten Hauswesen billige Pension und Wohnung suchen.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 68, Nr. 173, 21.6.1888, Erstes Blatt, S. (2)] – Das Marthahaus Aarau existierte mindestens seit 1899, wie Zeitungsanzeigen belegen [vgl. Der Bund, Jg. 50, Nr. 124, 4.5.1899, S. (8) und Nr. 126, 6.5.1899, S. (4)]., ein
Zufluchtsort für alleinstehende Mägdelein, geworden ist. Jedesmal wenn mich
mein Weg daselbst vorbei führt & die einladende Tafel sehe, kann ich mich
eines Lächelns nicht erwehren.
Doch dies wollte ich Dir eigentlich mit diesen Zeilen nicht
mitteilen, sondern Dir vielmehr eine Bitte unterbreiten – wie folgt.
Am 7/8. & 9. Oct.
Deine „
„Auch Du ein Turner bist
Und den gefüllten Wanst,
Mörderisch krümmen kannst
wie das Gewürm.“
Großartig!
So nun kennst du mein Anliegen & hoffe ich, daß es auf
günstigen Boden fällt.
Falls Dich Dein Weg wieder einmal in den Aargau führt, so
rechne | ich sicher auf Deinen Besuch. Trotz Amt & Würden & Actenstaub,
ist geblieben doch der Kern & wieder einmal mit Dir in alten
Jugenderinnerungen sich zu ergehen, würde mir große Freude & Genuß
bereiten; das Einzige was bleibt & was Einem ganz zu eigen gehört, ist eben
doch nur die Erinnerung. Und an Stoff würde es uns wahrlich nicht fehlen.
So, nun leb wohl & entschuldige mich, daß ich nach jahrelanger Kontaktunterbrechung Zuletzt nachgewiesen ist ein nicht überliefertes Korrespondenzstück, das Wedekind dem Tagebuch zufolge an seinem 25. Geburtstag aus München schrieb [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 24.7.1889]. gerade
mit einer Bitte an Dich
gelange. Doch glaube mir, ich habe Deinen litterarischen & künstlerischen
Werdegang stets mit Intereße verfolgt & jeden Erfolg, den Du erreichst,
selbst mit Genugtuung empfunden. Deine Produkte habe ich alle gelesen und sind
zum großen teilSofortkorrektur durch senkrechtes Trennungszeichen aus Zusammenschreibung: großenteil. in
meiner Bibliothek eingebürgert.
Jüngstens war Frau Laué aus Köln,
die Gemahlin unseres
ehemaligen Schulkameraden Walter Laué, aus Köln gebürtiger Klassenkamerad im Schuljahr 1880/81, mit dem Wedekind den Dichterbund „Senatus poeticus“ gegründet und dem auch Oskar Schibler angehört hatte. Bei einem Besuch des Jugendfreundes in Köln (16.3.1905) lernte Wedekind dessen Ehefrau Marie Laué kennen und schätzen [vgl. Marie Laué an Wedekind. Köln, 15.04.1905].
bei uns – nebenbei | gesagt, eine große Verehrerin von Dir – (bei uns) &
diese nahm als Reiselecture den „ Schnellmaler“ mit, den Du
mir s. Z. anno 89.! dediziertestvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 7.4.1889.,
mit der Donatorunterschrift(schweiz.) Stifter, Geber; von donare (lat.) schenken. – Mit der Unterschrift „Der Verbrecher“ hatte Wedekind auch ein Exemplar der tragikomischen Posse dem befreundeten Karl Henckell gewidmet [vgl. Wedekind an Karl Henckell, 1.3.1889].
„Der Verbrecher.“ Selbstverständlich will ich das für mich wertvolle Werk
wieder retour haben.
Es verbleibt in alter JugendtreueDein
Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben
Aarau
14. September 1905 (Donnerstag)
Sicher
Aarau
Datum unbekannt
Datum unbekannt
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia
Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13
Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.
Oskar Schibler an Frank Wedekind, 14.9.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (27.10.2025).
Anke Lindemann