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Kennung: 4315

Freiburg im Breisgau, 24. Juli 1884 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Schibler, Oskar

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Freiburg 24.VII.84Wedekinds Geburtstag; er wurde 20 Jahre alt..

Mein lieber Franklin!

Noch wenige Tage werden verstreichen & die geliebte Musenstadtin der Schüler- und Studentensprache Synonym für die Universitätsstadt, zum Beispiel im Studentenlied „Ich zog ich zog zur Musenstadt“ (O Akademia); hier Synonym für Freiburg im Breisgau, wo Oskar Schibler im Sommersemester 1884 studierte. mit all ihren wechselnden Bildern, sowohl der reizenden Umgebung, wie der gemüthlichen Menschen, werde ich im Rücken haben und in der Erinnerung allein wird dies alles begraben sein. Aber aus diesem Grabe werden Blumen steigenwohl in Anlehnung an Leopold Schefers Gedichtverse: „Dann träumt ein Gott im Grabe, / Draus Blumen steigen und wehn.“ [(Leopold Schefer:) Hafis in Hellas. Von einem Hadschi. Hamburg 1853, S. 66], die noch in späten Tagen meinen Sinn durch ihren Duft betäuben werden und das Herz höher schlagen lassen. Doch weiter geht mein Sinn nach Abwechslung und wenig an die Zukunft denkend überschleicht mich manchmal wie ein Dieb in der Nacht, der dem erkorenen Opfer die sinnberaubende Mützeheftiger Hieb, Schlag [vgl. Schweizerisches Idiotikon, Bd. IV, Sp. 619 (mutzen, mützen)]. über den Kopf schlägt, der Gedanke, dass ich einmal gezwungen | sein werde in einem kleinen einsamen Städtchen meine Jahre hinzuschleppen. Doch ich werde die ganze Welt, alle Menschen in meinen Bereich ziehen und so den PrometheusfelsenFelsen des Kaukasusgebirges, an den nach der griechischen Mythologie der Titan Prometheus nach seinem Feuerraub geschmiedet wird, wo ein Adler regelmäßig von seiner Leber frisst, bis Herakles ihn von den Qualen befreit und er von Zeus begnadigt wird. vergessen. Du kannst die gleiche Aufregung in einem abgelegenen Ort wie im Taumel der sich amüsirenden Menschen haben; es kommt ja doch alles auf Aufregung hinaus. Was ist das Gefallen am Schönen anders als Nervenkitzel und oft habe ich mich überdrüssig der langweiligen Umgebung nach Hause geflüchtet den Heine vorgenommenOskar Schibler besaß eine Heine-Werkausgabe, von der Wedekind im Frühjahr 1883 wenigstens 3 Bände ausgeliehen und gelesen hatte [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 25.4.1883; 29.4.1883; Oskar Schibler an Wedekind, 8.5.1883]. (nicht Gedichte)! und mehr Genuss daran gehabt als an einem tollen Kneipgelage. Ich bin gerade in der Laune einen recht in dies aufregende Thema einschlägigen Wunsch zu thun. Ich glaube nämlich, dass überall, wo man mit Menschen | zusammenkommt es gleich fad und oberflächlich hergeht und zur Abwechslung möchte ich einmal für ein recht dämonisches Weib, schön an Leib mit sprudelndem Geiste leidenschaftlich erglühen und gleich wie mit Lavafluthen mit meinen Gefühlsergüssen überstürzen. Welch Genuss wie sie selbst Gott mit seinen Millionen Hofräthen nicht einen köstlicheren aus ihren Köpfen hervorschiessen könntenSchreibversehen, statt: könnte.

Ich freue mich jetzt schon auf den Genuss Deine jüngste Tochtermetaphorisch für die neueste literarische oder dichterische Arbeit Wedekinds; hier dürfte Oskar Schibler auf die „Jugendmemoiren“ anspielen, die Wedekind schreiben wollte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884]. zu liebkosen und wenn sie auch noch in jugendlichen Jahren steht so sieht man doch bereits, was aus ihr werden wird und vor allem ob sie die Züge ihres Erzeugers trägt. Lasse auch hierin das von Deiner Tantedie von Frank Wedekind als seine ‚philosophische Tante‘ bezeichnete Olga Plümacher, eine Jugendfreundin seiner Mutter. Dir zugerufene Wort auftreten: „Glaube an Dich selbstBriefzitat [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 23.6.1884], das Wedekind dem Freund mitgeteilt haben dürfte – in einem nicht überlieferten Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Oskar Schibler, 23.7.1884.“ indem Du nämlich nichts künstelst sondern alles so niederschreibst | wie an es Dir aus dem Herzen quillst, kühn von dem Gedanken ausgehend, es ist Natur & diese wird ihr Recht auf den Leser schon geltend machen. Deiner Idee, dass wenn Du reine Wahrheit schreiben wolltest, ein cynisches Werk daraus entstehen würde, kann ich nicht beistimmen, denn ich glaube, dass Du dies gar nicht könntest. Du würdest alles was man sonst im gewöhnlichen Leben & unter gewöhnlichen Menschen für cynisch ansieht von einem ganz andern Gesichtspunkte ausbetrachtenSchreibversehen, statt: aus betrachten., sodass das nacte und abstossende wenn nicht ganz verschwinden würde doch bedeutend herabgemindert würde. –– Der Plan Leipzigzweites Zitat aus dem nicht überlieferten Schreiben Wedekinds an den Freund (siehe oben); Oskar Schibler hatte den Gedanken aufgebracht, im kommenden Semester gemeinsam an einem Ort (Leipzig oder Berlin) zu studieren [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884], aus dem Wedekind einen Plan für Leipzig entwickelt haben dürfte. ist nicht übel wenn er nur realisirt werden kann, denn ich weiss selbst noch nicht wohin ich das nächste Semester durch den Willen meines VatersOskar Schiblers Stiefvater Joseph Keller (auch Keller-Franke), der Obergerichtsschreiber in Aarau war. in Aarau gelangen werde. Studiren muss ich nun auch, denn das 3te Semester ist bereits genaht und da/e/s Bummellebens bin ich auch überdrüssig. Schön wäre das ZusamenlebenSchiblers Schreibweise, für: Zusammenleben., das weiss ich schon jetzt und der gegenseitige Einfluss nur erfrischend und stärkend. Vertrauen wir nicht auf unsere Sterne sondern schmieden wir selbstthätig unser Loos selbst. Leb wohl und gedenke in Treue
Deines Freundes Oscar.


[Am Fuß der Seite 3 um 180 Grad gedreht:]

Deine Kritik in betreff der 2 BilderWedekind hatte sich vor seiner Abreise nach Lausanne im Fotoatelier „Fr. Gysi“ in Aarau ablichten lassen und 2 Probeabdrucke zur Auswahl erhalten [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1884; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. – Einen Abzug (nicht überliefert) schickte er dem Freund [Wedekind an Oskar Schibler, 19.6.1884], der in seiner Antwort auf die Differenz von Person und Abbild zu sprechen kommt [Oskar Schibler, 20.6.1884]. hat mich sehr amüsirt und enthält wirklich Wahrheit.<lat>

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß. 12 x 19 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Silben, die hier aufgelöst sind.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Freiburg im Breisgau
    24. Juli 1884 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Freiburg im Breisgau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lausanne
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 156
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Oskar Schibler an Frank Wedekind, 24.7.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

19.11.2024 13:54
Kennung: 4315

Freiburg im Breisgau, 24. Juli 1884 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Schibler, Oskar

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Freiburg 24.VII.84Wedekinds Geburtstag; er wurde 20 Jahre alt..

Mein lieber Franklin!

Noch wenige Tage werden verstreichen & die geliebte Musenstadtin der Schüler- und Studentensprache Synonym für die Universitätsstadt, zum Beispiel im Studentenlied „Ich zog ich zog zur Musenstadt“ (O Akademia); hier Synonym für Freiburg im Breisgau, wo Oskar Schibler im Sommersemester 1884 studierte. mit all ihren wechselnden Bildern, sowohl der reizenden Umgebung, wie der gemüthlichen Menschen, werde ich im Rücken haben und in der Erinnerung allein wird dies alles begraben sein. Aber aus diesem Grabe werden Blumen steigenwohl in Anlehnung an Leopold Schefers Gedichtverse: „Dann träumt ein Gott im Grabe, / Draus Blumen steigen und wehn.“ [(Leopold Schefer:) Hafis in Hellas. Von einem Hadschi. Hamburg 1853, S. 66], die noch in späten Tagen meinen Sinn durch ihren Duft betäuben werden und das Herz höher schlagen lassen. Doch weiter geht mein Sinn nach Abwechslung und wenig an die Zukunft denkend überschleicht mich manchmal wie ein Dieb in der Nacht, der dem erkorenen Opfer die sinnberaubende Mützeheftiger Hieb, Schlag [vgl. Schweizerisches Idiotikon, Bd. IV, Sp. 619 (mutzen, mützen)]. über den Kopf schlägt, der Gedanke, dass ich einmal gezwungen | sein werde in einem kleinen einsamen Städtchen meine Jahre hinzuschleppen. Doch ich werde die ganze Welt, alle Menschen in meinen Bereich ziehen und so den PrometheusfelsenFelsen des Kaukasusgebirges, an den nach der griechischen Mythologie der Titan Prometheus nach seinem Feuerraub geschmiedet wird, wo ein Adler regelmäßig von seiner Leber frisst, bis Herakles ihn von den Qualen befreit und er von Zeus begnadigt wird. vergessen. Du kannst die gleiche Aufregung in einem abgelegenen Ort wie im Taumel der sich amüsirenden Menschen haben; es kommt ja doch alles auf Aufregung hinaus. Was ist das Gefallen am Schönen anders als Nervenkitzel und oft habe ich mich überdrüssig der langweiligen Umgebung nach Hause geflüchtet den Heine vorgenommenOskar Schibler besaß eine Heine-Werkausgabe, von der Wedekind im Frühjahr 1883 wenigstens 3 Bände ausgeliehen und gelesen hatte [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 25.4.1883; 29.4.1883; Oskar Schibler an Wedekind, 8.5.1883]. (nicht Gedichte)! und mehr Genuss daran gehabt als an einem tollen Kneipgelage. Ich bin gerade in der Laune einen recht in dies aufregende Thema einschlägigen Wunsch zu thun. Ich glaube nämlich, dass überall, wo man mit Menschen | zusammenkommt es gleich fad und oberflächlich hergeht und zur Abwechslung möchte ich einmal für ein recht dämonisches Weib, schön an Leib mit sprudelndem Geiste leidenschaftlich erglühen und gleich wie mit Lavafluthen mit meinen Gefühlsergüssen überstürzen. Welch Genuss wie sie selbst Gott mit seinen Millionen Hofräthen nicht einen köstlicheren aus ihren Köpfen hervorschiessen könntenSchreibversehen, statt: könnte.

Ich freue mich jetzt schon auf den Genuss Deine jüngste Tochtermetaphorisch für die neueste literarische oder dichterische Arbeit Wedekinds; hier dürfte Oskar Schibler auf die „Jugendmemoiren“ anspielen, die Wedekind schreiben wollte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884]. zu liebkosen und wenn sie auch noch in jugendlichen Jahren steht so sieht man doch bereits, was aus ihr werden wird und vor allem ob sie die Züge ihres Erzeugers trägt. Lasse auch hierin das von Deiner Tantedie von Frank Wedekind als seine ‚philosophische Tante‘ bezeichnete Olga Plümacher, eine Jugendfreundin seiner Mutter. Dir zugerufene Wort auftreten: „Glaube an Dich selbstBriefzitat [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 23.6.1884], das Wedekind dem Freund mitgeteilt haben dürfte – in einem nicht überlieferten Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Oskar Schibler, 23.7.1884.“ indem Du nämlich nichts künstelst sondern alles so niederschreibst | wie an es Dir aus dem Herzen quillst, kühn von dem Gedanken ausgehend, es ist Natur & diese wird ihr Recht auf den Leser schon geltend machen. Deiner Idee, dass wenn Du reine Wahrheit schreiben wolltest, ein cynisches Werk daraus entstehen würde, kann ich nicht beistimmen, denn ich glaube, dass Du dies gar nicht könntest. Du würdest alles was man sonst im gewöhnlichen Leben & unter gewöhnlichen Menschen für cynisch ansieht von einem ganz andern Gesichtspunkte ausbetrachtenSchreibversehen, statt: aus betrachten., sodass das nacte und abstossende wenn nicht ganz verschwinden würde doch bedeutend herabgemindert würde. –– Der Plan Leipzigzweites Zitat aus dem nicht überlieferten Schreiben Wedekinds an den Freund (siehe oben); Oskar Schibler hatte den Gedanken aufgebracht, im kommenden Semester gemeinsam an einem Ort (Leipzig oder Berlin) zu studieren [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884], aus dem Wedekind einen Plan für Leipzig entwickelt haben dürfte. ist nicht übel wenn er nur realisirt werden kann, denn ich weiss selbst noch nicht wohin ich das nächste Semester durch den Willen meines VatersOskar Schiblers Stiefvater Joseph Keller (auch Keller-Franke), der Obergerichtsschreiber in Aarau war. in Aarau gelangen werde. Studiren muss ich nun auch, denn das 3te Semester ist bereits genaht und da/e/s Bummellebens bin ich auch überdrüssig. Schön wäre das ZusamenlebenSchiblers Schreibweise, für: Zusammenleben., das weiss ich schon jetzt und der gegenseitige Einfluss nur erfrischend und stärkend. Vertrauen wir nicht auf unsere Sterne sondern schmieden wir selbstthätig unser Loos selbst. Leb wohl und gedenke in Treue
Deines Freundes Oscar.


[Am Fuß der Seite 3 um 180 Grad gedreht:]

Deine Kritik in betreff der 2 BilderWedekind hatte sich vor seiner Abreise nach Lausanne im Fotoatelier „Fr. Gysi“ in Aarau ablichten lassen und 2 Probeabdrucke zur Auswahl erhalten [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1884; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. – Einen Abzug (nicht überliefert) schickte er dem Freund [Wedekind an Oskar Schibler, 19.6.1884], der in seiner Antwort auf die Differenz von Person und Abbild zu sprechen kommt [Oskar Schibler, 20.6.1884]. hat mich sehr amüsirt und enthält wirklich Wahrheit.<lat>

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß. 12 x 19 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Silben, die hier aufgelöst sind.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Freiburg im Breisgau
    24. Juli 1884 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Freiburg im Breisgau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lausanne
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 156
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Oskar Schibler an Frank Wedekind, 24.7.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

19.11.2024 13:54