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Kennung: 4313

Freiburg im Breisgau, 20. Juni 1884 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Schibler, Oskar

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Freiburg 20.VI.84.

Mein lieber Franklin!

Welcher Brief!nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Oskar Schibler, 19.6.1884. Wenn er der directe Ausfluss Deiner fortwährenden Stimmung ist so bist Du zu bedauern. Vergleiche ich ihn mit den andern voll Kühnheit & tollen Ideen, die die ganze Menschheit über den Haufen stürzen wi/o/llen, so ist dieser ein Schatten, ein Scelett von dem abgeschiedenen Kraftmenschen. Suche Dich aufzuraffen, lieber toll überschäumen als so griesgrämig und ergeben die Flügel hängen lassen. Ich weiss ja wohl aus eigener Erfahrung, daß man aus liebem Freundeskreise entrissen und einsam in eine kalte Menschenmasse hineingestellt nicht besonders gut aufgelegt ist, aber schaff Dir selbst eine Welt. Hab ich nicht selber eine Welt im Innern verlangend Herz sei Du Dir selbst genugSchlussvers aller Strophen aus dem Gedicht „Entsagung“ (1857) des 1879 in Zürich gestorbenen Schweizer Dichters Heinrich Leuthold. Mit dem Spruch munterten sich die beiden Freunde schon in der Schülerzeit gegenseitig auf [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 26.5.1881; 24.6.1881; Oskar Schibler an Wedekind, 17.9.1881].! Eine gewisse Geisteselasticität muss man | immer behalten selbst in Sturm & Drang & Noth. Aber wie es mir den Eindruck macht ist eigentlich nicht Dein AufenthaltsortSeit dem 1.5.1884 wohnte Wedekind zusammen mit seinem Bruder Willy bei dem Tierarzt Emile Daniel Gros in der Villa Mon-Caprice am Chemin de Montchoisy in Lausanne [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 28]. Nach bestandenem Abitur (10.4.1884) hatte Frank Wedekind die Erlaubnis erhalten, an der Académie de Lausanne ein Semester Literatur neuerer Sprachen zu studieren [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 27f.]. die Quelle Deiner Misstimmung, sondern sie liegt in Dir selbst; verscheuche die unangenehmen nur hemmenden Gedanken aus Deiner Seele & sobald diese frei ist, so wirst Du auch Deine Umgebung freier ansehen. Die Seele resp.beziehungsweise; genauer gesagt. Der Seelenzustand ist nur der Spiegel in dem Du die aussenen(schweiz.) außen; äußeren. Stücke aufnimmst, ist er trüb so ist auch ih sein Bild trüb & umgekehrt; Du sagst selbst, dass Dich eine gewisse Schlaffheit übermanne, frage Dich woher die rührt & Du wirst finden, daß sie eigentlich gar nicht existirt, sondern daß> im Gegentheil eine Aufregung vorhanden ist, die Dich ohne dass Du es ahnst belästigst & Dir eine Gedankenrichtung gibt, die dann den oben genannten Zustand zu folge hat. Befreie Dich von diesen Gedanken und bald wirst Du alles anders ansehen. Welche Worte schliessen den Brief „Verfehltes | Dasein“, niemandem will ich diese Worte sagen, denn ich würde triumphirend die Antwort erhalten, so auch der ist endlich erlegen. Vertraue Dir selbst & ich glaube die Berechtigung zu haben Dir sagen zu dürfen, dass Du noch einmal Deinen Mann stellen wirst. Ruf Deinen alten Frohsinn zurück, er schlummert nur & vor allem pflege Deine Muse, die hält Dich hoch & lässt Dich von hoher Warte herab das kleinliche Getriebe missachten. Pfleg Deine Muse!

Das Eis brach auf, mein Herz ward weitSchlussstrophe von Wedekinds Gedicht „Jubilate“ [vgl. KSA 1/I, S. 90f., Kommentar KSA 1/II, S. 2171-2179]. Die auf den 27.1.1883 datierte Reinschrift befindet sich im Nachlass Oskar Schiblers [vgl. Aa Wedekind-Archiv B, Schachtel 13, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler].
Und jubelte Liebeslieder.
So kam die alte Glückseligkeit,
Das alte Vergnügen wieder!

fiat!(lat.) es soll geschehen!

Lieber Franklin, Du weisst ja, dass ich Dich liebe & wenn Du einmal Dich recht ungemüthlich fühlst so setze Dich an den Schreibtisch & versuche einige Zeilen an mich zu senden, und in den Gedanken an die schön verlebte GymnasialzeitWedekind besuchte von Frühjahr 1879 bis Frühjahr 1881 und von Herbst 1881 bis Frühjahr 1884 das Gymnasium der Kantonsschule Aarau; die ersten beiden Schuljahre war Oskar Schibler sein Klassenkamerad. wird deine trübe Stimmung untergehen. Darf ich das hoffen? |

Den Gedanken jetzt Deine Jugendmemoirennicht ermittelt. zu schreiben kann ich nur mit Freuden begrüssen. Wo wäre das beste Heilmittel für deine Stimmung zu suchen als gerade in Deinen Jugenderinnerungen, Da verschwindet alles unangenehme nur die Lichtpunkte sind im Gedächtniss treu zurückbehalten. Wenn Du auch in etwas bei Dir ungewöhnlicher Weise zu sehr auf das Publickum rücksicht nimmst & glaubst, dass die einzelne Menschenseele nur ein Sandkorn im Stundenglas der zeitdie Sanduhr. ist, so kann ein einzelnes Korn Einfluss haben auf eine grosse Masse gewichts/l/a/o/ser. Für eine einzelne Menschenseele ist doch die kurze zeit die Welt und Ewigkeit. Schildere also Deine Erlebnisse so, dass Du allgemeine Gedanken daran knüpfst & aus dem äussern Kleid den innern jedermann interessirenden Kern in spannender Form hervorziehst. Indem ich auf Deine PhotographieWedekind hatte sich vor seiner Abreise nach Lausanne im Fotoatelier Fr. Gysi in Aarau ablichten lassen und 2 Probeabdrucke zur Auswahl erhalten [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1884; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. Die Fotografie ist im Nachlass Schibler nicht erhalten, möglicherweise handelt es sich um das bei Kutscher abgebildete Porträtfoto [(Kutscher 1, S. 6) vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 31]. zu sprechen komme für die ich Dir herzlich danke & die den Ehrenplatz zur Rechten auf meinem Schreibtisch einnimmt, so will ich Dir zu Deiner | Beruhigung mittheilen, daß es Gesichter gibt die man nicht photographiren kann, d. h. das Aeussere, die Formen schon aber nicht den Geist ich möchte sagen die Seele der Physiognomie, gleichsam nur den Leichnam. Gleichwie eine Landschaft ein wenig interessantes äussere hat wenn ein trüber HimelOskar Schiblers Schreibweise für: Himmel. sie bedeckt & wenn ein belebender Sonnenstrahl sie bescheint alle entzückt mit fortreisst.

Welche Woge des väterlichen Zornausbruches hat Dich überhaupt auf jenes dunkle Eiland geschleudert & dich zum Wüstenbewohner gestempelt? Glaube mir es ist schwer Freunde zu finden, die in Freud & Leid zu einem halten, auch ich habe das erfahren & bin, wie soll ich sagen, aus Langeweile in eine BurschenschafOskar Schibler wurde Mitglied der schlagenden und farbentragenden Burschenschaft „Teutonia Freiburg“ [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 14.7.1884].t eingetreten. Hohler Flitter wie alle Couleurgeschichten. Wo sind die Ideale des Studentenlebens hin verflogen, die wir auf dem Gymnasium gehegt? Existiren sie nicht, oder sind sie zu schwer zu finden! Ich glaube wir müssen sie selbst erst schaffen, einen kleinen geistverwandten | Kreis junger Leute um sich sammeln & in Freud & Leid immer inniger sich zusammengesellen. Wohin gehst Du das nächste SemesterWedekind nahm im Wintersemester 1884/85 ein Studium der Rechte an der Ludwig Maximilian Universität München auf.? Womöglich liesse sich eine Übereinstimmung vereinbaren. Ich gedenke nach Leipzig oder Berlin zu wandern.Oskar Schibler setzte sein Jurastudium in Leipzig fort.

––– Du scheinst neben Deiner etwas realistischen RosaHausangestellte der Familie Gros in Lausanne, bei der Wedekind wohnte [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 26.7.1884]. noch eine platonische FridaEs dürfte sich um Frida Zschokke handeln, die im Mädchenpensionat bei Madam Duplan (geborene Gaudard) in Lausanne lebte und die Wedekind aus Aarau kannte, wo sie bis Januar 1884 das Töchterseminar besucht hatte [vgl. Elfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1883/84, S. 5]. Sie war die jüngere Schwester von Wedekinds ehemaligem Klassenkameraden Ernst Zschokke. zu verehren. Vielseitigkeit deiner Herzensveranlagung ist Dir entschieden nicht abzustreiten. Was die eine vielleicht zu wenig hat, hat die andere zu viel. Viel Glück auf Deinem Liebeskriegspfad.

Ich muss noch indirekt den besten Dank Deiner verehrten Frau Mutter aussprechen für die liebenswürdige Bereitwilligkeit, die Sie mir bei der Übersendung Deiner AdresseOskar Schibler hatte Emilie Wedekind darum gebeten. Er schrieb: „Hochverehrte Frau! Da ich seit meiner letzten Anwesenheit in Aarau Franklin aus den Augen verloren und in folge dessen weder seinen Aufenthaltsort noch seine genauere Adresse kenne, so bin ich so frei Sie um den grossen Dienst zu bitten, mir darüber Auskunft zu geben. Mit vorzüglicher Hochachtung und stets zu jedem Gegendienst bereit, grüsst Sie und Ihre werthe Familie. Schibler stud. iur. Schlossbergstrasse 24 Freiburg i/B. Freiburg 4 VI. 84.“ [vgl. Mü, Nachlass Frank Wedekind, FW B 156] gezeigt hat. Lassen wir unsern Briefwechsel nicht einschlafen, im Gegentheil crescat(lat.) er möge zunehmen.. Schreibe recht bald & empfange meinen besten Gruss.
Dein treuer Freund Oscar.

Ich gedenke nächstes Semester meine bunte Mützeauch: Couleur Mütze; äußeres Merkmal der Zugehörigkeit zu einer farbentragenden Studenten- oder Schülerverbindung. an den Nagel zu hängendas studentische Bummelleben zu beenden und das Fachstudium mit Ernst zu beginnen [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 24.7.1884]..

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 1 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht. 1 Blatt. 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Silben, die hier aufgelöst sind.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Freiburg im Breisgau
    20. Juni 1884 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Freiburg im Breisgau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lausanne
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 156
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Oskar Schibler an Frank Wedekind, 20.6.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

19.11.2024 13:46
Kennung: 4313

Freiburg im Breisgau, 20. Juni 1884 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Schibler, Oskar

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Freiburg 20.VI.84.

Mein lieber Franklin!

Welcher Brief!nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Oskar Schibler, 19.6.1884. Wenn er der directe Ausfluss Deiner fortwährenden Stimmung ist so bist Du zu bedauern. Vergleiche ich ihn mit den andern voll Kühnheit & tollen Ideen, die die ganze Menschheit über den Haufen stürzen wi/o/llen, so ist dieser ein Schatten, ein Scelett von dem abgeschiedenen Kraftmenschen. Suche Dich aufzuraffen, lieber toll überschäumen als so griesgrämig und ergeben die Flügel hängen lassen. Ich weiss ja wohl aus eigener Erfahrung, daß man aus liebem Freundeskreise entrissen und einsam in eine kalte Menschenmasse hineingestellt nicht besonders gut aufgelegt ist, aber schaff Dir selbst eine Welt. Hab ich nicht selber eine Welt im Innern verlangend Herz sei Du Dir selbst genugSchlussvers aller Strophen aus dem Gedicht „Entsagung“ (1857) des 1879 in Zürich gestorbenen Schweizer Dichters Heinrich Leuthold. Mit dem Spruch munterten sich die beiden Freunde schon in der Schülerzeit gegenseitig auf [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 26.5.1881; 24.6.1881; Oskar Schibler an Wedekind, 17.9.1881].! Eine gewisse Geisteselasticität muss man | immer behalten selbst in Sturm & Drang & Noth. Aber wie es mir den Eindruck macht ist eigentlich nicht Dein AufenthaltsortSeit dem 1.5.1884 wohnte Wedekind zusammen mit seinem Bruder Willy bei dem Tierarzt Emile Daniel Gros in der Villa Mon-Caprice am Chemin de Montchoisy in Lausanne [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 28]. Nach bestandenem Abitur (10.4.1884) hatte Frank Wedekind die Erlaubnis erhalten, an der Académie de Lausanne ein Semester Literatur neuerer Sprachen zu studieren [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 27f.]. die Quelle Deiner Misstimmung, sondern sie liegt in Dir selbst; verscheuche die unangenehmen nur hemmenden Gedanken aus Deiner Seele & sobald diese frei ist, so wirst Du auch Deine Umgebung freier ansehen. Die Seele resp.beziehungsweise; genauer gesagt. Der Seelenzustand ist nur der Spiegel in dem Du die aussenen(schweiz.) außen; äußeren. Stücke aufnimmst, ist er trüb so ist auch ih sein Bild trüb & umgekehrt; Du sagst selbst, dass Dich eine gewisse Schlaffheit übermanne, frage Dich woher die rührt & Du wirst finden, daß sie eigentlich gar nicht existirt, sondern daß> im Gegentheil eine Aufregung vorhanden ist, die Dich ohne dass Du es ahnst belästigst & Dir eine Gedankenrichtung gibt, die dann den oben genannten Zustand zu folge hat. Befreie Dich von diesen Gedanken und bald wirst Du alles anders ansehen. Welche Worte schliessen den Brief „Verfehltes | Dasein“, niemandem will ich diese Worte sagen, denn ich würde triumphirend die Antwort erhalten, so auch der ist endlich erlegen. Vertraue Dir selbst & ich glaube die Berechtigung zu haben Dir sagen zu dürfen, dass Du noch einmal Deinen Mann stellen wirst. Ruf Deinen alten Frohsinn zurück, er schlummert nur & vor allem pflege Deine Muse, die hält Dich hoch & lässt Dich von hoher Warte herab das kleinliche Getriebe missachten. Pfleg Deine Muse!

Das Eis brach auf, mein Herz ward weitSchlussstrophe von Wedekinds Gedicht „Jubilate“ [vgl. KSA 1/I, S. 90f., Kommentar KSA 1/II, S. 2171-2179]. Die auf den 27.1.1883 datierte Reinschrift befindet sich im Nachlass Oskar Schiblers [vgl. Aa Wedekind-Archiv B, Schachtel 13, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler].
Und jubelte Liebeslieder.
So kam die alte Glückseligkeit,
Das alte Vergnügen wieder!

fiat!(lat.) es soll geschehen!

Lieber Franklin, Du weisst ja, dass ich Dich liebe & wenn Du einmal Dich recht ungemüthlich fühlst so setze Dich an den Schreibtisch & versuche einige Zeilen an mich zu senden, und in den Gedanken an die schön verlebte GymnasialzeitWedekind besuchte von Frühjahr 1879 bis Frühjahr 1881 und von Herbst 1881 bis Frühjahr 1884 das Gymnasium der Kantonsschule Aarau; die ersten beiden Schuljahre war Oskar Schibler sein Klassenkamerad. wird deine trübe Stimmung untergehen. Darf ich das hoffen? |

Den Gedanken jetzt Deine Jugendmemoirennicht ermittelt. zu schreiben kann ich nur mit Freuden begrüssen. Wo wäre das beste Heilmittel für deine Stimmung zu suchen als gerade in Deinen Jugenderinnerungen, Da verschwindet alles unangenehme nur die Lichtpunkte sind im Gedächtniss treu zurückbehalten. Wenn Du auch in etwas bei Dir ungewöhnlicher Weise zu sehr auf das Publickum rücksicht nimmst & glaubst, dass die einzelne Menschenseele nur ein Sandkorn im Stundenglas der zeitdie Sanduhr. ist, so kann ein einzelnes Korn Einfluss haben auf eine grosse Masse gewichts/l/a/o/ser. Für eine einzelne Menschenseele ist doch die kurze zeit die Welt und Ewigkeit. Schildere also Deine Erlebnisse so, dass Du allgemeine Gedanken daran knüpfst & aus dem äussern Kleid den innern jedermann interessirenden Kern in spannender Form hervorziehst. Indem ich auf Deine PhotographieWedekind hatte sich vor seiner Abreise nach Lausanne im Fotoatelier Fr. Gysi in Aarau ablichten lassen und 2 Probeabdrucke zur Auswahl erhalten [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1884; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. Die Fotografie ist im Nachlass Schibler nicht erhalten, möglicherweise handelt es sich um das bei Kutscher abgebildete Porträtfoto [(Kutscher 1, S. 6) vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 31]. zu sprechen komme für die ich Dir herzlich danke & die den Ehrenplatz zur Rechten auf meinem Schreibtisch einnimmt, so will ich Dir zu Deiner | Beruhigung mittheilen, daß es Gesichter gibt die man nicht photographiren kann, d. h. das Aeussere, die Formen schon aber nicht den Geist ich möchte sagen die Seele der Physiognomie, gleichsam nur den Leichnam. Gleichwie eine Landschaft ein wenig interessantes äussere hat wenn ein trüber HimelOskar Schiblers Schreibweise für: Himmel. sie bedeckt & wenn ein belebender Sonnenstrahl sie bescheint alle entzückt mit fortreisst.

Welche Woge des väterlichen Zornausbruches hat Dich überhaupt auf jenes dunkle Eiland geschleudert & dich zum Wüstenbewohner gestempelt? Glaube mir es ist schwer Freunde zu finden, die in Freud & Leid zu einem halten, auch ich habe das erfahren & bin, wie soll ich sagen, aus Langeweile in eine BurschenschafOskar Schibler wurde Mitglied der schlagenden und farbentragenden Burschenschaft „Teutonia Freiburg“ [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 14.7.1884].t eingetreten. Hohler Flitter wie alle Couleurgeschichten. Wo sind die Ideale des Studentenlebens hin verflogen, die wir auf dem Gymnasium gehegt? Existiren sie nicht, oder sind sie zu schwer zu finden! Ich glaube wir müssen sie selbst erst schaffen, einen kleinen geistverwandten | Kreis junger Leute um sich sammeln & in Freud & Leid immer inniger sich zusammengesellen. Wohin gehst Du das nächste SemesterWedekind nahm im Wintersemester 1884/85 ein Studium der Rechte an der Ludwig Maximilian Universität München auf.? Womöglich liesse sich eine Übereinstimmung vereinbaren. Ich gedenke nach Leipzig oder Berlin zu wandern.Oskar Schibler setzte sein Jurastudium in Leipzig fort.

––– Du scheinst neben Deiner etwas realistischen RosaHausangestellte der Familie Gros in Lausanne, bei der Wedekind wohnte [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 26.7.1884]. noch eine platonische FridaEs dürfte sich um Frida Zschokke handeln, die im Mädchenpensionat bei Madam Duplan (geborene Gaudard) in Lausanne lebte und die Wedekind aus Aarau kannte, wo sie bis Januar 1884 das Töchterseminar besucht hatte [vgl. Elfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1883/84, S. 5]. Sie war die jüngere Schwester von Wedekinds ehemaligem Klassenkameraden Ernst Zschokke. zu verehren. Vielseitigkeit deiner Herzensveranlagung ist Dir entschieden nicht abzustreiten. Was die eine vielleicht zu wenig hat, hat die andere zu viel. Viel Glück auf Deinem Liebeskriegspfad.

Ich muss noch indirekt den besten Dank Deiner verehrten Frau Mutter aussprechen für die liebenswürdige Bereitwilligkeit, die Sie mir bei der Übersendung Deiner AdresseOskar Schibler hatte Emilie Wedekind darum gebeten. Er schrieb: „Hochverehrte Frau! Da ich seit meiner letzten Anwesenheit in Aarau Franklin aus den Augen verloren und in folge dessen weder seinen Aufenthaltsort noch seine genauere Adresse kenne, so bin ich so frei Sie um den grossen Dienst zu bitten, mir darüber Auskunft zu geben. Mit vorzüglicher Hochachtung und stets zu jedem Gegendienst bereit, grüsst Sie und Ihre werthe Familie. Schibler stud. iur. Schlossbergstrasse 24 Freiburg i/B. Freiburg 4 VI. 84.“ [vgl. Mü, Nachlass Frank Wedekind, FW B 156] gezeigt hat. Lassen wir unsern Briefwechsel nicht einschlafen, im Gegentheil crescat(lat.) er möge zunehmen.. Schreibe recht bald & empfange meinen besten Gruss.
Dein treuer Freund Oscar.

Ich gedenke nächstes Semester meine bunte Mützeauch: Couleur Mütze; äußeres Merkmal der Zugehörigkeit zu einer farbentragenden Studenten- oder Schülerverbindung. an den Nagel zu hängendas studentische Bummelleben zu beenden und das Fachstudium mit Ernst zu beginnen [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 24.7.1884]..

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 1 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht. 1 Blatt. 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Silben, die hier aufgelöst sind.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Freiburg im Breisgau
    20. Juni 1884 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Freiburg im Breisgau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lausanne
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 156
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Oskar Schibler an Frank Wedekind, 20.6.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

19.11.2024 13:46