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Kennung: 4306

Lenzburg, 15. Januar 1884 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar

Inhalt

Schloß Lenzburg I 84.


Lieber Freund.

Der Prolog ist nun endlich unter heftigen Geburtsschmerzen zur Welt gebracht und ich hange und bange in schwebender Pein, wie er höheren Orts aufgenommen und wie es ihm künftighin in der Welt ergehen wirdSeinen „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonsschüler“ trug Wedekind am 1.2.1884 (Beginn 19.30) im neuen Festsaal in Aarau mit großem Beifall vor [Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 26, 31.1.1884, S. (4)]. Über die Veranstaltung schrieb die Kantonsschule: „Das Programm, aus einem Prolog, mehreren Vocal- und Orchesternummern, Declamationen und dramatischen Darstellungen bestehend, hatte eine unerwartet große Zahl Zuhörer angezogen; die Leistungen der Schüler haben, Dank den eifrigen Bemühungen einiger unsrer Collegen die Erwartungen des Publikums durchaus befriedigt. [...] Da dieser Versuch durchaus günstig ausgefallen ist, und da nun ein sehr schönes und geräumiges Lokal zur Verfügung steht (woran es bisher mangelte), so hoffen wir den Schülern jeden Winter einen oder zwei solcher Abende bieten zu können.“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1883/84, S. 9; vgl. auch KSA 1/II, S. 1983ff.]. So hab’ ich denn endlich wieder Zeit und Ruhe, mich mit meinen Lieben zu unterhall/t/en und, wenn auch nur | im Reiche der Phantasie ihre Gesellschaft zu genießen. Ich war im Zweifel, ob ich (Entschuldige diese Thräne der Rührung!) meiner lieben TanteOlga Plümacher, Wedekinds ‚philosopische Tante‘, eine Jugendfreundin seiner Mutter., meiner FreundinAnny Barck aus Freiburg im Breisgau, Mitglied des im Herbst gegründeten Freundschaftsbund „Fidelitas“. Wedekind hatte sie im Juli 1883 während ihres Besuchs (bei Minna von Greyerz) in Lenzburg kennengelernt. Frl. Bark, meinem Bruder StudioArmin Wedekind, der ebenfalls zum Freundschaftsbund „Fidelitas“ gehörte, studierte seit dem Wintersemester 1883/84 in Göttingen. in Göttingen oder dir, Altes Haupt, den Vorzug geben sollte; aber es zieht mich etwas zu dir hin, das mir fast wie Heimweh nach durch der/ie/ Seele weht, Heimweh nach der Zeit, wo noch nicht so leicht der Mißklang zwischen uns ert schrillte, der einen so tragischen AbschiedWährend der Weihnachtsferien (bis 6.1.1884), die der Straßburger Student Oskar Schibler bei der Familie in Aarau verbrachte, muss es zwischen den Freunden zum Streit gekommen sein. hervorrief. Ich weiß nicht, was mich davor/n/ abhält, den unangenehmen Ausgang einfach in tiefes | Schweigen zu hüllen und weiter nicht zu berühren. Ich glaube, es sei die Furcht, das also nur chloroformirtemit Chloroform betäubt. Ungeheuer möchte zur unrechten Zeit wieder erwachen und von n/N/euem mit G gespenstischem Grinsen zwi in unseren Kreis treten. Al Demnach zieh’ ich es vor, mit kühnem Stoß +n/ihm/ das Leben vollend/s/ zu rauben, daß es jählings in seine Heimath, die Hölle, fährt. – Laß mich dir folgenden Vorschlag machen:

1. Unumschränkte Offenheit, Aufrichtigkeit gegen einander.

2. Wollen Laß uns alle zarte Empfindlichkeit, die | in der Welt gewiß oft sehr am Platze ist, vollständig aus unserer Gesellschaft verbannt sein.

3. Sollte einer von uns sich aber ernstlich vom anderen beleidigt fühlen, so revangire er sich nicht durch einen entgegengeschleuderte Beleidigung, sonderveraltet, statt: sondern. sage dem anderen offen und ehrlich so und so und das/s/ kann ich mir nicht gefallen lassen.

4. Sei jeder sofort mit Verzeihung und Vergessen bereit und suche dem anderen nichs nichts nachzutragen.

––––––

Von jeher fühlten wir uns wol mehr durch unsere beider|seitige harmonirende Naturveranlagung zu einander hingezogen, als durch die 100 Versprechungen in/von/ Liebe und Treue, die wir uns schon oft an den Kopf warfen. Unserm/e/ Freundschaft ist demnach durchaus nichts Zufälliges, von uns selbst auf Gu gut Glück hin Geschlossenes, sondern sie liegt in der Natur begründet und ward durch sie geweiht. Wir verstehen uns gegenseitig und haben uns ohne alle feierliche Herzenserhergüsse vollständig durchschaut. In Folge dessen erreichte u/U/nser Zusammenleben in kurzer ZeitWedekind und Oskar Schibler besuchten von Frühjahr 1879 bis Frühjahr 1881 gemeinsam die ersten beiden Klassen des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau, wo sie sich bald befreundeten [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 27.11.1779]. eine Innigkeit | wie sie bei David und JonathanNach einer biblischen Erzählung entstand zwischen Jonathan, dem Sohn des Königs Saul, und dem Hirten David eine enge Freundschaft, nachdem letzterer im Kampf den Riesen Goliath bezwingt [vgl. 1. Samuel 18, 1-5]., bei Orest und Pyladesin der griech. Mythologie die geschwistergleich aufgewachsenen Freunde Orest (Neffe des Agamemnon) und Pylades (Sohn des Agamemnon), die gemeinsam zahlreiche Prüfungen bestehen, unter anderem in den Tragödien „Orestes“ und Iphigenie bei den Taurern des Euripides (Goethe „Iphigenie auf Taurus) verewigt., b oder bei meinem Bruder und Hans RauchensteinDie enge Freundschaft zwischen Hans Rauchenstein und Armin Wedekind dürfte während der 2 Jahre (1877-1879) entstanden sein, als beide die Kantonsschule Aarau besuchten und Armin Wedekind als Pensionist in der Familie Rauchenstein in Aarau wohnte. nur durch die überspannteste Schwärmerei möglich ist. Aber grade bei unserer großen Entfernung, bei unserem wenigen ZusammenseinSeitdem Wedekind die Kantonsschule im Frühjahr 1881 für ein halbes Jahr verlassen hatte und Oskar Schibler im Herbst 1881 an die Kantonsschule Solothurn wechselte, trafen sich die Freunde nur noch selten. könnte der Mangel solcher Schwärmerei gefährlich werden. Die Gefahr liegt hauptsächlich darin, daß wir uns gegenseitig entbehren lernen würden. Hüten wir uns davor! – Kommen dann s noch solche Momente, wie das vom letzten Freitag Abendvermutlich der 4.1.1884, vielleicht der 11.1.1884. hinzu, so ist der Satan vollends los und kann nur durch bedeutende | Katastrophen wieder eingefangen werden. Also bin ich sehr damit einverstanden, wenn unsere Correspondenz wieder ein wenig auflebt und sei es auch nur in kurzen Briefen (Meine MaturitätEnde März 1884 begannen die Maturitätsprüfungen am Gymnasium der Kantonsschule Aarau statt. Die Presse berichtete: „Die diesjährige Maturitätsprüfung der Gymnasialabiturienten an der Kantonsschule wird am 26., 27. und 28. März und ferner am 3. und 4. April im Sitzungszimmer des Erziehungsrathes abgehalten.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 71, 24.3.1884, S. (1)] tritt dem langen Schreiben einigermaßen in den Weg.) die aber sich desto häufiger folgen und uns in fortwährender geistiger Fühlung erhalten.

–––

Letzten Dienstagden 8.1.1884. schwamm ich wieder in einem Meer von Seligkeit bei Anlaß einer Soirée dansante(frz.) Tanzabend. die uns die Schwestervermutlich Marie Gaudard (auch Mary Gaudard), die unverheiratete Schwester von Blanche Zweifel. meiner Frau VenusPseudonym für Blanche Zweifel, in die sich Wedekind an einem Tanzabend der Familie Hünerwadel am 25.11.1883 verliebt hatte und auf die er mehrere Gedichte verfasste, unter anderem „Blanche Zweifel“ [vgl. KSA 1/I, S. 1090ff.; vgl. auch die Korrespondenzen mit Anny Barck und Minna von Greyerz]. gab. Sie war natürlich auch anwesend und spielte die Königin des Abens/d/s. Was | nun die Benennung „Venus“ anlangt, so schreibt mirvgl. Olga Plümacher an Wedekind, 5.1.1884. Tante Plümacher, der ich mein ganzes Herz ausgeschüttet habe, ganz das n/N/ämliche, was Du mir sagtest. „Wenn du dich aber TannhäuserDie Sage erzählt vom Tannhäuser, der sich in den Venusberg begibt, wo ihn Frau Venus, die Göttin der Liebe, die wahre Sinnlichkeit lehrt, was als sündiges Verhalten gewertet zu seiner Verdammnis in der Welt führt und ihn zur Rückkehr in den Venusberg veranlasst. Zu den zahlreichen literarischen Bearbeitungen des Motivs zählt auch Heinrich Heines Gedicht „Der Tannhäuser. Eine Legende“ (1844). und das junge Frauchen Venus nennst, so scheint mir das nicht ganz passend. Denn ich glaube nicht, daß dir gerade in den Beziehungen des Tannhäusers und der Frau Venus Gefahren von einer Lenzburgerin drohen. Diese jungen Damen unserer Spießbürgerkreise sind zum Charakter der Frau Venus zu klug; es gehört denn doch eine ganz gehörige Portion rein-menschlicher, heidnisch-olympischer Unklugheit dazu, um die Rolle der Frau | Venus zu spielen u.s.w.“

Meine liebe Tante warnt mich aber sehr davor, meine Leidenschaft nicht in so „künstlich aufgehätschelter“ Weise zu verpuffen und schreibt mir überhaupt einen sehr gestrengen Brief. Meine SonneteSchreibversehen, statt: Meine Sonette; Wedekinds Gedichte „Blanche Zweifel“ [KSA 1/I, S. 181] und „An Dieselbe“ [KSA 1/I, S. 181] dürften gemeint sein [vgl. KSA 1/I, S. 1090-1094 und S. 932-934]., die ich ihr ebenfalls sandte, finden nun erst recht keine Gnade vor ihren kritischen Blicken, sie weist mir kurz u. gut nach daß es gar keine Sonnete sind. Ich muß mir Mühe geben, sie wieder zu beruhigen, die gute Tante –.

Dein Fall wäre also vielmehr die rein-menschliche, heidnische-olympische Unklugheit und würde vor den Grundsätzen meiner humanen Tante in seinem ersten großen Ernste wol | w vielleicht mehr Billigung finden als meine „Liebelei“, von der sie behauptet, daß sie dem Menschen immer schade und hinderlich sei, ob sie mit 18 oder mit 40 Jahren auftrete.

––– Indessen rückt die schreckliche Passionszeitdie Leidenszeit der Prüfungsvorbereitungen, die am Aschermittwoch (27.2.1884) begann und mit der Zeugnisübergabe am Gründonnerstag vor Ostern (10.4.1884) endete. immer näher. Sie fällt in der Jahresrechnung just mit der von Christus zusammen. Aber statt wie er auf dem ÖlbergBerg in Jerusalem. werde ich auf dem Schloßberg in mitternächtlicher Stunde suee/eu/fzen aus tiefster Seele: „Vater Vater, la kann dieser Kelch nicht an mir vorübergehn? Aber dein Wille nicht mein Wille geschehe!frei zitiert in Anlehnung an die Worte, die Jesus im Garten Gethsemane am Fuß des Ölbergs zu Gott sprach [vgl. Lukas 22,42], ehe er gefangen genommen wurde.währendemSchreibversehen, statt: währenddem. seine schlafenden Jünger durch die gerade unter meinen Füßen schlummernde Viehmagdvermutlich Anspielung auf die von Amors Pfeil getroffene Viehmagd in Wedekinds Bucolicon „Die Bärin wohnt im tiefen Wald“, eines von zwei Gedichten, die er Oskar Schibler zum 20. Geburtstag schenkte [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 16.9.1881] und später den Titel „Stallknecht und Viehmagd. Carmen bucolicon“ gab [vgl. KSA 1/I, S. 798]. representiert werden. |

Wenn es mir nur nicht so schief geht wie es jenem ersten Maturanten gegangen ist. Seine Kreuzestod könnte doch eigentlich meinem durch etwaigen ††† Durchfall gleichgesetzt werden. Aber aus der Ferne Win winkt der Tag der Auferstehung: Das Geburtsfest meiner goldenen Freiheit. Und dann das Bündel geschnürt und hinaus gewandert in die weite Welt, alle’ den V/v/erhaßten u/U/nrath von Lenzburg und Aarau, d/j/ene Mauern und Gassen, die mich oft so klein, so klein gesehen haben zurücklassen, aber im Herzen bewahrend viele schönenSchreibversehen, statt: schöne. Erinnerungen aus sonniger Jugendzeit. –––––– |

Über Dein Leben und Treiben in StraßburgOskar Schibler studierte seit dem Wintersemester 1883/84 in Straßburg Jura. wirst du mir nun das Entsprechende schreiben. s/S//D/u weißt ja wol, was mich so vorzugsweise interessirt. Du hast Zeit zum lange Briefe zu schreiben. Auch habe ich gar nichts gegen die epische Breite einzuwenden, im Gegentheil, bedarf ich sehr der Erheiterung in meinen trüben Stunden. Also richte deine Briefe darnach ein. Und nun leb’ wol, mein Lieb mein HeimatlandRefrain mehrerer Volkslieder, unter anderem des Kriegslieds „Der Feind rückt an“:(„Leb’ wohl, mein Lieb, mein Heimatland, / Leb’ wohl, leb’ ewig wohl“ [Der Schweizersänger. Eine Sammlung der schönsten und beliebtesten älteren und neuen Lieder mit Angabe der Singweisen. 2. Aufl. Luzern 1885, S. 104f.].. Der liebe Gott beschütze dich und segne dich und laß dich gut und glücklich werden!Fast wortgleich findet sich der Segen in Wedekinds Gedicht „Der Kuss / In seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zur höchsten Vollkommenheit, nach dem Leben dargestellt“ (19.9.1884) wieder: „‚Lieb’ Gott behüte dich und segne dich‘ / Sprach sie ‚Er laß dich gut und glücklich werden!‘“ [KSA 1/I, S. 155] –––––– in alter Treuer fall’ ich dir um deinen Schwanenhals und verbleibe daselbst dein ewiger
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 12 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 3 Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 18 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Seiten sind in Bleistift mit arabischen Ziffern von 1 bis 12 durchnummeriert. Seite 5 hat Wedekind in Tinte mit der römischen Ziffer „II“, Seite 9 mit der römischen Ziffer „III“ versehen (alle Notizen hier nicht wiedergegeben).

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 15.1.1884 ist als Ankerdatum gesetzt – das früheste mögliche Schreibdatum für den Brief, der Oskar Schibler am 16.1.1884 (vormittags) noch nicht vorlag [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 16.1.1884], auf den er aber am 20.1.1884 antwortete [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.1.1884] – einen Tag für den Postweg von Lenzburg nach Straßburg gerechnet. Als Schreibort kann der Wohnort Wedekinds während der schulfreien Tage angenommen werden.

  • Schreibort

    Lenzburg
    15. Januar 1884 (Dienstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Straßburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 12, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 15.1.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

27.10.2023 13:11
Kennung: 4306

Lenzburg, 15. Januar 1884 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar
 
 

Inhalt

Schloß Lenzburg I 84.


Lieber Freund.

Der Prolog ist nun endlich unter heftigen Geburtsschmerzen zur Welt gebracht und ich hange und bange in schwebender Pein, wie er höheren Orts aufgenommen und wie es ihm künftighin in der Welt ergehen wirdSeinen „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonsschüler“ trug Wedekind am 1.2.1884 (Beginn 19.30) im neuen Festsaal in Aarau mit großem Beifall vor [Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 26, 31.1.1884, S. (4)]. Über die Veranstaltung schrieb die Kantonsschule: „Das Programm, aus einem Prolog, mehreren Vocal- und Orchesternummern, Declamationen und dramatischen Darstellungen bestehend, hatte eine unerwartet große Zahl Zuhörer angezogen; die Leistungen der Schüler haben, Dank den eifrigen Bemühungen einiger unsrer Collegen die Erwartungen des Publikums durchaus befriedigt. [...] Da dieser Versuch durchaus günstig ausgefallen ist, und da nun ein sehr schönes und geräumiges Lokal zur Verfügung steht (woran es bisher mangelte), so hoffen wir den Schülern jeden Winter einen oder zwei solcher Abende bieten zu können.“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1883/84, S. 9; vgl. auch KSA 1/II, S. 1983ff.]. So hab’ ich denn endlich wieder Zeit und Ruhe, mich mit meinen Lieben zu unterhall/t/en und, wenn auch nur | im Reiche der Phantasie ihre Gesellschaft zu genießen. Ich war im Zweifel, ob ich (Entschuldige diese Thräne der Rührung!) meiner lieben TanteOlga Plümacher, Wedekinds ‚philosopische Tante‘, eine Jugendfreundin seiner Mutter., meiner FreundinAnny Barck aus Freiburg im Breisgau, Mitglied des im Herbst gegründeten Freundschaftsbund „Fidelitas“. Wedekind hatte sie im Juli 1883 während ihres Besuchs (bei Minna von Greyerz) in Lenzburg kennengelernt. Frl. Bark, meinem Bruder StudioArmin Wedekind, der ebenfalls zum Freundschaftsbund „Fidelitas“ gehörte, studierte seit dem Wintersemester 1883/84 in Göttingen. in Göttingen oder dir, Altes Haupt, den Vorzug geben sollte; aber es zieht mich etwas zu dir hin, das mir fast wie Heimweh nach durch der/ie/ Seele weht, Heimweh nach der Zeit, wo noch nicht so leicht der Mißklang zwischen uns ert schrillte, der einen so tragischen AbschiedWährend der Weihnachtsferien (bis 6.1.1884), die der Straßburger Student Oskar Schibler bei der Familie in Aarau verbrachte, muss es zwischen den Freunden zum Streit gekommen sein. hervorrief. Ich weiß nicht, was mich davor/n/ abhält, den unangenehmen Ausgang einfach in tiefes | Schweigen zu hüllen und weiter nicht zu berühren. Ich glaube, es sei die Furcht, das also nur chloroformirtemit Chloroform betäubt. Ungeheuer möchte zur unrechten Zeit wieder erwachen und von n/N/euem mit G gespenstischem Grinsen zwi in unseren Kreis treten. Al Demnach zieh’ ich es vor, mit kühnem Stoß +n/ihm/ das Leben vollend/s/ zu rauben, daß es jählings in seine Heimath, die Hölle, fährt. – Laß mich dir folgenden Vorschlag machen:

1. Unumschränkte Offenheit, Aufrichtigkeit gegen einander.

2. Wollen Laß uns alle zarte Empfindlichkeit, die | in der Welt gewiß oft sehr am Platze ist, vollständig aus unserer Gesellschaft verbannt sein.

3. Sollte einer von uns sich aber ernstlich vom anderen beleidigt fühlen, so revangire er sich nicht durch einen entgegengeschleuderte Beleidigung, sonderveraltet, statt: sondern. sage dem anderen offen und ehrlich so und so und das/s/ kann ich mir nicht gefallen lassen.

4. Sei jeder sofort mit Verzeihung und Vergessen bereit und suche dem anderen nichs nichts nachzutragen.

––––––

Von jeher fühlten wir uns wol mehr durch unsere beider|seitige harmonirende Naturveranlagung zu einander hingezogen, als durch die 100 Versprechungen in/von/ Liebe und Treue, die wir uns schon oft an den Kopf warfen. Unserm/e/ Freundschaft ist demnach durchaus nichts Zufälliges, von uns selbst auf Gu gut Glück hin Geschlossenes, sondern sie liegt in der Natur begründet und ward durch sie geweiht. Wir verstehen uns gegenseitig und haben uns ohne alle feierliche Herzenserhergüsse vollständig durchschaut. In Folge dessen erreichte u/U/nser Zusammenleben in kurzer ZeitWedekind und Oskar Schibler besuchten von Frühjahr 1879 bis Frühjahr 1881 gemeinsam die ersten beiden Klassen des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau, wo sie sich bald befreundeten [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 27.11.1779]. eine Innigkeit | wie sie bei David und JonathanNach einer biblischen Erzählung entstand zwischen Jonathan, dem Sohn des Königs Saul, und dem Hirten David eine enge Freundschaft, nachdem letzterer im Kampf den Riesen Goliath bezwingt [vgl. 1. Samuel 18, 1-5]., bei Orest und Pyladesin der griech. Mythologie die geschwistergleich aufgewachsenen Freunde Orest (Neffe des Agamemnon) und Pylades (Sohn des Agamemnon), die gemeinsam zahlreiche Prüfungen bestehen, unter anderem in den Tragödien „Orestes“ und Iphigenie bei den Taurern des Euripides (Goethe „Iphigenie auf Taurus) verewigt., b oder bei meinem Bruder und Hans RauchensteinDie enge Freundschaft zwischen Hans Rauchenstein und Armin Wedekind dürfte während der 2 Jahre (1877-1879) entstanden sein, als beide die Kantonsschule Aarau besuchten und Armin Wedekind als Pensionist in der Familie Rauchenstein in Aarau wohnte. nur durch die überspannteste Schwärmerei möglich ist. Aber grade bei unserer großen Entfernung, bei unserem wenigen ZusammenseinSeitdem Wedekind die Kantonsschule im Frühjahr 1881 für ein halbes Jahr verlassen hatte und Oskar Schibler im Herbst 1881 an die Kantonsschule Solothurn wechselte, trafen sich die Freunde nur noch selten. könnte der Mangel solcher Schwärmerei gefährlich werden. Die Gefahr liegt hauptsächlich darin, daß wir uns gegenseitig entbehren lernen würden. Hüten wir uns davor! – Kommen dann s noch solche Momente, wie das vom letzten Freitag Abendvermutlich der 4.1.1884, vielleicht der 11.1.1884. hinzu, so ist der Satan vollends los und kann nur durch bedeutende | Katastrophen wieder eingefangen werden. Also bin ich sehr damit einverstanden, wenn unsere Correspondenz wieder ein wenig auflebt und sei es auch nur in kurzen Briefen (Meine MaturitätEnde März 1884 begannen die Maturitätsprüfungen am Gymnasium der Kantonsschule Aarau statt. Die Presse berichtete: „Die diesjährige Maturitätsprüfung der Gymnasialabiturienten an der Kantonsschule wird am 26., 27. und 28. März und ferner am 3. und 4. April im Sitzungszimmer des Erziehungsrathes abgehalten.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 71, 24.3.1884, S. (1)] tritt dem langen Schreiben einigermaßen in den Weg.) die aber sich desto häufiger folgen und uns in fortwährender geistiger Fühlung erhalten.

–––

Letzten Dienstagden 8.1.1884. schwamm ich wieder in einem Meer von Seligkeit bei Anlaß einer Soirée dansante(frz.) Tanzabend. die uns die Schwestervermutlich Marie Gaudard (auch Mary Gaudard), die unverheiratete Schwester von Blanche Zweifel. meiner Frau VenusPseudonym für Blanche Zweifel, in die sich Wedekind an einem Tanzabend der Familie Hünerwadel am 25.11.1883 verliebt hatte und auf die er mehrere Gedichte verfasste, unter anderem „Blanche Zweifel“ [vgl. KSA 1/I, S. 1090ff.; vgl. auch die Korrespondenzen mit Anny Barck und Minna von Greyerz]. gab. Sie war natürlich auch anwesend und spielte die Königin des Abens/d/s. Was | nun die Benennung „Venus“ anlangt, so schreibt mirvgl. Olga Plümacher an Wedekind, 5.1.1884. Tante Plümacher, der ich mein ganzes Herz ausgeschüttet habe, ganz das n/N/ämliche, was Du mir sagtest. „Wenn du dich aber TannhäuserDie Sage erzählt vom Tannhäuser, der sich in den Venusberg begibt, wo ihn Frau Venus, die Göttin der Liebe, die wahre Sinnlichkeit lehrt, was als sündiges Verhalten gewertet zu seiner Verdammnis in der Welt führt und ihn zur Rückkehr in den Venusberg veranlasst. Zu den zahlreichen literarischen Bearbeitungen des Motivs zählt auch Heinrich Heines Gedicht „Der Tannhäuser. Eine Legende“ (1844). und das junge Frauchen Venus nennst, so scheint mir das nicht ganz passend. Denn ich glaube nicht, daß dir gerade in den Beziehungen des Tannhäusers und der Frau Venus Gefahren von einer Lenzburgerin drohen. Diese jungen Damen unserer Spießbürgerkreise sind zum Charakter der Frau Venus zu klug; es gehört denn doch eine ganz gehörige Portion rein-menschlicher, heidnisch-olympischer Unklugheit dazu, um die Rolle der Frau | Venus zu spielen u.s.w.“

Meine liebe Tante warnt mich aber sehr davor, meine Leidenschaft nicht in so „künstlich aufgehätschelter“ Weise zu verpuffen und schreibt mir überhaupt einen sehr gestrengen Brief. Meine SonneteSchreibversehen, statt: Meine Sonette; Wedekinds Gedichte „Blanche Zweifel“ [KSA 1/I, S. 181] und „An Dieselbe“ [KSA 1/I, S. 181] dürften gemeint sein [vgl. KSA 1/I, S. 1090-1094 und S. 932-934]., die ich ihr ebenfalls sandte, finden nun erst recht keine Gnade vor ihren kritischen Blicken, sie weist mir kurz u. gut nach daß es gar keine Sonnete sind. Ich muß mir Mühe geben, sie wieder zu beruhigen, die gute Tante –.

Dein Fall wäre also vielmehr die rein-menschliche, heidnische-olympische Unklugheit und würde vor den Grundsätzen meiner humanen Tante in seinem ersten großen Ernste wol | w vielleicht mehr Billigung finden als meine „Liebelei“, von der sie behauptet, daß sie dem Menschen immer schade und hinderlich sei, ob sie mit 18 oder mit 40 Jahren auftrete.

––– Indessen rückt die schreckliche Passionszeitdie Leidenszeit der Prüfungsvorbereitungen, die am Aschermittwoch (27.2.1884) begann und mit der Zeugnisübergabe am Gründonnerstag vor Ostern (10.4.1884) endete. immer näher. Sie fällt in der Jahresrechnung just mit der von Christus zusammen. Aber statt wie er auf dem ÖlbergBerg in Jerusalem. werde ich auf dem Schloßberg in mitternächtlicher Stunde suee/eu/fzen aus tiefster Seele: „Vater Vater, la kann dieser Kelch nicht an mir vorübergehn? Aber dein Wille nicht mein Wille geschehe!frei zitiert in Anlehnung an die Worte, die Jesus im Garten Gethsemane am Fuß des Ölbergs zu Gott sprach [vgl. Lukas 22,42], ehe er gefangen genommen wurde.währendemSchreibversehen, statt: währenddem. seine schlafenden Jünger durch die gerade unter meinen Füßen schlummernde Viehmagdvermutlich Anspielung auf die von Amors Pfeil getroffene Viehmagd in Wedekinds Bucolicon „Die Bärin wohnt im tiefen Wald“, eines von zwei Gedichten, die er Oskar Schibler zum 20. Geburtstag schenkte [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 16.9.1881] und später den Titel „Stallknecht und Viehmagd. Carmen bucolicon“ gab [vgl. KSA 1/I, S. 798]. representiert werden. |

Wenn es mir nur nicht so schief geht wie es jenem ersten Maturanten gegangen ist. Seine Kreuzestod könnte doch eigentlich meinem durch etwaigen ††† Durchfall gleichgesetzt werden. Aber aus der Ferne Win winkt der Tag der Auferstehung: Das Geburtsfest meiner goldenen Freiheit. Und dann das Bündel geschnürt und hinaus gewandert in die weite Welt, alle’ den V/v/erhaßten u/U/nrath von Lenzburg und Aarau, d/j/ene Mauern und Gassen, die mich oft so klein, so klein gesehen haben zurücklassen, aber im Herzen bewahrend viele schönenSchreibversehen, statt: schöne. Erinnerungen aus sonniger Jugendzeit. –––––– |

Über Dein Leben und Treiben in StraßburgOskar Schibler studierte seit dem Wintersemester 1883/84 in Straßburg Jura. wirst du mir nun das Entsprechende schreiben. s/S//D/u weißt ja wol, was mich so vorzugsweise interessirt. Du hast Zeit zum lange Briefe zu schreiben. Auch habe ich gar nichts gegen die epische Breite einzuwenden, im Gegentheil, bedarf ich sehr der Erheiterung in meinen trüben Stunden. Also richte deine Briefe darnach ein. Und nun leb’ wol, mein Lieb mein HeimatlandRefrain mehrerer Volkslieder, unter anderem des Kriegslieds „Der Feind rückt an“:(„Leb’ wohl, mein Lieb, mein Heimatland, / Leb’ wohl, leb’ ewig wohl“ [Der Schweizersänger. Eine Sammlung der schönsten und beliebtesten älteren und neuen Lieder mit Angabe der Singweisen. 2. Aufl. Luzern 1885, S. 104f.].. Der liebe Gott beschütze dich und segne dich und laß dich gut und glücklich werden!Fast wortgleich findet sich der Segen in Wedekinds Gedicht „Der Kuss / In seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zur höchsten Vollkommenheit, nach dem Leben dargestellt“ (19.9.1884) wieder: „‚Lieb’ Gott behüte dich und segne dich‘ / Sprach sie ‚Er laß dich gut und glücklich werden!‘“ [KSA 1/I, S. 155] –––––– in alter Treuer fall’ ich dir um deinen Schwanenhals und verbleibe daselbst dein ewiger
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 12 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 3 Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 18 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Seiten sind in Bleistift mit arabischen Ziffern von 1 bis 12 durchnummeriert. Seite 5 hat Wedekind in Tinte mit der römischen Ziffer „II“, Seite 9 mit der römischen Ziffer „III“ versehen (alle Notizen hier nicht wiedergegeben).

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 15.1.1884 ist als Ankerdatum gesetzt – das früheste mögliche Schreibdatum für den Brief, der Oskar Schibler am 16.1.1884 (vormittags) noch nicht vorlag [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 16.1.1884], auf den er aber am 20.1.1884 antwortete [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.1.1884] – einen Tag für den Postweg von Lenzburg nach Straßburg gerechnet. Als Schreibort kann der Wohnort Wedekinds während der schulfreien Tage angenommen werden.

  • Schreibort

    Lenzburg
    15. Januar 1884 (Dienstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Straßburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 12, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 15.1.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

27.10.2023 13:11